Reprobierte Toleranz

Hysterische Linke verhindern mit totalitärer Rechthaberei jede Diskussion. Das glauben allerlei Fürsprecher der liberalen Mitte, die das Intellectual Dark Web installiert haben, um Platz für gehaltvolle Debatten zu schaffen. Von Peter Kusenberg

»Frustriert und verärgert machte er sich auf den Weg zur Verteidigung gegen die dunklen Künste, riss sich den Tarnumhang herunter und stopfte ihn unterwegs in seine Tasche.«
J. K. Rowling: Harry Potter und der Halbblutprinz

Hierzulande empören sich rechtschaffene Journalistinnen und Journalisten, wenn rechte Provokateure wie Rainer Meyer alias »Don Alphonso« Antifaschistinnen zu »Feinden der Mehrheitsgesellschaft erklären« und der automobil-totalitäre Chefredakteur Ulf Poschardt den ranzigen Käse in der »Welt« drucken lässt. Bei anderen Blättern haben’s rechte Schreiber schwerer, wie »FAZ«-Redakteur Simon Strauß bemängelt. In der »Süddeutschen« sei die Reportage eines Autors abgelehnt worden, weil sie mutmaßlichen Neonazis zur Entlastung gedient habe, während Svenja Flaßpöhler angefeindet worden sei, nachdem sie anlässlich von Protesten gegen rechte Verlage auf der Frankfurter Buchmesse 2017 das Wort »linksextrem« benutzt habe. Strauß resümiert, dass »für unabhängig denkende junge Schreiber kein Platz sei« in linken Postillen wie »SZ«, »Spiegel« und »Zeit«. Erfreulich sei es daher, dass nun Rettung nahe in Gestalt des Intellectual Dark Web (IDW), eine Anspielung auf den von Kriminellen und Waffenschiebern bevölkerten Teil des Internets.

2018 erläuterte erstmals die »New York Times«, was es mit diesem ominösen IDW auf sich hat: Weil freies Denken mittlerweile unstatthaft, mithin unerlaubt sei, weil man heutzutage politically correct sein müsse, hätten sich Freidenker aller Couleur abgesondert, um im Verborgenen ihre originellen Überlegungen einer interessierten Leser/innenschaft kundzutun und zu diskutieren. Als Protagonisten jenes IDW traten der Investmentbanker Eric Ross Weinstein und sein Bruder Bret in Erscheinung, der sich an seiner Uni geweigert hatte, aus Protest gegen Rassismus den Campus zu verlassen. Der rechte TV-Moderator Dave Rubin lässt sich das Label ebenso gefallen wie die Australierin Claire Lehmann, die das marktliberale Online-Magazin »Quilette« verantwortet. Gestandene Rechtsradikale sind mit an Bord, etwa der britische Ukip-Antifeminist Carl Benjamin und der libertäre Ex-Martial-Arts-Wettkampfkommentator Joe Rogan, ein Youtube-Quoten-König.

Als einer der renommiertesten Dunkelnetz-Intellektuellen tritt der Psychologieprofessor Jordan Peterson auf, der ebenso wie seine Mitstreiter/innen Political Correctness verabscheut und den Kapitalismus für das Gelbe vom Ei hält. Wie hierzulande die Pegida-Nazis, AfD-Reaktionäre und Corona-Demonstranten fordert er das Recht auf freie Meinungsäußerung und ruft zur Zurückhaltung in Fragen der Emanzipation auf, weil’s andernfalls totalitär und intolerant werde.

Zur Kritik an der vermeintlich fehlenden Debattentoleranz der »Linken« hat bereits vor gut 55 Jahren Herbert Marcuse in seinem Aufsatz zur »repressiven Toleranz« das Nötige gesagt: »Die in Unparteilichkeit ausgedrückte Toleranz dient dazu, die herrschende Intoleranz und Unterdrückung möglichst klein darzustellen oder gar freizusprechen«; sie gehört zum »Wesen eines Systems, das Toleranz befördert als ein Mittel, den Kampf ums Dasein zu verewigen und die Alternativen zu unterdrücken«. Dabei lasse sich diese Toleranz propagieren als »aktive, offizielle Toleranz, die der Rechten wie der Linken gewährt wird, … der Partei des Hasses ebenso wie der der Menschlichkeit. Ich bezeichne diese unparteiische Toleranz insofern als ›abstrakt‹ und ›rein‹, als sie davon absieht, sich zu einer Seite zu bekennen – damit freilich schützt sie in Wirklichkeit die bereits etablierte Maschinerie der Diskriminierung.«

Dass die Diskriminierung bei den IDW-Protagonistinnen und -Protagonisten nicht zur Disposition steht, zeigt sich in allen Debatten, die auf ihrer Plattform geführt werden. Sam Harris zitiert in seinem Buch The Moral Landscape die Kollegen Joshua Greene und Jonathan Cohen, die wissen, wie der Mensch in seinem tiefsten Inneren tickt: »Die Sicht der meisten Menschen auf den Geist ist implizit dualistisch und libertär, nicht materialistisch und kompatibilistisch. Im Gegensatz zur rechtlichen und philosophischen Orthodoxie bedroht der Determinismus wirklich den freien Willen und die Verantwortung, wie wir sie intuitiv verstehen.«

Mitdenker Jordan Peterson hat früh damit begonnen, gemeinplätzige Lehrvideos zu verbreiten. Einer seiner Grundsätze lautet: »Reiß dich zusammen, übernimm Verantwortung für dein Tun, handle redlich!« Das klingt nicht von ungefähr nach Ich-AG, Wolfgang Kubicki und Montgomery Burns, weil die eigene privilegierte – weiße, bourgeoise, männliche, nordhalbkugelige – Position als gottgegeben angesehen wird; Peterson zitiert den Christengott bei jeder sich bietenden Gelegenheit. »Begutachten Sie Ihre Lebensumstände«, heißt es in seinem millionenfach verkauften Ratgeberbuch 12 Rules for Life: An Antidote to Chaos. »Fangen Sie klein an! Haben Sie die Ihnen gebotenen Möglichkeiten voll ausgeschöpft? Arbeiten Sie hart an Ihrer Karriere oder sogar an Ihrem Job, oder lassen Sie sich von Bitterkeit und Ressentiments zurückhalten und nach unten ziehen?« Das US-amerikanische Magazin »Politico« beschreibt Petersons »ausgeglichenen politischen Diskursstil« so, als versuche er, ein Gespräch zu führen. »Das ermöglicht es ihm, sich als der letzte vernünftige Mann in einer Welt zu positionieren, die von linker Hysterie bedroht ist.«

Der »smarte Typ für dumme Leute« ist Teil von Debatten, die meist im rechten politischen Spektrum stattfinden. Gern bezeichnen sich IDW-Denker als »libertär«, das heißt maximal ökonomisch unabhängig, antietatistisch, in einigen Fällen gar aufgeschlossen gegenüber diskriminierten Gruppen wie Frauen und LGBT-Menschen und großzügig bezüglich konservativ-reaktionären Hassthemen wie Marihuana und sexuelle Freizügigkeit. So stritt sich Peterson öffentlich mit dem Neurowissenschaftler Sam Harris über Moral und Biologie, ohne plumpem Kreationismus zu huldigen. »Wann war Intellektualität zuletzt so sexy?«, fragt die »Neue Zürcher Zeitung« suggestiv-verzückt, denn überwunden seien jetzt »die ideologischen Grabenkämpfe und starren Denkschemata der direkten Nachkriegsära«, dieser lästige Rhabarber von Klassen und Kapitalismus und Verblendungszusammenhang.

Im linken Magazin »Jacobin« erkennt Autor Luke Savage, dass die »unklassifizierbaren Renegaten« des IDW letztlich nichts anderes täten, als reaktionäre Ausschussware von anno dunnemals »neu zu verpacken, um traditionelle Hierarchien zu verteidigen«. Den meisten wird’s nicht auffallen, denn sie lesen Marcuse nicht: »Ferner wird bei Debatten in den Massenmedien die dumme Meinung mit demselben Respekt behandelt wie die intelligente, der Ununterrichtete darf ebenso lange reden wie der Unterrichtete, und Propaganda geht einher mit Erziehung, Wahrheit mit Falschheit. Diese reine Toleranz von Sinn und Unsinn wird durch das demokratische Argument gerechtfertigt, dass niemand, ob Gruppe oder Individuum, im Besitz der Wahrheit und imstande wäre zu bestimmen, was Recht und Unrecht ist, Gut und Schlecht.«

Das demokratische Argument schließt jedoch »eine notwendige Bedingung ein, nämlich: dass das Volk fähig sein muss, auf der Basis von Erkenntnis etwas zu erwägen und auszuwählen, dass ihm wahrhafte Information zugänglich sein und deren Bewertung autonomem Denken entspringen muss«. Was Strauß nicht kratzt, der will nur zusehen, wie »Erzliberale« »robust diskutieren«, im Zweifelsfall Alphonso-Meyer über weibliche Minderwertigkeit und Porsche-Poschardt über die Freiheit beim Totfahren radelnder Untermenschen.

