Die Abweisung

3.025 geschwärzte Seiten: Die schriftliche Urteilsbegründung im NSU-Prozess hat es in sich. Von Florian Sendtner



Hat Beate Zschäpe Fußpilz? Diese Frage beschäftigt Florian Gliwitzky, Richter am Oberlandesgericht (OLG) München. Als Pressesprecher des OLG, wo von 2013 bis 2018 der NSU-Prozess stattfand, hat er darüber zu entscheiden, welche Medien Einsicht in die am 21. April 2020 – 93 Wochen nach der Urteilsverkündung am 11. Juli 2018 – vorgelegte schriftliche Urteilsbegründung erhalten und in welchem Umfang dabei »persönliche Angaben und Umstände« anonymisiert, sprich: geschwärzt werden.

Was es für einen Grund geben könnte, eine schriftliche Urteilsbegründung nur eingeschränkt oder gar nicht zu veröffentlichen, weiß Gliwitzky allein. Aber man muss das natürlich genau andersrum sehen: Eine Justiz, die ihre Entscheidungen öffentlich zu begründen hat? Wo kämen wir da hin? »Die Bitte ist abgewiesen. Entfernt euch«, lautet ein Urteilsspruch bei Kafka. Unergründlich, unanfechtbar, fertig, aus.

Auf einer von Gliwitzky genannten Internetseite – Legal Tribune Online (LTO) –wird die Rechtslage unter Berufung auf allerhöchste Karlsruher Rechtsprechung erläutert, im Konjunktiv: »Der Bürger habe, über die Medien, einen Anspruch darauf, zu erfahren, wie die Gerichte entscheiden.« Mit anderen Worten: Rechtsprechung als Geheimverfahren ist gar nicht richtig demokratisch. Indes, es folgen die Einschränkungen: »Der Anspruch der Medien besteht allerdings nur auf eine anonymisierte Kopie.«

Was gibt es zu schwärzen, was bereits an 438 öffentlichen Verhandlungstagen von zwei bis drei Dutzend Journalisten mitgeschrieben wurde? Wer so fragt, hat das Wesen der Rechtsprechung verkannt. LTO beginnt mit der Frage, »ob die Namen der Angeklagten – obwohl allgemein bekannt – stehenbleiben«. Und antwortet generös: Der Name Beate Zschäpe dürfe ungeschwärzt vom Gericht herausgegeben werden, »weil sie die ›Hauptangeklagte‹ war und ihr Name auf Dauer mit diesem Prozess verbunden ist«. Aber? »Aber auch eine Anonymisierung wäre erlaubt.« Also »Beate Z.«, oder gleich »XXX« statt »NSU«? Vermutlich ist sich der LTO-Autor der Doppeldeutigkeit seines Satzes nicht bewusst: Die Anonymisierung des Nationalsozialismus ist nicht nur erlaubt, sie ist seit 1945 Staatsräson.

Pressesprecher Gliwitzky indes befindet, dass der LTO-Aufsatz »die Rechtslage recht präzise wiedergibt«, und erläutert telefo-nisch seine Auffassung dahingehend, dass insbesondere intime Details der Angeklagten der Öffentlichkeit nicht preisgegeben werden dürften: »Ich sag’ jetzt mal als Beispiel: Beate Zschäpe hätte Fußpilz – das müsste geschwärzt werden.« Das versteht der deutsche Volksgenosse auf Anhieb. Eine derartige Herabwürdigung einer deutschen Nationalsozialistin ist unter allen Umständen zu vermeiden.

Dass Gliwitzky spontan Beate Zschäpes Fußpilz in den Sinn kommt, liegt vermutlich daran, dass in den 3.025 Seiten der Urteilsbegründung durchaus private Details vorkommen, allerdings fast ausschließlich solche der Angeklagten. 1.900 Seiten sollen allein Beate Zschäpe gewidmet sein – wie ließe sich da ein etwaiger Fußpilz aussparen?

