Am Endpunkt

Der Dokumentarfilm »Atomkraft Forever« bildet den gesellschaftlichen Konflikt um die Nutzung der Atomenergie ab. Von Nicolai Hagedorn

Die Geologin Julia Rienäcker-Burschil arbeitet in der »Abteilung Standortauswahl« der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE), die die Aufgabe hat, ein sogenanntes Endlager für hochradioaktiven Atommüll zu finden. Und dabei gibt es gewisse Schwierigkeiten: »Eine Million Jahre, die wir jetzt für die Endlagerung ansetzen, ist natürlich für den Normalbürger unglaublich schwer zu verstehen.« Doch glücklicherweise gibt es Spezialistinnen wie Rienäcker-Burschil, die nämlich die ganz großen Fragen zu beantworten hat: »Können wir prognostizieren, was in den nächsten eine Million Jahren passiert? Gibt’s da wieder einen neuen Vulkanausbruch? Bildet sich da vielleicht irgendwo wieder ein neues Vulkangebiet? Und Erdbeben, genau das gleiche! Da gibt es so typische Herde in Deutschland, und auch da wollen wir natürlich ein Endlager nicht haben.« Das ist für den Normalbürger tatsächlich schwer zu verstehen, und wenn Rienäcker-Burschil allen Ernstes und im Seriosität vorgaukelnden Beamtentonfall davon spricht, dass »nach derzeitigen Berechnungen in den nächsten eine Million Jahren etwa zehn Eiszeiten auftreten, deren Ausbreitung wir natürlich nur prognostizieren können«, hat man manchmal den Eindruck, dass die Frau sich das Lachen selbst nur schwer verkneifen kann angesichts des gigantischen Nostradamismus, den sie da anstellt.

Rienäcker-Burschils Ausführungen sind ein herzerweichender Höhepunkt des Dokumentarfilms »Atomkraft Forever«. Carsten Rau, der Regisseur, erzählt zunächst anhand verschiedener historischer Stationen und eines Rundgangs durch das Kraftwerk Greifswald, dessen Demontage sich nunmehr seit 1995 hinzieht, kurz die Geschichte der Atomkraft, um sich dann intensiv mit der gegenwärtigen Situation zu befassen. Im Zuge der Klimawandeldebatte wird der Atomenergie bekanntlich längst wieder eine strahlende Zukunft vorausgesagt.

Rau verwendet für seine Filmdokumentation in erster Linie Gespräche und Interviews, gibt per Einblendungen zusätzliche Informationen und erzielt so, obgleich er nie agitatorisch wird, eine erstaunliche Wirkung. Indem er die handelnden Personen und deren Weltvorstellungen fast unkommentiert zeigt und auf Verfremdungen oder einordnende Bemerkungen weitgehend verzichtet, entfaltet sich die vielfache Verrücktheit der Diskussion um die Atomkraft ganz von selbst. So erklärt etwa Joachim Vanzetta, Direktor der Netzleitwarte in Brauweiler, der deutsche Atomausstieg sei ein Versuch, »dessen Ende noch offen ist«. Es gebe bereits »Tage, wo wir auch heute schon fast 95 Prozent des Energiebedarfs mit Erneuerbaren abdecken. Wir haben aber auch Tage, wo die Verfügbarkeit von Erneuerbaren gerade für ein Prozent der Energieversorgung ausreicht.« Bei gleichzeitigem Atom- und Kohleausstieg, so teilt Vanzetta mit, sei mit dem »Kraftwerkspark, den wir gesichert zur Verfügung haben«, der Energiebedarf in fünf bis zehn Jahren nicht mehr zu decken.

Demgegenüber zeigt der Film deutlich die unbeherrschbaren Risiken, die die Atomtechnologie mit sich bringt. Rau lässt einen Experten zu Wort kommen, der des linksgrünen Aktivismus eher unverdächtig ist: Jörg Meyer, Nuklearingenieur und verantwortlich für die Demontage des Kraftwerks Greifswald. Er erzählt, wie er seine Meinung zur Atomenergie über die Jahre geändert und dass ihn die Nuklearkatastrophe von Fukushima letztlich dazu gebracht habe, »an der technischen Unfehlbarkeit der Kernenergienutzung zu zweifeln«. Inzwischen habe er erkannt, dass das sogenannte Restrisiko, das mit der Atomkraft verbunden ist, »nicht tragbar« sei. Gleichzeitig erklären Meyer und eine Kollegin den Rückbau des Kraftwerks, die Probleme bei Abbrucharbeiten kontaminierter Gebäudeteile und präsentieren eine gigantische, 28.000 Quadratmeter große Lagerhalle, in der die Teile des alten Atomkraftwerks in Container verpackt auf den noch ungewissen Abtransport in ein Endlager warten.

Womit auch die Geschichte des Films an einen Endpunkt kommt, nämlich die Frage nach einem solchen Endlager und den berühmten eine Million Jahren. Hier zeigt sich die Schwäche von Raus Methode, schlicht gegensätzliche Ansichten auszustellen, um den Konflikt zwischen Atomkraftgegnern und Verfechtern einer Laufzeitverlängerung klarzumachen. Denn wir sehen kaum mehr als aneinandergereihte Monologe ohne weiteren Erkenntnisgewinn. Steffen Kanitz etwa, Geschäftsführer der BGE, will den neuen Ort eines solchen Atommüllagers »streng nach wissenschaftlichen Erkenntnissen« auswählen, denn – man ist auf seiten der Bourgeoisie ja durchaus lernfähig – »Gorleben ist am Ende gescheitert, weil es immer wieder den Vorwurf der willkürlichen Standortfestlegung gegeben hat«. So soll das Problem also entpolitisiert werden, um die Wahl des Ortes gewissermaßen zu einer wissenschaftlichen Entscheidung zu machen, gegen die es keine Einspruchsmöglichkeit einer »interessierten Öffentlichkeit« mehr geben kann: »Am Ende des Tages darf man da keine Erwartungen wecken.« Wenn er sich da mal nicht täuscht. Jedenfalls zeigt sich Jochen Stay von der Anti-Atom-Organisation »Ausgestrahlt« von derlei Autoritätshuberei gänzlich unbeeindruckt: »Meine große Sorge ist, dass diese Suche scheitert, einfach deswegen, weil Menschen sich so vehement dagegen wehren, dass dieses Projekt gar nicht durchsetzbar ist.«

So arbeitet Rau den zugrundeliegenden gesellschaftlichen Konflikt pointiert heraus. Dass die Entscheidung, auf die Darstellung eines so wichtigen Aspekts wie die aus der sogenannten zivilen Nutzung der Atomenergie entspringende Möglichkeit, mit der Technologie auch Atomwaffen herzustellen, zu verzichten und statt dessen auch abseitige Perspektiven wie eine Gastronomin zu präsentieren, der wegen einer AKW-Stillegung die Kundschaft abhanden kommt, oder einen jungen Atomwissenschaftler, der die ganze Welt mit neuen AKW beglücken will, eine gute war, darf bezweifelt werden. Nichtsdestotrotz liefert »Atomkraft Forever« einen kurzweiligen Überblick über den Stand der aktuellen Debatte.

»Atomkraft Forever«. Dokumentarfilm. Regie: Carsten Rau; Deutschland 2020; 94 Minuten; ab 16. September im Kino

Nicolai Hagedorn schrieb in konkret 8/21 über das Zentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung