Systemirrelevant

Die Helden der Corona-Krise spiegeln die Ordnung, die sie dekoriert hat. Von Stefan Ripplinger



Systemrelevant« heißt in der Corona-Ordnung das, was während der Weltkriege »uk« hieß. Wer »uk« (unabkömmlich) gestellt war, musste nicht an die Front. Wer »systemrelevant« ist, darf seiner Arbeit nachgehen und gilt im Krieg gegen das Virus als »Held« oder »Heldin«. Solche Helden spiegeln, meist unfreiwillig, die Ordnung, die sie dekoriert hat.

Als systemrelevant galten und gelten hierzulande Krisenmanager, ihre Exekutive, die technische und medizinische Infrastruktur, Grundversorger und – seltsam genug – Baumärkte. Aber relevant für welches System? Das ökonomische System kann nicht gemeint sein, denn seine Produktion wurde gestoppt, das gesellschaftliche System scheidet aus, weil nahezu alle gesellschaftlich-politische, sogar künstlerische Betätigung verboten war; auch nicht in Frage kommt das System der Justiz, denn Grundrechte waren suspendiert, und nicht einmal das der symbolischen Kommunikation, deren Symbole abrupt umgewertet wurden; der Berliner »Tagesspiegel« rügte den Regierenden Bürgermeister, weil er noch am 10. März »demonstrativ mit Handschlag gegrüßt« habe. Was vor dem März als zivilisiert galt, gilt nun als unzivilisiert, was freundlich war, als unfreundlich, was warm war, als kalt, und umgekehrt. Menschlicher Umgang ist auf lange Zeit vergiftet. Dieses System
ist neu, es ist das der Corona-Ordnung selbst. Sie verfolgt, ihrer Ideologie nach, weder einen ökonomischen noch einen rechtlichen noch einen gesellschaftlichen, politischen oder kulturellen Zweck, sondern ausschließlich den der Erhaltung des Lebens, koste es, was es wolle. Doch der Preis, der für die unbedingte Erhaltung des Lebens entrichtet werden muss, ist das Leben selbst, ob das eigene, ob das von anderen.

Die Logik der »Systemrelevanz« spaltet: Wo es Unabkömmliche gibt, da gibt es Entbehrliche, keine »Leistungsträger« finden sich da, wo nicht auch Loser sind, und wer das gesunde Leben feiert, bringt bald »Lebensunwerte« um. Mit Blick auf Schweden, das sich den Anti-Corona-Maßnahmen zum großen Teil verweigert hat, lässt sich fragen, wie viele Leben dank ihrer gerettet worden sind. Unstrittig ist, dass sie das vieler massiv bedrohen; die Internationale Arbeitsorganisation sieht 1,6 Milliarden Jobber und vor allem Jobberinnen akut in Gefahr. Unterdrückung beruft sich weltweit auf Corona. Die bereits einsetzenden Hungersnöte könnten Hekatomben fordern. Ein System, das sich breitgemacht hat, indem es das für sich und für sich allein Relevante durchsetzte, hat auf diese Weise unzählige Irrelevante hervorgebracht, »Wegwerfmenschen«, wie der Philosoph Etienne Balibar sagt.

Stefan Ripplinger