Zeugenstand

Nachdem der Attentäter von Halle das Gerichtsverfahren zu seiner Bühne gemacht hat, kommen im Prozess nun die Überlebenden und Angehörigen der Opfer zu Wort. Von Friedrich C. Burschel

Vorsichtig streicht der Anwalt der Nebenklage, Erkan Görgülü, über den Rücken seines Mandanten, der sich vor Schluchzen schüttelt. An eine Vernehmung des Nebenklägers Karsten L., der hier als Zeuge gehört wird, ist nicht mehr zu denken, und jede mitfühlende Person im Saal wünscht sich, dass die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens ihn doch entlassen möge. Karsten L. ist der Vater von Kevin S., den der Halle-Attentäter im Imbiss Kiez Döner, unweit seines eigentlichen Anschlagsziels, der Synagoge, am 9. Oktober 2019 kaltblütig erschoss.

Bevor ihn seine Tränen sprachlos machten, hatte Kevins Vater vom Stolz der Eltern auf ihren Sohn berichtet, der trotz einer Lernbehinderung eine Lehrstelle als Maler gefunden hatte. Kevin S. gehörte zu einem Freundeskreis in der Fanszene des Halleschen FC. Seine Eltern hätten sich keine Sorgen machen müssen, wenn Kevin am Wochenende ins Stadion gegangen oder zu Auswärtsspielen gefahren sei, denn sie konnten sicher sein: »Die schützen ihn!« An diesem schrecklichen 9. Oktober hatte Kevin seinen Vater in kindlicher Anhänglichkeit noch angerufen, um zu fragen, ob er zu Mittag einen Döner essen dürfe. Der Vater erlaubte es. Dann hörten sie nichts mehr von Kevin, riefen besorgt Freunde und bei der Polizei an, posteten auf Facebook eine Suchmeldung und wussten nach Stunden: Da ist etwas passiert.

Die Polizei, die längst wusste, wer der Tote war, hatte die Eltern bis 18 Uhr noch nicht benachrichtigt. So konnte es geschehen, dass ein achtloser Bekannter dem Vater einen Link zum Tätervideo sandte und Karsten L. die Hinrichtung seines Sohnes ansah. Irgendwann entlässt die sichtlich überforderte Richterin endlich den Mann, der seit der Tat psychiatrische Betreuung braucht. Kurz herrscht Stille im Saal. Viele blicken auf den reglos in seinem Stuhl sitzenden Angeklagten.

Das ist es, was diesen Prozess so deutlich vom NSU-Verfahren unterscheidet: Trauer, Wut und Fassungslosigkeit haben im Verfahren Raum, und die Wucht der Aussagen trifft alle, außer den Täter. Die Vorsitzende zeigt sich milde und interveniert allenfalls pro forma, mit Mahnungen etwa, man solle doch den Applaus nach den Aussagen der Überlebenden unterlassen.

Die ersten Tage des Verfahrens hatte der Täter mit seinem fanatischen Hass auf jüdische und »nicht-weiße« Menschen, auf Einwanderer*innen, Muslime und Linke dominiert (siehe konkret 9/20). Doch seither bestimmen die überlebenden Opfer und die Traumatisierten das Bild vor Gericht. Viele der Zeugnisse rufen Erinnerungen an den deutschen Zivilisationsbruch der Shoah im Saal des Landgerichts Magdeburg wach. Den Anwesenden stockt der Atem, als die Rabbinerin Rebecca Blady von der englischsprachigen Gruppe Base Berlin, die an diesem Jom-Kippur-Tag in Halle zu Besuch war, von einem Telefonat mit ihrer Großmutter Olga, einer 91jährigen Holocaust-Überlebenden aus New York, berichtet. Bladys Urgroßmutter war im Mai 1944 durch Josef Mengele in Auschwitz von ihren drei Töchtern, darunter die 16jährige Olga, getrennt und in die Gaskammer geschickt worden. Olga wurde sieben Wochen später nach Gelsenkirchen und Essen zur Zwangsarbeit verschleppt und erlebte die Befreiung – dem Tode nah – im KZ Bergen-Belsen.

