Überfällig

Nach dem »Sturm auf den Reichstag« während der Corona-Demonstration Ende August rumpelt es mal wieder ein bisschen in dem, was das Feuilleton Diskurs nennt. Von Tim Wolff

Deutschland ist ein Elend. Nicht nur für die, die darin leben müssen, sondern auch für alle, die das anscheinend gern tun. Nicht mal der Neonazi kann ungebrochen stolz sein auf seine Version des Landes; auch er muss sich zum Holocaust positionieren, ihn entweder aktiv leugnen oder als Bagatelle oder gar Fehler des geliebten Führers abtun. Der Scham entfliehen zu müssen, die ihnen ihr jeweiliges Deutschsein beschert, das verbindet den Neonazi mit all denen, die gemeinsam mit ihm gegen vergleichsweise milde Virenschutzmaßnahmen marschieren, tanzen und demonstrieren – ob Heilpraktiker, Waldorfschüler oder andere Esoteriker aus der Mitte dieser to go entnazifizierten Nazi-Gesellschaft, ob Beamte der Exekutive oder Mitglieder von Bundestagsparteien, ob querfrontaffine Linke, Verschwörungstheoretiker oder Rechtsantideutsche. Deswegen wird Angela Merkel hier zum hitleresken Diktator, der angenommene Mainstream dort zur eigentlichen Wiederkehr des Faschismus, die man verhindern müsse.

In einer Gesellschaft, in der es nie ein richtiges Ende gab, ist das rituelle »Wehret den Anfängen« nichts als eine rhetorische Spielzeugwaffe, die man nur Keule nennen muss, um jede wesentliche Beschäftigung mit der Kontinuität der Nazi-Einflüsse lächerlich zu machen. Und das vereint nicht nur die »Corona-Rebellen« (Presse-Euphemismus), sondern diese auch mit ihren Gegnern aus der irgendwie bürgerlich-liberalen und dann auch noch angeblich linken Mehrheit des akuten Deutschlands.

Wenn die »Taz«, das Balg der westdeutschen »Gegenöffentlichkeit« (veralteter Marketinggag), in Reaktion auf das noch desorganisierte rechtsradikale Bestürmen des Reichstags während der Demonstration gegen die Anti-Corona-Maßnahmen mit der Schlagzeile »Das ist unser Haus – Ihr kriegt uns hier nicht raus!« reagiert, dann kommt fast das gesamte deutsche Elend der Selbstverblendung und -verleugnung zusammen. Rechten Möchtegernbesetzern die ikonische Liedzeile des Berliner Häuserkampfes entgegensetzen, angewendet auf ein Gebäude, das im Zentrum der nationalsozialistischen Machtergreifung und der Wiedergroßwerdung der Deutschen in der Wiedervereinigung stand und derzeit Nazis in mindestens einer Partei beherbergt – bevor das irgendeinen emanzipatorischen Sinn ergibt, wird Rio Reiser doch noch König von Deutschland. Da verwächst auf der »Taz«-Front zum tausendsten Mal, was ohnehin nur durch ein glorifiziertes Erziehungsproblem in den Spätsechzigern eine Weile getrennt war: das alternative mit dem klassischen deutschen Nachkriegsbürgertum. Aber immerhin: Viel besser und gleichgültiger kann man die traurige schwarzgrüne Zukunft des Landes nicht ankündigen. Die übrigens durchaus in der Lage ist, auch den Nazi-Wähler zu integrieren (siehe Österreich).

