Obigfallen

Selbstdarsteller, Ignoranten und Religionsgründer – die österreichische Regierung in der Pandemie. Von Erwin Riess

Anfang März war Österreich unter jenen Staaten, die früh einen harten Lockdown verkündeten. Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) nutzte gute Kontakte nach Südkorea und Israel, Staaten, die damals durch rasche Maßnahmen an der Spitze der Corona-Bekämpfer standen. Der Lockdown blieb weithin unwidersprochen, einige Wochen lang erfreute die Regierung sich Zustimmungsraten jenseits der fünfzig Prozent, ihr Krisen-Management dominierte das gesellschaftliche Leben. Nach der raschen Öffnung des Landes ab Mai stürzten die Österreicher sich mit Todesverachtung in Partys, Volkstums- und Brauchtumsveranstaltungen. Zehntausende urlaubten auf der Suche nach dem Virus in Kroatien und kamen infiziert zurück. Schutzmaßnahmen wurden zum Attribut für Weicheier. Fachleute warnten davor, dass das Virus weiterhin aktiv sei, es müssten entsprechende Vorbereitungen für den Herbst getroffen werden. Bundes- und Landespolitiker nickten – und taten nichts.

Ab Mitte September stiegen die Infektionszahlen wieder, die Regierung wandte sich abermals an die Bevölkerung. Caudillo Kurz trat mit militärischer Kommunikationsstrategie bei Pressekonferenzen in Erscheinung, die als Frontberichte inszeniert wurden. Ihm zur Seite stand der beflissene, leicht verwirrte und entscheidungsschwache grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober. Er gab den Part des Kumpels von nebenan, der einen Fehler nach dem anderen produziert, aber über das Talent verfügt, sich besonders treuherzig für sein Versagen zu entschuldigen. Dass das von ihm geführte Ministerium auch nach acht Monaten einer Chaostruppe gleicht, sieht man ihm auch deshalb nach, weil er wie ein Religionsgründer salbungsvollen Optimismus und abgeklärten Fatalismus verbreitet. Zwar tritt immer das Gegenteil von dem ein, was Anschober verspricht, aber auch daran kann man sich orientieren.

Zur Truppe gehört außerdem der ÖVP-Innenminister Karl Nehammer. Auch ihm eignet ein forsches Auftreten, er entstammt der niederösterreichischen Landes-ÖVP, und die gilt zu Recht als Stahlhelmfraktion. Als vierter im Bunde des »Virologischen Quartetts« der Pressekonferenzen gibt der grüne Vizekanzler Werner Kogler den besorgten Beobachter. Seine Zuständigkeit als Minister für Sport und Kultur nutzte er, um sowohl die Salzburger Festspiele als auch den Formel-1-Grand-Prix durchzuboxen.

Und dies ist die Bilanz des verlorenen Sommers: Die Corona-App war ebenso ein zeit- und energieraubender Flop wie die wochenlangen Diskussionen um die Ampelschaltungen, die von zwei Dutzend Vertretern der neun Bundesländer und des Gesundheitsministeriums sowie drei unabhängigen Experten – zwei zogen sich bald zurück – überwacht wurden. Die Debatten kreisten von Anfang an darum, Gründe zu finden, warum die dringend erforderlichen Maßnahmen nicht praktikabel seien. Quarantänebescheide kamen erst nach dem Auslaufen der Quarantäne bei den Betroffenen an. Fünf oder sechs Tage bis zur Zustellung eines Testergebnisses waren guter Mittelwert. Schutzartikel, vor allem FFP2-Masken, werden an die praktischen Ärztinnen und Ärzte, die die Basisversorgung der Bevölkerung aufrechterhalten und sich gegen die Überlastung der Krankenhäuser und Kliniken stemmen, nur nach skurrilen bürokratischen Verfahren ausgegeben. Ärzte erfahren nicht, ob ihre Patienten positiv getestet wurden, wohl aber die Bürgermeister, die das Geheimwissen nicht weitergeben. Dafür widersprechen die Vorsitzenden der neuen Bundeskrankenkasse einander mit jeder Verlautbarung. Leitende Gesundheitsbeamte gehen wegen Überlastung in den Krankenstand oder mit der Ehegattin wie jedes Jahr auf Kur, und Landessanitätsdirektoren melden sich auf dem Höhepunkt der Krise in den Urlaub ab.

Diese eigentümliche Pflichtauffassung regt in Österreich aber niemanden auf, weil sie von den Damen und Herren Amtsärzten und ihren Vorgesetzten erwartet werden musste. Sinnentleerte Kontinuität genießt Vorrang vor Effizienz, der leuchtende Pfad des Dienstwegs erstickt jeden Ansatz von Eigeninitiative.

Das Verhalten der österreichischen Gesundheitsbürokratie im Jahr 2020 ähnelt jenem der k. u. k Generalität im Frühherbst 1914, als man anstelle des erwarteten Spaziergangs gegen das kleine Serbien froh sein musste, vom Feind nicht tief ins eigene Territorium zurückgeworfen zu werden.

Und so kam, was abzusehen war: Mitte November wurde Österreich ein zweites Mal »heruntergefahren«, konkrete Maßnahmen aber blieben weiterhin aus. Das Contact-Tracing ist nur noch zu 25 Prozent erfolgreich, Tendenz stark sinkend. In jedem zweiten Alten- und Pflegeheim wütet das Virus. Die täglichen Infektionszahlen schießen durch die Decke, längst übertreffen sie (relativ zur Bevölkerung) jene in Deutschland um ein Mehrfaches. Er habe das aufgrund der Modellrechnungen erwartet, sagt der Gesundheitsminister. Es sei schön, wenn die Annahmen sich als richtig herausstellten. Die Modellrechner wiederum beklagen das Tohuwabohu bei der Datenerfassung. Die elektronischen Systeme brächen jeden zweiten Tag zusammen.

Was im März so gut klappte, weil Österreich der Pandemie zwei Wochen voraus war, hat sich ins Gegenteil gewendet. Als die ehemalige höchste Gesundheitsbeamtin der Republik, die Epidemiologin Pamela Rendi-Wagner, spätere Gesundheitsministerin und seit November 2018 Vorsitzende der SPÖ, im Oktober gefragt wurde, was sie zu Anschobers Mantra sage, demzufolge die jeweils kommenden zwei Wochen die entscheidenden seien, bemerkte sie lakonisch: Die vergangenen sechs Wochen seien die entscheidenden gewesen. Jetzt laufe man der Pandemie hinterher, nicht nur in der Notfallmedizin sei das der Super-GAU.

Es gibt einen Grund für die Säumigkeit der Regierung: Österreichs Wintertourismus muss unter allen Umständen aufrechterhalten werden. Ischgl geht davon aus, dass am 17. Dezember die Saison eröffnet wird. »Jede Einkehr in eine der zahlreichen Hütten und Restaurants wird zum kulinarischen Höhepunkt! Und jeder einzelne Schwung auf den bestens präparierten Pisten wird zum puren Genuss!« (Ischgl.com)

»Aufigstiegen, obigfallen, hingwesn«, steht auf österreichischen Bergfriedhöfen auf den Grabsteinen von zu Tode Gestürzten. Die ersten beiden Etappen hat die Republik schon hinter sich gebracht.

Erwin Riess schrieb in konkret 2/20 über die schwarzgrüne österreichische Regierung