VON konkret

Anlässlich des Gedenktags zur Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz hatte der Bundestag die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland einbestellt, und die lieferte. »Ich stehe vor Ihnen als stolze Deutsche«, sagte die Holocaust-Überlebende Charlotte Knobloch im Parlament. »Stolze Deutsche«? Knobloch holte aus: Schon ihre Großmutter, die im Januar 1944 in Theresienstadt ermordet wurde, sei »mit meinem Großvater treu ihrer deutschen Heimat verbunden« und passionierte Wagnerianerin gewesen. Auch ihr Vater sei ein »treuer deutscher Patriot« gewesen und im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. Zwar habe dieser Patriotismus ihn nicht vor der nationalsozialistischen Verfolgung geschützt, doch: »Mein Vater hat mich Liebe zu Deutschland gelehrt – trotzdem.« Weil es nämlich für einen Juden in Deutschland kein sicheres Leben gibt und ihm, will er dort leben, nichts bleibt, als noch seinen potentiellen Verfolgern prophylaktisch einen Persilschein auszustellen.

Seit Mitte Dezember gibt es an den Stammtischen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens nur ein Thema: »Lockdown vor Weihnachten – schafft Deutschland so die Pandemie-Wende?« und seine sterbenslangweiligen Mutanten: »Wenig Impfstoff, hochansteckende Virus-Mutationen – mühsamer Start ins neue Jahr«, »Führung in Krisenzeiten – welche Politik braucht Deutschland jetzt?«, »Gefahr durch neue Corona-Mutanten – wieviel ›Zumutung‹ braucht es jetzt?«, »Ein Jahr Corona-Pandemie – Zeit für neue Perspektiven?«, »Schwindendes Vertrauen ins Corona-Krisenmanagement – was muss jetzt passieren?«, »Keine Impfung, keine Lockerung?«, »Corona – hat Europa die Kontrolle verloren?«, »Impfen, Masken, Mutationen«, »Langsames Impfen, schnelles Virus«, »Was kommt nach dem Shutdown?«, »Erst Lockdown, dann Impfung«. Weil das auf Dauer niemand erträgt, nicht mal diejenigen, die’s machen, müssen sie sich ununterbrochen erzählen, wie interessant sie, ihre Gäste und deren Beiträge sind:

Frau Betsch, Sie sind Psychologin und Professorin an der Uni Erfurt, hab’ ich gerade schon gesagt, und Sie fragen, das weiß vielleicht nicht jeder, ist aber hochinteressant, mit Ihrem Team regelmäßig jeweils 1.000 Bürgerinnen und Bürger danach, was sie über Corona wissen, was sie über das Virus wissen, an welche Schutzregeln sie sich halten und wie sehr sie der Regierung vertrauen.

Vielleicht wissen nicht alle, dass Frau Betsch und ihre Kollegen diese Fragen stellen, ganz sicher weiß niemand, dass sie hochinteressant sind, weshalb der Zuschauer, wenn Frau Will ihm das nicht vorab mitgeteilt hätte, sein Gerät wohl abgeschaltet hätte, ohne etwas über sehr lesenswerte Interviews und zutiefst bewegende Geschichten erfahren zu haben.

Eine Position, die die staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung im großen und ganzen gutheißt, lässt sich als staatstragend verstehen. Im Fall von konkret wäre das ein Missverständnis. Wenn es sich für ihn rechnet, hat der Kapitalismus mitunter durchaus zivilisatorische Nebenwirkungen: Dem Einspruch des Silicon Valley gegen Donald Trumps rassistisches Einreiseverbot liegt keine progressive Agenda zugrunde. Über seine Halbwertzeit entscheidet die Dividende. Ähnlich steht hinter dem seit einiger Zeit herrschenden Lockdown allein die Befürchtung der asozialen Marktwirtschaft, ein unkontrolliert sich ausbreitendes Virus käme sie noch teurer. Wem das nach Verschwörungstheorie klingt, der sollte einen Blick in die Altenpflegeheime werfen, wo jene, die weder für den Arbeitsmarkt noch für den Konsum relevant sind, um ihr Leben fürchten müssen, obwohl es längst möglich gewesen wäre, das Pflegesystem so auszustatten, dass die, die darauf angewiesen sind, nicht ihr Leben riskieren. Weil aber daran kein hinreichendes Interesse bestand, sind allein in Hessen im Januar 1.055 der 1.447 Corona-Toten in Pflegeheimen gestorben.