Bis dahin rumpelt es aber noch ein bisschen in dem, was das Feuilleton Diskurs nennt. Die Reichstaz ist nämlich auch ein Blatt, das Polemiken gegen die zum Teil mörderisch rassistische Polizei dieses Landes veröffentlicht, wenn auch eher aus Unachtsamkeit. Und damit verärgert man als Springer-Ausbildungsbetrieb durchaus ein wenig den späteren Chef vieler heutiger »Taz«ler: den Ulf Poschardt von der »Welt«. So sehr, dass dieser, wenn eine schlecht organisierte Polizei nur drei Leute zum Schutz des Parlamentes übrig hat, die Schuldigen auf der anderen Straßenseite findet: »Selbstgerechte, opportunistische Humor- und Hetzkanäle haben auf sozialen Netzwerken vorher noch gehöhnt, wer von den Polizisten sich den Rechtsradikalen entgegenstellen würde, wenn das doch selbst alles Rechtsradikale wären, so die Unterstellung. Dieser Ton, dieses bescheuerte Verklären der Antifa auch durch die SPD-Spitze und das Schweigen der hyperopportunistischen Grünen hat Texte wie die Müll-Phantasie in der ›Taz‹ erst möglich gemacht, und diese umfassende Respektlosigkeit macht Polizisten zu oft zu Opfern von Angriffen und Demütigungen. Es ist nachgerade grotesk, wenn man diese Polizisten wie zuletzt so häufig im rotweinigen Wohlfühlkiez unter Generalverdacht stellt.«

Es ist nachgerade grotesk, wenn man rotgrünes Bürgertum im koksigen Wohlfühlporsche unter den Generalverdacht stellt, Antifaschisten zu sein. Denn eigentlich sind »Welt« und Kinder-»Welt« nicht so weit voneinander entfernt. Die »Taz« hatte nach dem Abdruck der »Müll-Phantasie« in vorauseilendem Gehorsam vor dem Heimatminister und bescheuerten Polizeiverklärern wie Poschardt dieses bisschen Haltung kaputtdebattiert und damit eigentlich erfüllt, was der hyperpräfaschistische Ulf fordert, wenn mal drei Polizisten ihren Job zuungunsten von Nazis ausüben: »Der Säkularcalvinismus der selbsterklärten Guten und Anständigen sollte demütiger werden und jede Provokation unterlassen. Zur aufgeklärten Mitte gehört nur, wer die Würde unseres liberalen politischen Systems über die eigene Weltanschauung stellt.« Oder um es tazig zu sagen: »Die Fotos sind ... ein Beweis dafür, dass die liberale Demokratie funktioniert, die ihre Gegner nicht unter dem Einsatz von Schusswaffen und Wasserwerfern zu Märtyrern macht. Auch wenn es vielleicht nicht die geschickteste Polizeitaktik war, die diese Bilder zur Folge hatte. Gefährlicher als solche Aktionen sind tätliche Angriffe auf Migranten und Juden, wie sie fast täglich geschehen – und meist unbeachtet bleiben.« Was selbstredend nichts mit der Arbeit der Polizei oder der der Medien zu tun hat.

Auch eint rechts und »links« dieser liberalen Demokratie, dass sie ihre Würde verteidigen, indem sie ignorieren, was sie selbst gefüttert haben. Der Poschardt lebt mit seinem Satteltaschen-Goebbels »Don Alphonso« und Konsorten von den Kommentarspalten-Nazis, die den Reichstag von außen und innen belagern. Die »Taz« wiederum muss ihre Rudolf-Steiner-Homöopathie- und sonstigen antisemitischen Esoteriker sich weiter einen Dolf tanzen lassen.

Gleich zwei deutsche Nachnazi-Staaten haben darin versagt, ihre Nazis loszuwerden. Der eine, der sozialistische, mag sie eine Weile ruhiggehalten haben, aber es reichten ein paar Tage Klassengesellschaft, um sie losschlagen zu lassen. Dem anderen, dem kapitalistischen Siegerstaat, waren weder NSDAP-Kanzler noch SS-Großschriftsteller peinlich, denn der Nazi-Unfall war ja oft genug aufgearbeitet und bewältigt worden. Der dritte, die Synthese dieses Versagens, hat sich so sehr in die Erklärung eingelebt, dass es Nazis nicht gibt, sondern höchstens gegeben hat, dass sich noch für jeden Nazi ein besorgter Bürgerlicher finden lässt, der ihn in Schutz nimmt. Es ist wahrlich überfällig, mit Deutschland einfach aufzuhören.

Tim Wolff schrieb in konkret 5/20 über den Kulturbetrieb in Quarantäne