DER LETZTE DRECK

Robert Habeck: Von hier an anders. Eine politische Skizze

Kiepenheuer und Witsch, Köln 2021, 384 Seiten, 22 Euro

Neben all den in der Krise Ergrauten und Verstummten strahlt er nach wie vor Popstar-Charisma in die triste Welt der Berufspolitik; keine Pandemie, kein Weltenbrand kann Robert Habecks gutmütige Vitalität, ja Virilität erschüttern. Deren Quellen legt nun ein Büchlein dar, Von hier an anders, in welchem sich der Grünen-Bundesvorsitzende als unermüdlich Reisender, Zuhörender und Nachdenkender schildert.

Nachrichten erreichen ihn in der Bahn, am Flughafen Heathrow oder im Supermarkt, Freundinnen sprechen ihn an, Demonstrierende erzählen ihm was. Wie der Sultan im Märchen schleicht sich Habeck verkleidet unters Volk, lauscht ihm seine Geheimnisse ab: »Ich bin darauf angewiesen, dass mir Menschen die Erfahrungen vermitteln, die ich selbst nicht sammeln kann.« Und um »Geschichten« geht es hier überall, um Lebensentwürfe und Perspektiven.

Das Buch, das als gesungener Programmentwurf verstanden werden kann, ist durchzogen von Bildungsanspielungen. Habeck mutet uns Fremdwörter wie »Paradoxon« zu, Gott sei Dank nicht ohne sie zu erklären. Auch von einem »Paradigmenwechsel« erfährt man, davon, dass Politik »sozusagen vierdimensional« geworden sei, dass sich in der Gesellschaft ein »vierter Aggregatzustand« herausbilde oder die »Roboterisierung der Arbeitswelt« drohe; mit leichter Hand erzählt er uns eine »Anekdote über Albert Einstein«. Man muss aber keine Angst haben: Der Robert ist kein Spinner oder Nerd! Ähnlich wie in der »Sendung mit der Maus« werden pausenlos aufregende Sachen vorgestellt, nur um mit Bärchenstimme aufgeklärt zu werden – bis alles Wunder, alles Abenteuer in Funktionen aufgelöst ist.

Habeck will uns beruhigen, allzu wilde Blüten treibende »Emotionalitäten« zurechtstutzen – allerdings nicht als kalter Technokrat: »Meine Vorstellung von Politik ist, die Distanz zwischen Menschen, die Distanz zwischen den Typen, die man aus dem Fernsehen kennt, und denjenigen, die von politischen Entscheidungen betroffen sind, zu verringern, nahbar zu sein, Nähe zuzulassen, Kontakte und Begegnungen zu ermöglichen und zu erleben.« Er will Leute anfassen; logisch, dass er Corona auch persönlich nimmt: »Liebe äußert sich in Abstand und Zuneigung und Fürsorglichkeit darin, den Kontakt zu meiden.« Wenn uns der norddeutsche Beachboy also ausnahmsweise mal nicht anfasst, hat er uns gerade besonders lieb!

Habeck fühlt und fühlt und fühlt, er fühlt sich in uns alle hinein, in Care-Arbeiter/innen und Campaigner. Er kann alle verstehen, weil er mit allen spricht. Das Buch diene, so der Autor, auch der Überprüfung seiner »blinden Flecke«, sozusagen die sozialdemokratische Variante des Privilegienchecks. Habeck hat mit Kohlekumpeln gesprochen, seither will er nicht mehr von »schmutziger Arbeit« reden. Er scheut auch keine Geständnisse: »Meine Frau kommt aus einer Arbeiterfamilie«, was aber nicht nur mit Nachteilen verbunden sei: »Ich erinnere mich gut, wie sehr ich die Abende bei Zwiebelmett und Bier genoss, wie ich mit dem Schwiegervater über Autos und seine Arbeit redete, wie ich im Schrebergarten half und wir gemeinsam grillten.« Jetzt, wo er mit Einstein in der vierten Dimension lebt, bleibt dafür leider wenig Zeit.

Dennoch ist Habeck ansprechbar und wird auch angesprochen, vor allem von namenlosen »Freundinnen«, in die man sich als Leserin wohl auch ein bisschen hineinphantasieren soll. All dieses Geschichtensammeln und Palavern ist aber kein Selbstzweck: »Wir werden die Klimakrise nur bestehen, wenn wir uns selbst und unsere Art zu wirtschaften und zu konsumieren, hinterfragen. In dem Sinn sind wir uns selbst zum Problem geworden. Entsprechendes gilt für die Bekämpfung des Hungers oder der allgemeinen sozialen Ungleichheit.« Die soziale Ungleichheit durch Selbstreflexion, eventuell gar yogisches Fliegen besiegen, hier sind die Grünen wieder ganz bei ihren Ursprüngen! Es ist alles irgendwie das gleiche: Corona, Klima, Plastiktüten, der NSU und der ÖPNV – überall fehlt Selbstreflexion!

Wenn mit Habecks Hilfe endlich genug Geschichten nebeneinandergestellt und selbstreflektiert sind, wird aus den Trümmern der zersplitterten Milieus, ist er sicher, wieder eine »Mitte« erwachsen: das Herz der Gesellschaft, ein »Muskel, der schlägt, der den Körper insgesamt mit Blut versorgt, genauer: der sauerstoffarmes Blut mit sauerstoffreichem tauscht, mitten im Brustkorb, leicht links …« Mensch, Robert! Hat das Gerede von der »Neuen Mitte« nicht damals, in den Neunzigern, das ganze Elend erst losgetreten? Habeck befällt hier selektive Amnesie: So klagt er, »die Exportökonomien« hätten »in den letzten Jahrzehnten ihren Arbeitsmarkt dereguliert und einen Niedriglohnsektor geschaffen«, vergisst aber zu sagen, dass endlose Hartz-Schikane und Armut per Gesetz die Erfindung jener Rotgrünen waren, die heute mit brennenden Augenbrauen über »Ungleichheit« reden wollen.

Habecks Optimismus bleibt davon unberührt: »Keine Zeit war besser«! Noch immer zehrt er vom absoluten Hochgefühl seiner Ministerzeit, von der rauschhaften Verwandlung von Sprache in Macht: »Mit jeder Unterschrift, die ich unter ein Gesetz oder eine Verordnung setzte, veränderte sich die Wirklichkeit.« In einer gespenstischen Montage persönlicher Erinnerungen an Polizisten, die einem blutenden Obdachlosen das vereiterte Bein verarzten, und an einen Weinbauern, der »längst vergessene Sorten« anpflanzt, wird klar: Habeck feiert Politik vor allem als inneres Erlebnis, als einen Bewusstseinsstrom zwischen Spülmaschine und Zukunftsforum; eine euphorische Transsubstantiation von Literatur in Wirklichkeit, an der wir per Wahl partizipieren können. »Wenn man sich Zeit nimmt und die Ohren spitzt, dann flüstert es überall, dass es von hier an anders werden muss.« Und so wird es halt auch werden: nicht besser – anders.

Leo Fischer