Straßenwahlkampf

Die Protestpartei Podemos hat mit ihrer Regierungsbeteiligung ihr eigenes Ende eingeläutet. Parteichef Pablo Iglesias tritt als Vize-Ministerpräsident Spaniens zurück, um im Regionalwahlkampf in Madrid mitzumischen. Von Thorsten Mense

»Ein Parteimitglied muss da sein, wo es im jeweiligen Moment am nützlichsten ist.« Pablo Iglesias, Chef der linkspopulistischen Partei Podemos und bei Redaktionsschluss noch Vize-Ministerpräsident Spaniens, gab ganz den Parteisoldaten, als er Mitte März seinen Rückzug aus der Regierung bekanntgab, um sich im Madrider Regionalwahlkampf zu engagieren. »Es geht nicht bloß darum, welche Partei gewinnt oder regiert. Es geht um das Allerwichtigste: die Freiheit«, begründete Iglesias in einer Videoansprache, warum er seinen Posten an den Schalthebeln der Macht überraschend aufgibt. Er will es mit Isabel Díaz Ayuso, der Noch-Ministerpräsidentin der Autonomen Gemeinschaft Madrid von der rechtskonservativen Volkspartei PP, aufnehmen. Díaz Ayuso führte seit Mai 2019 eine Minderheitsregierung in Koalition mit der rechtsliberalen Ciudadanos, unterstützt von der faschistischen Vox. Doch hat sich der PP mit den Ciudadanos überworfen, und so trat Anfang März die Regionalpräsidentin zurück, um in Neuwahlen eine regierungsfähige Mehrheit ohne die Nationalliberalen zu erreichen. Dafür würde Díaz Ayuso auch eine Koalition mit Vox eingehen, wie sie in einem Interview deutlich machte: »Wenn sie dich als Faschistin bezeichnen, stehst du auf der richtigen Seite der Geschichte.«

Iglesias zieht nun also aus, um das einst rote Madrid vor dem Faschismus zu bewahren. Sein Rücktritt erklärt sich aber vor allem aus der tiefen Krise von Podemos, die sich durch ihre Regierungsbeteiligung als Protestpartei überflüssig gemacht hat.

Zehn Jahre ist es her, dass die 15M-Bewegung im Mai 2011 mit Massendemonstrationen und Platzbesetzungen in Spanien gegen die autoritäre Sparpolitik des damals regierenden PP unter Ministerpräsident Mariano Rajoy mobil machte. Mit dem Rückenwind dieser neuen sozialen Bewegung verkündete Pablo Iglesias Turrión, bis dahin als Politikdozent, Linksintellektueller und Fernsehmoderator bekannt, im Januar 2014 die Gründung von Podemos (Wir können es). Das Gründungsmanifest, von 30 bekannten spanischen Linksintellektuellen, Kulturschaffenden und sozialen Aktivisten unterzeichnet, erklärte das Ziel der neuen Partei: »die Empörung in einen politischen Wechsel umwandeln«.

In den Jahren darauf ging es vor allem darum, welche Strategie zu diesem Wechsel führen sollte. Podemos schwankte stets zwischen der Stärkung der außerparlamentarischen sozialen Bewegungen und der Institutionalisierung der Bewegung in einem Parteiapparat mit dem Ziel, die Macht zu übernehmen. Erst wollte man nichts mit den traditionellen Linksparteien, denen Iglesias eine »Kultur der Verlierer« vorwarf, zu tun haben, später ging man doch ein Bündnis mit der Izquierda Unida (Vereinigte Linke) ein und gründete Unidos Podemos.

Als der erhoffte Erfolg ausblieb, gab man sich wieder als Antipartei und Teil der außerparlamentarischen Opposition. Das einzig Beständige war die Führungsrolle von Iglesias, dem aus den eigenen Reihen zunehmend autoritäre Tendenzen vorgeworfen wurden. Kurz vor dem zweiten Parteikongress Anfang 2017 hatte sich die ehemalige Gründungsriege bereits komplett zerlegt, man warf sich gegenseitig Verrat und Intrigen vor. Iglesias aber konnte sich behaupten und mit einer immer mehr auf ihn zugeschnittenen, zentralistisch geführten Partei sein nächstes Ziel anvisieren: »Plan 2020: PP besiegen und regieren«.

Anfang 2020 war das Ziel erreicht: Unidos Podemos zog als Koalitionspartner des sozialdemokratischen PSOE in die spanische Minderheitsregierung ein. Pablo Iglesias, noch fünf Jahre zuvor als kommunistischer Freak mit Pferdeschwanz belächelt, wurde einer der Vize-Ministerpräsidenten und Minister für soziale Rechte. Der Marsch durch die Institutionen war an sein Ende gekommen – und damit auch die Möglichkeiten linker Politik. Dass diese mit dem PSOE als Regierungspartner, dessen Sprecher noch zwei Jahre zuvor vor einem »Pablismus-Leninismus« gewarnt hatte, begrenzt sein würden, war zu erwarten.

Nun liegt die Ursache der ausgebliebenen Revolution aber nicht bloß im Widerstand der systemstützenden Sozialdemokraten oder der »mächtigen Oligarchien« (Iglesias), sondern in dem immanenten Widerspruch, als vermeintlich antikapitalistische Partei Regierungsverantwortung zu übernehmen und damit den Zwängen der Realpolitik unterworfen zu sein. Der Zusammenschluss Anticapitalistas, aus dessen Umfeld Podemos vor sieben Jahren entstanden ist, hat sich aus diesem Grund nach der Entscheidung für eine Regierungsbeteiligung geschlossen aus der Partei zurückgezogen.

