MIT MUSIK GEHT ALLES BESSER

konkret erzählt die Geschichte der Bundesrepublik anhand ihrer Hitparaden

Juliane Werding: »Kinder des Regenbogens« (1972)

Zu den Dingen, die nach 1968 umgekrempelt wurden, gehörte – wenn auch weniger prominent als Kindergartenalltag und Kuppeleiparagraf – der Schlager. Ein Jahrzehnt konnte er mit schon schwindendem Erfolg noch jugendliche Bedürfnisse befriedigen: individuelles Glück, ein bisschen Liebe, ein kleines Stück vom gesellschaftlichen Reichtum. Bis die Jugend sich dann plötzlich ausklinkte und auf den Materialismus pfiff, um in aller Ruhe Sinn- und Systemfragen zu wälzen. Die Welt musste schließlich dringend gerettet, die Gesellschaft verändert werden. Die ungefähr richtige Meinung zu drängenden Menschheitsfragen zu haben war wichtiger, als sich gut unterhalten zu fühlen. Das Taschengeld ging drauf für alles, was irgendeine Form von Bewusstsein versprach, »Protestsongs« zum Beispiel, die deutliche Worte für bedeutsame Inhalte fanden.

Die deutsche Plattenindustrie erkannte ihre Chance. Eigene deutschsprachige Produktionen könnten unter diesen Voraussetzungen vielleicht schon bald jener Popmusik den Rang ablaufen, die für teures Geld und mit geringem Profit aus dem Ausland lizenziert werden musste. Mit den komischen neuen Rhythmen taten sich Deutsche traditionell schwer, mit dem Mahnen und dem Warnen kannten sie sich dagegen aus. Belehren und Welterklären lag ihnen praktisch im Blut. Germansplaining war genau ihr Ding.

Am kulturindustriellen Spielfeldrand liefen sich schon die »Liedermacher_innen« (eine Langzeitfolge der Waldeck-Festivals) warm, um den neu entstandenen Markt für sozialkritische Lagerfeuersongs unter sich aufzuteilen. Noch blieb aber ein wenig Zeit, um ein deutsches Sonderformat zu lancieren: den Folk-Schlager, dessen wichtigste Protagonistin Juliane Werding wurde, eine Siebzehnjährige, die jedes Wort so glasklar, glockenhell und gestochen scharf artikulierte, dass auch die ältere Generation mitkam. Selbst das überdeutlich präsente Vorbild – Joan Baez – verschluckte ja schon mal die eine oder andere Silbe.

Als nachdenkliches Hippiemädchen konnte Juliane Werding die Trauer um jenen »Conny Kramer« glaubhaft darstellen, den ihre erste Single zum Inbegriff des jugendlichen Aussteigers gemacht hat. Sein viel zu kurzer Lebensweg führt ihn in nur zwei Strophen zielstrebig von der Einstiegsdroge »verrückte Ideen« zu Joints und Trips und weiter zum berüchtigten Goldenen Schuss.

Der Texter Hans-Ulrich Weigel hatte ordentlich recherchiert (»der Rauch, er schmeckte bitter«), an der richtigen Stelle übertrieben (»ein Meer aus Licht und Farben«) und mit dem Südstaatenniedergangsdrama »The Night They Drove Old Dixie Down« von The Band (in der populären Fassung von Joan Baez) eine geeignete Grundlage gefunden, um im Handumdrehen eine gute Million Platten zu verkaufen. Nun kam alles auf die sogenannte Nachfolgesingle an. Sie hatte darüber zu entscheiden, ob das Publikum es mit einem One-Hit-Wonder zu tun hatte oder ob Juliane Werding sich als feste Größe etablieren würde.