Dass sich rechte »Intellektuelle« gern im Gedankenreservoir linker Autorinnen und Autoren bedienen, ist ein bekanntes Phänomen. Immerhin gehört es zu den Grundlagen rechten Denkens, die immergleichen rassistischen, sexistischen, chauvinistischen Prinzipien der Affirmation von Herrschaft in mehr oder minder attraktiven Theorien zu verpacken. Den Rest regelt der Markt.

So nahmen rechte Gegner/innen der 68er durchaus Sartre und de Beauvoir zur Kenntnis, der Strasser-Flügel der NSDAP bezog sich positiv auf die sozialrevolutionären Inhalte sozialistischer Bewegungen, und dass es sich bei allen Marx-Leserinnen und -Lesern um pazifistische Frauenrechtlerinnen mit Degenhardt-Liedern im Ohr handelt, wird niemand annehmen. In jüngster Zeit machte der Politologe Benedikt Kaiser von sich reden, der als Lektor beim radikal rechten Antaios-Verlag arbeitet. Laut einem Bericht im »Antifaschistischen Infoblatt« (Nummer 118) lobt Kaiser Marxens »bleibenden ›Mehrwert‹« und fordert seine Kameraden dazu auf, »ohne tradierte Denkblockaden« den Autor des Kapitals zu rezipieren. Dabei ist Kaiser nicht an einer Querfront interessiert, sondern an einer Verwertung der »reaktionären Ideen« und des Antiindividualismus in der sozialistischen Theorie: »Der regressive Zweck heiligt die revolutionären Mittel«, heißt es resümierend im »Infoblatt«.

Derlei Aneignung ist ziemlich egal, solange es bei der Lektüre bleibt. Im Frühsommer dieses Jahres indes gelang dem rechtsradikalen Bürgermeister der südwestfranzösischen Stadt Perpignan ein Coup. Laut einem Beitrag in der »Jungen Welt« vom 15. Juli bemüht sich Louis Aliot, Vizepräsident des Front-National-Nachfolgers Rassemblement National, darum, das örtliche Walter-Benjamin-Zentrum für zeitgenössische Kunst wieder zu öffnen und als »Erinnerungsort für Flucht und Vertreibung«, wie die »FAZ« schrieb, einzurichten. Benjamin war 1940 die Flucht vor den Nazis nach Spanien zwar gelungen, von spanischer Polizei im Grenzort Portbou festgesetzt fürchtete er jedoch seine Auslieferung an die französischen Behörden (und damit an die Gestapo) und tötete sich. Vor diesem Hintergrund wirkt Aliots Initiative derart grotesk, dass französische Linke einen offenen Brief in »Le Monde« gegen diese »Instrumentalisierung des Gedenkens an Walter Benjamin« veröffentlichten. Diese Kritik sei albern, argumentierte wiederum IDW-Fan Strauß daraufhin in der »FAZ«, immerhin bedienten sich Linke ja auch bei Carl Schmitt, da müsse – Toleranz, Toleranz! – das Gleiche für die Rechten gelten.

Dass die Rezeption rechter Texte durch linke Autorinnen und Autoren stets einen anderen Charakter hat als die linker Texte durch rechte, ist leicht ersichtlich. Die neuen rechten »Denker«, die sich mit dem Quabbelwort »Intellektuelle« ausstaffieren, werden kaum erleben, dass sich Linke ernsthaft auf ihr pop- und postfaschistisches Gerede einlassen. Schwer vorstellbar, dass sich Dietmar Dath und Margarete Stokowski zu einem gemütlichen Plausch mit Jordan Peterson, Dave Rubin, Sam Harris und Joe Rogan zusammensetzen, um über die Inferiorität von Frauen zu sprechen, selbst wenn »FAZ«, »NZZ« und die Dunkelnetzintellektuellen sich das sehnlichst wünschen.

Peter Kusenberg schrieb in konkret 8/20 über das Videospiel »The Last of Us 2«