Hangover

Hat mit dem Abschluss eines Freihandelsvertrags zwischen Großbritannien und der EU im Brexit-Drama die Vernunft gesiegt? Von JustIn Monday

In der EU war man nach der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mit Großbritannien erleichtert, und die britische Regierung inszenierte den denkbar lustlosesten Siegesrausch. Das ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass die Öffentlichkeit dieser Tage eher von der Corona-Pandemie umgetrieben wird als von vermeintlichen Siegen in vergangenen Schlachten. Was die Feierstimmung trübte, war letztlich das Ergebnis des mühsam ausgehandelten Vertrags selbst. Zwar hat die britische Regierung der EU am Ende tatsächlich einige Zugeständnisse abgerungen. Mit den Versprechen, die mit dem Brexit propagiert wurden, haben die aber kaum etwas zu tun.

Den Brexit-Hardliner/innen, die den Freihandelsvertrag so gerade eben durchgewunken haben, bereitete vor allem die Tatsache Bauchschmerzen, dass es sich um einen Vertrag handelt, der die Bedingungen, unter denen sogenannte Handelshemmnisse beseitigt werden können, festschreibt, und nicht um eine Kapitulationserklärung der EU. Daher haben sie einerseits »Verrat!« geschrien, denn das gemeinsame Recht, das sich aus einem völkerrechtlichen Vertrag zwangsläufig ergibt, betrachten sie bereits als Verstoß gegen die Prinzipien ihrer Souveränität. Andererseits haben sie kaum etwas getan, um diesem Prinzip zur Geltung zu verhelfen, denn das hätte seinen irrealen Charakter offenbart.

Die Regierung, die sich dem britischen Nationalmythos gemäß als unabhängiger Freihandelschampion inszenieren muss, betrog sich wiederum selbst, weil der im Vertrag festgeschriebene freie Zugang zum EU-Binnenmarkt bereits ein Verhandlungserfolg sein soll. Damit wird unter den Teppich gekehrt, dass dieser freie Zugang längst nicht auf allen Gebieten gilt. Beispielsweise ist die politische Abhängigkeit des in der City of London ansässigen Finanzkapitals von der EU gestiegen und nicht gesunken, da letztere von nun an einseitig beschließen kann, dass die britische Finanzmarktregulierung derjenigen der EU nicht äquivalent ist. Das würde dazu führen, dass britische Finanzdienstleister in der EU keine Geschäfte mehr machen können.

Im Abschnitt über den Zugang zum Dienstleistungsmarkt ist die Quadratur des Kreises ebenfalls misslungen. Hier besteht die Bredouille darin, dass der Anteil an Dienstleistungen an den britischen Exporten überdurchschnittlich hoch ist – zuletzt waren es 44 Prozent. Aufrechterhalten lässt sich das nur durch Regelungen, die halbwegs großzügige Bedingungen für Aufenthalte von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Dienstleistungsbranche bieten. Das jedoch konterkariert die den Austritt mitbegründende rassistische Absicht, Arbeitsmigranten und -migrantinnen vor allem aus Osteuropa fernzuhalten. Es werden wohl diverse juristische Auseinandersetzungen nötig sein, bis feststeht, ob die beschlossenen Einschränkungen des Dienstleistungsexports so weit gehen, dass es für Erntehelfer/innen, Bauarbeiter/innen und Pflegekräfte unattraktiv bis unmöglich geworden ist, ihre Arbeitskraft nun über Dienstleistungsfirmen in Großbritannien anzubieten.

Selbst beim Warenhandel, der Kerndomäne eines Freihandelsvertrags, herrscht nicht nur easy going, denn Exporte sind künftig nur dann zollfrei, wenn die Waren zu großen Teilen in der EU beziehungsweise in Großbritannien hergestellt worden sind. Was unter anderem auf diverse britische Modemarken wohl nicht zutrifft. Auch wird Großbritannien nur dann eine Elektroautoindustrie haben (und nicht nur Klitschen, die anderswo gefertigte Bauteile verkabeln), wenn es bis 2024 gelingt, die Bestandteile der notwendigen Batterien zu mindestens 50 Prozent auf der Insel zu produzieren. Nur dann nämlich wäre ein zollfreier Export in die EU möglich.

Derartiges ignorierend behauptet die britische Regierung, einen Punktsieg errungen zu haben, indem sie die Zugeständnisse aufzählt, die die EU anderswo gemacht haben soll. Dem wird das sogenannte Level Playing Field, also die Durchsetzung gemeinsamer Regeln und Standards, gegenübergestellt, auf dem man selbst nachgegeben habe. Das allerdings stellt die Struktur des Konflikts auf den Kopf: Die EU verweigert Großbritannien den Marktzugang ja nur, weil London ökonomische Beziehungen ohne die zugehörigen Rechtsformen fordert. Die Zustimmung Großbritanniens zum Level Playing Field, zu dem etwa auch das »Rückschrittsverbot« im Sozial- und Arbeitsrecht zählt, war die allgemeine Bedingung, unter der eine Vielzahl besonderer Regelungen möglich wurde, die auch die EU wollte.

Abgerungen werden musste der EU da nichts. Tatsächliche Zugeständnisse hat sie hingegen im Hinblick auf die Institutionen gemacht, die das im Sinne der Konkurrenz zwangsläufig in weiten Teilen gleiche Recht stiften sollen. Insbesondere der Europäische Gerichtshof ist den Brexiteers aber ein rotes Tuch, weswegen der britische Premierminister Boris Johnson sich nun seiner Verhandlungskunst rühmt, weil der EuGH im Rahmen der Streitschlichtungsmechanismen keine Rolle mehr spielt. Warum es jedoch von Vorteil für Großbritannien sein soll, dass die Bedingungen der Handelsbeziehungen nun statt dessen von einem »Partnerschaftsrat« mit 19 untergeordneten Ausschüssen verwaltet wird, die im Konfliktfall Schiedsgerichte bilden, ist schleierhaft. Denn dass es in den EU-Institutionen kein Stimmrecht mehr hat, war ja nicht Anlass, sondern ist Folge des Austritts aus der EU.

Die EU ist Großbritannien also entgegengekommen, indem sie die Einrichtung einer Ersatz-EU gewährt hat. Es handelt sich hier aber vermutlich weniger um ein Zugeständnis gegenüber dem britischen Staat als um eines gegenüber denjenigen Teilen des europäischen Kapitals, die auf der Insel investiert haben – kombiniert mit der grundlosen Hoffnung, dass die Konflikte, die sich aus über 1.000 Seiten zusätzlichen Rechtsnormen zur Verrechtlichung ein und desselben Kapitalstocks ergeben, nicht ausgefochten werden müssen, wenn sich die konformistische Revolte bei den Tories irgendwann erledigt hat.

Obwohl Großbritannien also nichts gewonnen hat, hat die EU (beziehungsweise das europäische Kapital) durch die Verdopplung von Rechtsnormen einen Teil der inneren Konsistenz ihrer ohnehin fragilen Institutionen eingebüßt. Die außergewöhnlich zielgerichtete Idiotie des britischen Konservatismus lässt die EU wider schlechteren Wissens als Musterschüler fordistischer Technokratie erscheinen. Dies verschleiert allerdings, wie weit sie selbst Teil der Krisenprozesse ist, die die Misere erst verursacht haben.

JustIn Monday hat den Brexit-Vertragstext zwar auch nicht vollständig gelesen, sich aber wenigstens einen Überblick über dessen grobe Struktur verschafft