Ein paar kleine Erfolge konnte Unidos Podemos an der Regierung bisher durchaus feiern: Auf ihren Druck hin wurden in der Pandemie drei Milliarden Euro für ein Grundeinkommen freigemacht, das fast 2,5 Millionen bedürftigen Menschen zugute kommen soll. Ebenso konnten sie einen gesetzlichen Stopp der Zwangsräumungen durchsetzen, wenn auch vorerst nur bis zum Ende des aufgrund der Pandemie verhängten Alarmzustandes.

Auf der anderen Seite haben sie es noch nicht einmal geschafft, die umstrittene Ley Mordaza rückgängig zu machen, ein Repressionsgesetz, das zur Bekämpfung der sozialen Bewegungen und ihrer Proteste 2015 von der PP-Regierung verabschiedet worden war. Der im Koalitionsvertrag ausgehandelte Mietendeckel wird wohl am Widerstand der Sozialdemokraten scheitern, und auch die von der Volkspartei im Rahmen ihrer Austeritätspolitik durchgeführte Arbeitsmarktreform hat immer noch Bestand.

Darüber hinaus steht Spanien infolge der Pandemie die nächste Krise ins Haus, und derzeit sieht es nicht danach aus, als hätte die Linksregierung einen Plan, kommende soziale Katastrophen zu verhindern. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Spanien schon jetzt bei über 40 Prozent – die höchste Quote in ganz Europa. Die Hilfsorganisation Oxfam warnt davor, dass durch die Pandemie eine Million Menschen zusätzlich unter die Armutsgrenze fallen könnten.

Der Frust darüber steigt in der linken Wählerschaft: In Galizien flog der Podemos-Ableger Marea, ehemals zweitstärkste Kraft, bei den Regionalwahlen aus dem Parlament, im Baskenland verlor die Partei fast die Hälfte ihrer Abgeordneten. Auch in Madrid würde Unidos Podemos ohne Iglesias’ Engagement möglicherweise nicht über die Fünfprozenthürde kommen.

Mit seinem Frontwechsel will der Parteichef daher nicht nur Madrid, sondern auch seine Partei retten: Ein Scheitern würde Podemos weit über die Madrider Region hinaus einen schweren Schlag versetzen. Aber Iglesias denkt auch an sich: Um sein angekratztes Image als Kämpfer für die soziale Gerechtigkeit zu bewahren, muss sich Iglesias besser früher als zu spät aus dem großen Politgeschäft zurückziehen, bevor er sich als Regierungsmitglied auf der anderen Seite der Barrikade wiederfindet. Schließlich hat er immer gegen die politische Elite gewettert und erklärt, nur eine neue, ganz andere Form der Politik könne am System etwas ändern. Der große Vorsitzende hatte noch 2017 seinem Gegenspieler Íñigo Errejón vorgeworfen, dieser wolle Podemos zu einem »neuen PSOE« machen. Nun ist Iglesias selbst Teil dieser Elite geworden. Dass er sich mit seiner Partnerin am Rande von Madrid eine Luxusvilla mit Pool gekauft hat, zeigt, wie gut er sich bereits integriert hat.

So kehrt Iglesias zu dem zurück, was seinem rebellischen Selbstbild besser entspricht: Straßenwahlkampf. Mit schwarzem Kapuzenpulli und Rucksack zog er zuletzt durch den cinturón rojo, die proletarisch geprägten und einst linken Vororte im Speckgürtel von Madrid, und suchte die Nähe zum einfachen Volk, die auch der Linken in Spanien abhanden gekommen ist. Im Wahlkampf stand er aber nicht nur dem Rechtsblock von PP und Vox gegenüber, sondern auch der Konkurrenz von Más Madrid, dem lokalen Ableger der von seinem ehemaligen Freund und Mitstreiter Errejón ins Leben gerufenen Partei Más País. Der Flügel um die ehemalige Nummer zwei von Podemos hatte sich Anfang 2019 abgetrennt und sitzt nun mit seiner eigenen Fraktion im spanischen Parlament.

Während also die beiden ehemaligen großen Hoffnungsträger der 15M-Bewegung sich mit Parteipolitik selbst ruhigstellen, rollt die nächste Krisenwelle auf die Iberische Halbinsel zu. Bei den kommenden Kämpfen wird sich zeigen, ob auch in Spanien der Effekt eintritt, dass die Institutionalisierung sozialer Bewegungen diese eher schwächt als stärkt.

Die massiven Proteste im März vor allem in Katalonien haben gezeigt, dass es offenbar zumindest eine nachkommende Generation gibt, die weiß, dass auch eine Linksregierung sie nicht retten wird. »Ihr habt unser Leben zerstört und wundert euch darüber, dass wir eine Bank zerstören«, konnte man auf einer Häuserwand in Barcelona lesen. Die Desillusionierung hat bereits eingesetzt.

Einen Tag nachdem Iglesias seine Entscheidung bekanntgegeben hatte, twitterte der berühmte spanische Schauspieler Tamar Novas ein Wortspiel aus den beiden nun in Madrid konkurrierenden linken Parteien Podemos und Más País, das die Frustration vieler Linker in Spanien treffend zusammenfasst: »Por favor, un partido de izquierdas que se llame No Podemos Más« – Bitte, eine linke Partei, die sich »Wir können nicht mehr« nennt.

Thorsten Mense schrieb in konkret 4/21 über die Proteste in Katalonien