Der Druck war groß, und es dauerte ein knappes Jahr, bis eine zweite Single folgte. Sie hieß »Kinder des Regenbogens« und verkaufte sich ganz manierlich. Ein Achtungserfolg. Heute ist das Stück weitgehend und völlig zu Unrecht vergessen. Dabei war es mindestens genausogut wie das markerschütternde Debüt und der einzige Häuserkampfsong, der es jemals in die »ZDF-Hitparade« geschafft hat. Das lag wohl vor allem daran, dass er nicht – wie die Agitprophymnen für den bewegungslinken Tagesbedarf – authentisch ideenlos im alternativen Milieu entstanden war, sondern motownmäßig von echten Profis am Schreibtisch zusammengebaut wurde.

Der Text stammte wieder von Weigel, die Musik von Dieter Zimmermann (besser bekannt als der Easy-Listening-Fließbandproduzent Cliff Carpenter), deren Mitteilungsbedürfnis über das Schweinesystem sich in geschmackvollen Grenzen hielt. Die notwendige Auseinandersetzung um bezahlbaren Wohnraum delegierten sie an eine Schar Sympathiejugendliche von nebenan, die sich unter dem abenteuerspielplatzartigen Namen »Kinder des Regenbogens« zusammengetan hatten. Sie wollten aber gar keine gräßliche Volksrepublik, sondern nur »gemeinsam in Frieden leben / Jeder auf die Art, die er für richtig hält«. Sie hießen ganz unbedrohlich Steffi (die es zu Hause nicht mehr aushält), Rolf (der vorschlägt, in ein abbruchreifes Haus zu ziehen), Tom (kann tapezieren), Mike (kann Fenster reparieren), Katja (die, weil Widerstand bekanntlich Phantasie braucht, das Treppenhaus bunt anstreicht) sowie Astrid (die eines Nachts beleidigt wegläuft, aber in einer gemeinsamen Suchaktion wieder aufgegabelt wird).

Auf der Basis welcher Besitz- beziehungsweise Enteignungsverhältnisse sich das alles abspielt, muss leider zwischen den Zeilen bleiben, ebenso, was die böse Außenwelt am putzigen Bonsai-Christiania eigentlich auszusetzen hat. Wir erfahren lediglich, dass sie ihr Strom und Wasser abdreht. »Eines Morgens« erscheinen dann nicht näher spezifizierte »Leute«, »brachen alle Türen auf / Sie zerschlugen Stein für Stein / Das schöne Haus«. Das utopische Experiment endet trotzdem keineswegs weinerlich, sondern fast ein wenig wie bei Brecht: »Und sie standen in der Kälte / Doch ihr Traum war noch nicht aus / Denn jeder hatte nur gelernt daraus.«

Welche Einsichten daraus nun folgen, wäre zu erörtern. Muss das nächste Haus besser geschützt und entschlossener verteidigt werden? Sind die bürgerlichen Gewaltverhältnisse so absolut, dass bunte Treppenhäuser nichts ausrichten? Kann Gesellschaft nur von innen heraus instandbesetzt werden – im langen Marsch durch die Institutionen, der, für den unwahrscheinlichen Fall, dass das alles nicht klappt, gute Absichten in weiche Humankapitalfaktoren for all tomorrow’s markets umwandelt? Hilft ein wenig Weltverbesserung zwischen Abi und Berufseinstieg bei der Herausbildung eines moralisch robusten, über alle Zweifel erhabenen Subjekts?

Wir wissen es auch nicht. Wir wissen nur, dass die wirklichen Kinder des Regenbogens, als sie nach einer langen Adoleszenzphase endlich die Macht ergriffen hatten, das in alternativen Projekten erworbene Verantwortungsbewusstsein für die ganze Welt sinnvoll in deutsche Auslandseinsätze investierten, während sich Juliane Werding noch schnell zur Heilpraktikerin ausbilden ließ. (Dass sie trotzdem noch auf keiner Corona-Demo gesehen wurde, möchte ich nicht unerwähnt lassen. Als echter Fan habe ich das natürlich recherchiert.)

Frank Apunkt Schneider