LK 2

literatur konkret Nr. 2

Utopie als Aufforderung  
 
Als wir den Titel dieses Heftes fotografierten, saß in einer Ecke der Werkstatt ein Schweißer und las während der Frühstückspause Novellen. Seine Kleidung entsprach jedoch nicht den Anforderungen eines Farbtitels, wir mußten daher die Aufnahme stellen. Somit ist unser Titelbild realistisch und utopisch zugleich, indem es das zugegeben Außergewöhnliche zur wünschenswerten Normalität erhöht.
 
Noch sind Arbeiter im Umgang mit Literatur ähnlich hilflos wie der Redakteur eines Literaturmagazins im Gebrauch von Werkzeugen. Noch lesen kaum Arbeiter Literatur und erst recht nicht konkrete, noch enthält diese Zeitschrift keinen einzigen Beitrag eines Handarbeiters. Dennoch wurde Literatur Konkret ignoriert von den Kulturverwaltern in den Medien, und das ist nicht einmal verwunderlich.  
 
Seit dem Erscheinen unserer ersten Ausgabe hat z. B. DIE ZEIT folgende neue Literaturzeitschriften ihren Lesern angekündigt: 'Aqua Regia', 'Siope', 'Cimarron', 'Literatur für Leser', 'Sprache und Datenverarbeitung'. Die Druckauflage all dieser Zeitschriften zusammengerechnet beträgt nur einen Bruchteil der verkauften Auflage von Literatur Konkret. Sollte ein unzureichendes Niveau unserer Zeitschrift die Damen und Herren in den öffentlichen und privaten Anstalten veranlaßt haben, rücksichtsvoll zu schweigen? Sollten sie aus Pietät darauf verzichtet haben, ein linkes Magazin zu kritisieren? Wohl kaum.  
 
Ihr Schweigen hat andere Ursachen. Wahrscheinlich sind es die gleichen, die ungezählte begeisterte Briefe und Anrufe von Lesern auslösten. Ich vermute, es ist die unscheinbare Radikalität dieser Zeitschrift, die sie so schwer berechenbar, klassifizierbar macht für jene, die für das Berechnen, Klassifizieren zuständig sind in den Redaktionen.  
Wir haben mit Literatur Konkret die Spielregeln verletzt, indem wir nicht nur über Kunst, Geist, Gefühle sprachen, sondern auch Geld und Umsatzzahlen und Mechanismen des Betriebes erwähnten. Derartiges berührt manchen unangenehm, läßt Solidarität in der Abwehr entstehen auch bei denen, die Fremdwörter sehr wohl, nur eben dieses nicht kennen.  
 
Doch ihre Herrschaft über den Literaturbetrieb ist nicht unüberwindbar dort, wo sie unzeitgemäß geworden ist und die Bedürfnisse vieler Menschen nicht mehr befriedigt. Kulturgenuß als Selbstzweck, die Faszination des Mitredenkönnens, die Heimeligkeit des Erbaulichen, das alles interessiert nicht mehr sonderlich jene, die mittels Kultur verändern statt verdrängen wollen. Der Wert künftiger Literaturen wird sich allein daran messen, wie weit sie zur verändernden Bewältigung der Wirklichkeit beitragen. Dieses wesentliche Kriterium unserer Literaturkritik haben wir nicht verheimlicht.  
 
Volksfrontscheiße nannte das ein bekannter linker Verleger. Ganz abgesehen davon, daß wir, um mit Walter Jens zu reden, lieber »in der Front des Volkes als im Arsch der Reaktion« tätig sind, bedeutet diese Haltung nicht einen Triumph der Ratgeberliteratur, der dümmlichen Vordergründigkeit. Die Wirklichkeit ist komplex, ebenso muß es ihre Beschreibung, Analyse, Verarbeitung sein. Hier hat Kunst ihre Funktion.  
 
Wir haben weiter an der Konzeption für Literatur Konkret gearbeitet und vielleicht einen winzigen Schritt in die Zukunft getan. Entscheidend aber wird sein, ob -und auch das ist wiederum Utopie - einmal die unselige Trennung von Schreibern und Lesern aufgehoben werden kann.  
 
Voluntarismus hilft da nichts. Kein Beschluß irgendeines Zentralkomitees kann bewirken, daß unter den gegenwärtigen Bedingungen Leser etwas anderes schreiben als schlechte (da unvollkommene) Imitationen des Gelesenen. Die Qualitätskriterien der 'Hohen Literatur', unsere Vorstellungen von Wert und Bedeutsamkeit, verhindern deren ungeübte Mitgestaltung. Dennoch haben alle Menschen unvorstellbar viel zu berichten und nicht nur nachgeplappert Unwesentliches. Kaum jemand hört ihnen zu, außerdem wurde ihnen schon früh beigebracht, das Maul zu halten und den Berufenen das Erzählen zu überlassen.  
 
Utopien sind Aufforderungen. Eines Tages wird auch im Kulturbereich diese herrschaftsbildende Form der Arbeitsteilung überwunden werden müssen. Literatur Konkret will dazu beitragen. Leser und Schreiber sind aufgefordert, sich daran zu beteiligen. 