Ihre Aussage vor diesem Gericht, so Blady, bedeute für sie, die während des Angriffs in Halle ebenfalls von ihrer kleinen Tochter, die von einer Babysitterin beaufsichtigt wurde, getrennt war, die Wiederkehr eines tiefsitzenden Familientraumas. »Meine Großmutter sagte mir ausdrücklich, ich soll alles erzählen. Sie hatte dazu nie Gelegenheit vor einem deutschen oder internationalen Gericht. Ich habe diese nun. Das Gericht muss verstehen, dass die Shoah zwar vorbei, aber weiter wirksam ist«, sagte Blady und widmete ihre Einlassung dem Andenken ihrer Urgroßmutter Dreizel und den Ermordeten von Halle, Jana L. und Kevin S.

Wie schon ihr Ehemann, der Rabbiner Jeremy Borovitz, berichtet auch Blady ausführlich vom ignoranten, groben und vor allem geschichtsvergessenen Agieren der Polizei am Tag des Anschlags. Man habe, so die Aussage etlicher Zeuginnen und Zeugen, die Betroffenen in der Synagoge stundenlang nicht über das Geschehen informiert. Die Gläubigen wurden eher wie Tatverdächtige behandelt, und es wurde ihnen während der Evakuierung zunächst verwehrt, nach anderthalb Tagen des Fastens ihr koscheres Feiertagsessen mitzunehmen. Später war die ganze Gemeinde in einem Bus ohne jeglichen Sichtschutz über eine Stunde den Linsen von Fotografen und Kameraleuten ausgesetzt. Im Krankenhaus schließlich, wohin die Gemeinde gebracht worden war, sei, so schildert es Borovitz, einer der Beamten in das Schlussgebet des Jom-Kippur-Festes geplatzt und habe eine Nachbesprechung abhalten wollen. Nur das Eingreifen eines Krankenhausmitarbeiters habe das verhindert. »Vielleicht kann sich das kaum jemand vorstellen, wie es sich für uns Juden angefühlt hat, als zwei Deutsche darüber debattierten, ob wir nun zu Ende beten dürfen.«

»Was mache ich eigentlich hier?«, habe sie sich nach dem Anschlag gefragt, berichtet die Zeugin Naomi H. Die 29jährige ist Rabbinerin in Ausbildung und stammt ebenfalls aus einer Familie, die in der Shoah »einen hohen Preis« für die Illusion gezahlt habe, als Deutsche anerkannt zu sein. Ihre Aussage ist getragen von einer Absage an ein Land, in dem ihre Vorfahren ermordet wurden und sie nun selbst ermordet werden sollte. Und es sei nicht die Tür gewesen, die sie gerettet habe, sagt sie sichtlich aufgebracht: »Die Notwendigkeit, einen guten Deutschen zu schaffen, der es mit einer Tür aus deutscher Eiche bewirkt hat, jüdisches Leben zu retten, hat hier im Gericht keinen Platz.«

Viele weitere, zum Teil schwer traumatisierte Betroffene sind seither gehört worden: die beiden türkischstämmigen Inhaber des Kiez Döner etwa, der 24jährige schwarze Lagerarbeiter, den der Täter mit dem Auto zu überfahren versuchte, ein Ehepaar, das der Angreifer beim Versuch, ihnen mit vorgehaltener Waffe das Auto abzupressen, anschoss und schwer verletzte. Weitere Betroffene, wie die Mutter der ermordeten Jana L. und ein Arbeitskollege von Kevin S., konnten nicht aussagen, da die schweren psychischen Folgen des Anschlags sie daran hinderten.

Es ist beeindruckend, wie sehr die unterschiedlichen Opfergruppen aufeinander zugehen, sich aufeinander beziehen und sich auf diese Weise gegen die dehumanisierende »gezielte Wahllosigkeit« der White-Supremacy-Attentäter von Halle, Hanau, München, Pittsburgh, Utøya, Poway, Christchurch und so weiter stemmen.

Friedrich C. Burschel ist für konkret beim Prozess in Magdeburg akkreditiert