Anders sieht es bei den Opfern und ihren Hinterbliebenen aus. Die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die die Familie des ersten NSU-Mordopfers Enver Şimşek als Nebenkläger vor Gericht vertrat, sagte im Interview mit der »Hessenschau«, »die Passagen zu den Opfern« seien »wie im Copy-and-paste-Verfahren aneinandergereiht worden«, die Ermordeten erschienen wie »austauschbare Statisten«. Da gibt es offensichtlich nicht nur keine privaten Details zu schwärzen: »Was man nicht erfährt, sind … simpelste Dinge wie ihr Alter, geschweige denn ihren Beruf.« Die Anonymisierung und Marginalisierung der Opfer hat das OLG vorsorglich selbst übernommen.

Während Gliwitzky mit seinen Kollegen noch damit beschäftigt ist, den etwaigen Fußpilz einer Beate Z. zu schwärzen, zitierten »SZ« und »Taz« bereits aus dem zum Staatsgeheimnis aufgeblasenen Dokument juristischer Borniertheit. Der Durchstecherei verdächtig ist ausgerechnet die Bundesanwaltschaft, die, zumindest in Person von Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten, mit dem Urteil gegen André Eminger hadert. Eminger hatte den Großteil des NSU-Prozesses auf freiem Fuß verbracht, bis die Bundesanwaltschaft im Juli 2017 in ihrem Plädoyer zwölf Jahre Haft für ihn forderte und ihn aufgrund seiner engen, geradezu familiären Kontakte zu Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe als vierten Mann des NSU bezeichnete. Eminger wurde daraufhin noch im Gerichtssaal festgenommen und verbrachte den Rest des NSU-Prozesses in U-Haft – bis zum Tag der Urteilsverkündung, als Eminger unter dem Jubel einiger Nazis auf der Zuschauertribüne mit einem Streichelurteil von zweieinhalb Jahren davonkam und den Gerichtssaal aufgrund seiner bereits abgesessenen U-Haftzeit als freier Mann verließ.

Der Mann, der auf seinem Bauch »Die, Jew, die« (»Stirb, Jude, stirb«) eintätowiert hat, der dem NSU-Trio in allen nur erdenklichen Lebenslagen tatkräftig zur Seite stand, der unter anderem das Wohnmobil anmietete, mit dessen Hilfe die beiden Uwes den ersten Bombenanschlag in Köln 2001 begingen, der von seinen eigenen Verteidigern als »Nationalsozialist mit Haut und Haaren« bezeichnet wurde – dieser André Eminger hat ausweislich der schriftlichen Urteilsbegründung nicht wissen können, wozu seine Freunde das Wohnmobil benutzten; er war »bei lebensnaher Betrachtung« sozusagen vollkommen arglos und vom Vorwurf der Beihilfe zum versuchten Mord freizusprechen.

Mit diesem Teilfreispruch sind wohl auch alle neun noch anhängigen Ermittlungsverfahren gegen weitere Unterstützernazis aus dem direkten NSU-Umkreis hinfällig; denn wenn einer wie Eminger ungeschoren davonkommt, wie sollten dann die anderen zur Rechenschaft gezogen werden?

Begriffe wie Verfassungsschutz kommen auf den 3.025 Seiten überhaupt nicht vor; das werfen 19 Nebenklägeranwälte dem Gericht in einer Protestnote vor: »Die Sicherheitsbehörden hätten sich selbst die Urteilsgründe nicht besser schreiben können.« Und weiter: »Auch die Neonazi-Szene hätte sich keine besseren Urteilsgründe wünschen können.« Die Urteilsbegründung sei »ein Mahnmal des Versagens des Rechtsstaats, der die Angehörigen der NSU-Mordopfer über Jahre erst kriminalisierte und nun endgültig im Stich gelassen hat«.

Elif Kubaşık, die Witwe des 2006 in Dortmund vom NSU erschossenen Mehmet Kubaşık, schreibt in einer Erklärung an das Gericht: »Wir wollten nichts Unmögliches, wir wollten, dass Sie uns ernsthaft zuhören. Uns, die schon vor allen anderen ahnten, dass hinter den Morden Nazis stecken. Wir wollten, dass Sie Ihre Pflicht tun. Dass Sie untersuchen, was geschehen ist.« Richter Man-fred Götzl, nach seiner Urteilsverkündung im NSU-Prozess umgehend befördert, lässt auf 3.025 Seiten ausrichten: »Die Bitte ist abgewiesen. Entfernt euch.«

 

Florian Sendtner schrieb in konkret 2/20 über den Schriftsteller Oskar Panizza