Inhalt

Verlage Verleger Verlegtes
 

Die Maske fällt: Es wi'rd der Putsch geprobt von Gerd Fuchs
Über die Literarisierung der Politik - Politisierung der Literatur
 
Schulbücher für Untertanen von Hermann Spix
Ein Unterricht ohne beamtete Lauscher, Zensur und Angst läßt sich im Modell Deutschland fast nur mehr als Idylle denken. 
 
'Rundumrecherchen' von Hein Boon
Infolge der Einschüchterungsstrategie des Springerkonzerns darf Wallraff nichts mehr sagen. Unter anderem darf Wallraff nicht mehr sagen, daß er Günter Wallraff ist. Hier berichtet daher (und wird künftig häufiger an seiner statt sprechen) Hein Boon, ein holländischer Freund Wallraffs, der ihn in den letzten Monaten ständig begleitet hat. Literatur Konkret bat also Hein Boon, an einzelnen Beispielen die Strategie des Springer-Verlages darzustellen. Mittels einer Prozeßlawine versuchte Springer, Wallraffs Bild-Reportage zu entöffentlichen, d. h. durch entsprechende Gerichtsurteile eine weitere Verbreitung zu hintertreiben. Geld allein reicht für ein solches Verfahren nicht aus, man braucht auch Zeugen bzw. kann solche nicht brauchen.
 
Anklagebüros in den Vororten von Günter Wallraff
Günter Wallraff über die Fortführung seiner Arbeit
 
Ein unerhörter Todesschrei von Hartmut Gründler
Die lästige Selbstverbrennung des Atomgegners Hartmut Gründler
 
Musik, Musik, to hell with it! von Günter Herburger
 
Beschreibung einiger Zimmer in einem langsam umfallenden Haus von Reinhard Lettau
 
Umgang mit Paradiesen von Heinar Kipphardt
Heinar Kipphardt veröffentlicht neue Gedichte und erzählt, wie sie entstanden sind
 
Der Dichter als Journalist: Gabriel Márquez von Gabriel García Márquez
Gabriel Carcia Márquez zählt in der BRD zu den meistgelesenen Autoren Südamerikas. Nach Hundert Jahre Einsamkeit (1970) und Der Oberst (1976) erscheint in diesem Frühjahr wiederum bei Kiepenheuer & Witsch sein Roman Der Herbst des Patriarchen: Für bundesrepublikanische Rezensenten ein neuer Anlaß zum Leiern über »ein ungemein erregendes Wortgespinst, eine metaphorische Schmährede in assoziativen Sätzen von teilweise atemberaubender Länge ...«
 
Besuch verbeten! von Claus-Ulrich Bielefeld
Über einen geheimnisumwitterten Revolutionär, Journalisten und Bestsellerautor berichtet Claus-Ulrich Bielefeld
 
Die Feindschaft der Neuen Frauen von Birgit Pausch
Birgit Pausch antwortet in einem fiktiven Brief ihren feministischen Kritikerinnen
 
Die siebte Seite des über den Tisch rollenden Würfels von Christian Geissler
Rezension
 
DIE SPEISUNG DER OBERN ZEHNTAUSEND von Oskar Cöster
 
Warum weckt Walser diese Wut? von Ursula Krechel
Rezension
 
Gedichte mit dem Kopf geboxt von Ludwig Fels
Rezension
 
Wortkargheit als literarische Gewalt von Hermann Kant
Rezension
 
Geschichte eines doppelten Scheiterns von Michael Zeller
Rezension
 
Poetischer Text, lyrischer Wildwuchs von Jochen Kelter
Eine Betrachtung zum Lyrik-Boom und zur westdeutschen Poesie der letzten Jahre
 
BRECHTS ERBEN von Johannes Bobrowski
 
Wird Brecht durch Suhrkamp erst schön? von Manfred Béhn
 
Thomas Mann – Leiden an Deutschland? von Walter Boehlich
Rezension
 
Die Summe täglicher Erfahrungen nicht nur in der DDR von Angelika Mechtel
Rezension
 
Die Fußballspieler als Repräsentanten der Arbeiterklasse von Hermann L. Gremliza
Rezensionen
 
Die unwirkliche Wirklichkeit unwirklich werden lassen von Lottemie Doormann
Rezension
 
Mord an Christus und Reich von Pawel Klinger
Rezension
 
Medienliteratur 78: »... geistiger Tod täglich aus tausend Röhren ...« von Karl Pawek
Rezensionon
 
Kopfstand – Philosophie von Hans-Jörg Sandkühler
 
Mimosen im Gewerkschaftsgarten von Ingrid Zwerenz
Ingrid Zwerenz, Mitglied der Tarifkommission Verlage, berichtet über dichtende Gewerkschafter.
 
Die schlaue Krake von Christoph Rodig
Reinhard Mohn - wie fortschrittlich ein Reaktionär sein kann, beschreibt Christoph Rodig
 
Sobota: »Ich bin ein Chauvinist, Madame« von Hartmut Schulze
Hartmut Schulze beobachtete die Präsentation eines Zuhälters, der zur Nutte wurde
 
Wie Vorbeter des Bürgertums von Friedrich Knilli
Friedrich Knilli untersucht die Literatursendungen des Deutschen Fernsehens
 
Anti-Maulkorb von Rudi Bergmann
 
»Verlust heißt Kartoffelsalat« von Horst Tomayer
Horst Tomayer bittet den Autor eines Ratgeber Erfolg-Buches um ganz persönliche Hilfe
 
Kommentierte Bibliografie