In deutschem Namen

Auch im Lübcke-Prozess erhielten die Täter minimale Strafen. Woher sollen mordende Nazis also wissen, dass sie nicht im Interesse der Allgemeinheit handeln? Von Friedrich C. Burschel

Wir erinnern uns: André Eminger war im Plädoyer der Bundesanwaltschaft (BAW) im August 2017 im NSU-Prozess in München als »viertes Mitglied« des mordenden NSU-Kerns beschrieben und sein selbstgebastelter Traueraltar für die »unvergessenen« gefallenen Helden Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt als »geständnisgleiche Wohnzimmerwandgestaltung« bezeichnet worden. Eminger kam aus dem Gerichtssaal in Untersuchungshaft, weil ihn die von der BAW geforderten zwölf Jahre Gefängnis zur Flucht hätten verleiten können. Nach diesem großen Aufschlag der BAW verurteilte der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts (OLG) München Eminger zu nur zweieinhalb Jahren Haft und hob– unter dem Jubel der im Publikum anwesenden Nazis – den Haftbefehl auf. Nach Ansicht vieler Beobachter/innen handelte es sich dabei um eine – nach 375 Tagen Beweisaufnahme – geradezu groteske Fehleinschätzung des Angeklagten, der noch im Plädoyer seine Verteidiger ausrichten ließ, er sei »Nationalsozialist mit Haut und Haaren«. Auch Emingers Aktivitäten in der gewaltbereiten Nazi-Szene seither sprechen der gerichtlichen Einschätzung Hohn.

Der André Eminger des Lübcke-Mordprozesses vor dem OLG in Frankfurt am Main heißt Markus Hartmann. Auch er war dort wegen Beihilfe zum Mord angeklagt, weil er den Haupttäter Stephan Ernst bis zu dem tödlichen Schuss auf den Regierungspräsidenten Walter Lübcke im hessischen Istha Anfang Juni 2019 begleitet und aufgewiegelt haben soll. Hartmann war an jenem Oktobertag 2015 in der Stadthalle von Lohfelden dabei, als ein aufgeputschter Mob Lübcke beim Thema Unterbringung von Geflüchteten in der Gemeinde massiv störte und ausbuhte. CDU-Mann Lübcke hielt den Grölenden die inzwischen berühmten Sätze entgegen: »Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Und da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.«

Hartmann und Ernst filmten die Szene und luden den Clip im Netz hoch, wo er von einer »patriotischen« Empörungswelle bis in die diversen Accounts völkischer Trolle wie der Vorsitzenden der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, Erika Steinbach, oder des durchgeknallten Pegida-Protagonisten Akif Pirinçci gespült wurde. Hartmann lud das Video hoch, besorgte Waffen für Ernst, ging mit Ernst in den Wald und zum Schützenclub 1952 Sandershausen, um ihm das Schießen beizubringen, war mit Ernst auf diversen Demos, unter anderem beim berühmten völkischen Aufmarsch in Chemnitz am 1. September 2018. Die meisten seiner Waffen führte Hartmann legal. Gegen die amtliche Weigerung wegen seiner einschlägigen neonazistischen Verstricktheit erstritt er sich vor dem Verwaltungsgericht Kassel seinen Waffenschein: Der zuständige hessische Verfassungsschutz hatte nicht die notwendigen Informationen geliefert, um die Verweigerung aufrechtzuerhalten.

Verteidigt wurde Hartmann in Frankfurt von den beiden rechten Szeneanwälten Björn Clemens und Nicole Schneiders. Beide glänzten schon im NSU-Prozess in München, Clemens kurzzeitig als Eminger-Verteidiger, Schneiders fünf Jahre lang in Treue fest an der Seite des Angeklagten Ralf Wohlleben. Clemens und Schneiders hatten es leicht, angesichts eklatanter Ermittlungsversäumnisse den Staatsschutzsenat unter dem interesselosen Vorsitzenden Thomas Sagebiel dazu zu bewegen, Hartmann zunächst aus der U-Haft zu entlassen und schließlich vom Vorwurf der Beihilfe freizusprechen. Von den von der BAW geforderten fast zehn Jahren Haft waren im Urteil nur noch anderthalb Jahre auf Bewährung übrig, verhängt wegen einer waffenrechtlichen Lappalie. Hartmann, der sich am Ende des letzten Prozesstages von einem Justizbeamten zur Erinnerung mit seinen »siegreichen« Anwälten ablichten ließ, legte jetzt auch noch Revision gegen das lächerliche Urteil ein.

Für besondere Aufregung hatte das Plädoyer des Ernst-Verteidigers Mustafa Kaplan gesorgt. Verteidiger/innenschelte ist insofern problematisch, als jede angeklagte Person das Recht hat, nach allen Regeln der Kunst verteidigt zu werden. Und doch können gewisse Akzente, die ein Verteidiger oder eine Verteidigerin setzt, Aufschluss über seinen oder ihren Charakter geben. Kaplan, der – wenig auffällig – auch im NSU-Prozess in München auf seiten der Nebenklage auftrat, argumentierte zur Verteidigung seines Mandanten Ernst in aberwitziger Weise: Zuerst forderte er aus Mangel an Beweisen den Freispruch Ernsts vom Vorwurf, den Asylsuchenden Ahmed I. im Januar 2016 mit einem Messer hinterrücks niedergestochen und lebensgefährlich verletzt zu haben. Dass sich in Ernsts Besitz ein Messer mit DNA-Anhaftungen des Opfers befand, galt dem Gericht als zu schwaches Indiz; es sprach den Angeklagten zum Entsetzen des Betroffenen und kritischer Beobachter/innen von diesem Vorwurf frei. In seinem Plädoyer ging Kaplan aber noch weiter: Die Tötung Lübckes sei nicht »Mord«, sondern »Totschlag« gewesen, weil sie das Mordmerkmal der »niedrigen Beweggründe« nicht erfülle. Für Ernst habe seine Tat geradezu »gemeinnützigen« Charakter gehabt.

Was aber, wenn Kaplan in einem anderen als dem von ihm insinuierten strafmildernden Sinn mit dieser Einschätzung recht hätte? Schon im vergangenen November hatte das antifaschistische Fachblatt »Lotta« aus NRW darauf hingewiesen, dass Ernsts Vorgeschichte mit unglaublich brutalen rassistischen Angriffen auf Menschen und versuchten Mordanschlägen und eben seine feste Einbindung in die Kasseler Nazi-Szene dazu dienten, das Problem des Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft an den »extremistischen« Rand auszulagern. Dabei sei Ernst im »normalen« Alltag, auf der Arbeit, im Schützenverein, in der Familie stets von Menschen umgeben gewesen, die ihn in seinem rassistischen Furor bestärkt, ihm zumindest aber nicht widersprochen hätten. Konnte dieser »Kleinbürger«, den der Inlandsgeheimdienst 2009 aus dem Auge verlor, nicht tatsächlich davon überzeugt sein, im Namen und im Sinne der Deutschen, das heißt weiß der Kuckuck was für eines rassistischen Spießerhaufens, zu handeln?

Friedrich C. Burschel schrieb in konkret 12/20 über den Prozess gegen den Attentäter von Halle