Auschwitz ist unser

Spätestens 2015, mit dem 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, hat es begonnen. Der Repräsentant der Befreier, der russische Staatschef also, wurde nicht eingeladen. Im letzten Jahr machte das Europaparlament klar, warum das so war: Hitler und Stalin hätten gemeinsam den Zweiten Weltkrieg begonnen. Diese Sicht der Verantwortung für den deutschen Vernichtungskrieg stützt sich auf eine radikalisierte Interpretation des deutsch-sowjetischen Nicht-angriffsvertrags aus dem Jahr 1939. Sie wird vor allem von den osteuropäischen EU-Staaten forciert und ist mittlerweile in EU-Kreisen salonfähig geworden.

Anlässlich der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung in Yad Vashem spitzte sich der Konflikt zu. Eingeladen waren alle, aber reden durften nur sechs: die Vertreter der Alliierten sowie Benjamin Netanyahu und Frank-Walter Steinmeier. Der polnische Staatspräsident blieb der Veranstaltung deshalb fern. Welche Sprengkraft selbst solche Protokollfragen mittlerweile haben, zeigt die Berichterstattung darüber.

Den Vogel schoss eine Kommentatorin der »Tagesschau« ab. Offensichtlich im Bilde darüber, wie wichtig die Ausgrenzung Putins und die Unterstützung der polnischen Position ist, erklärte sie es für »unwürdig«, wie Israel und Russland den Gedenktag »teilweise kaperten« und »wie sie vor der offiziellen Veranstaltung sozusagen ihre eigene politische und erinnerungspolitische Privatparty feierten – mit neuen Verbalattacken gegen Polen«. Als »Privatparty« bezeichnete sie die Übergabe eines Denkmals zur Erinnerung an die Blockade von Leningrad an die israelische Öffentlichkeit. Aber sicher, das geht die Deutschen nichts an.

Die Volten gegen Putin hätte man ihr wohl durchgehen lassen, doch den Israelis zu unterstellen, sie hätten den Gedenktag zur Befreiung von Auschwitz (teilweise) »gekapert«, ist für den Augenblick doch noch zu starker Tobak. Hinzu kommt, dass sie allein dem deutschen Bundespräsidenten ein uneingeschränkt würdiges Auftreten attestierte. Trotz solch guter Ausgangspositionen sind die Deutschen einfach noch nicht soweit, nicht nur die Verantwortung für Auschwitz, sondern auch für die Erinnerung daran vollständig zu übernehmen.

So bleibt diese Sichtweise vorerst Episode. Unverändert brisant ist die Kontroverse zwischen Polen und Russland. Hier hat Putin mittlerweile nachgelegt, indem er Dokumente zum Antisemitismus der polnischen Vorkriegsregierung kommentierte und die Veröffentlichung umfangreicher Dokumente zum Zweiten Weltkrieg und seiner Vorgeschichte ankündigte. Mindestens zum 75. Jahrestag des 8. Mai werden sie bei diesem Krieg mit Worten auch für die Öffentlichkeit eine wichtige Rolle spielen.

Rolf Surmann