Man wird. Jawohl!

An die 2.000 Menschen standen dichtgedrängt im Festsaal des Münchner Hofbräuhauses, als am 24. Februar 1920  die NSDAP gegründet wurde. Und auch  am 9. November 1938 herrschte im Festsaal des Alten Rathauses ein »Riesenbetrieb«, wie Joseph Goebbels in seinem Tagebuch stolz festhielt. Alles wartete darauf, dass der Propagandaminister mit einer kurzen Rede den Anstoß zur  Reichspogromnacht gab. Wenn die unnachahmliche Münchner Gemütlichkeit  ihren Siedepunkt erreicht, sollte man  tunlichst tausend Kilometer davon entfernt sein.

Als kürzlich in demselben Festsaal des Alten Rathauses zu München eine Pressekonferenz zum Thema »Post-Shoah-Antisemitismus« stattfand, herrschte kein »Riesenbetrieb«. Zehn Journalisten verloren sich in dem weitläufigen Saal. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS)  Bayern präsentierte ihre neueste Publikation: »Multidirektionale Angriffe auf die Erinnerung« (online abrufbar unter report-antisemitism.de). Auf 112 Seiten werden die verblüffend vielfältigen Gesichter des gegenwärtigen Antisemitismus (nicht nur in Bayern) vorgestellt und analysiert – vom gelben Stern mit  der Aufschrift »Ungeimpft« bis zum »postkolonial« ummäntelten Antisemitismus der Documenta. Das längste Kapitel dokumentiert die antijüdischen Attacken in Deutschland seit 1945. Es  beginnt mit einer Straßenschlacht zwischen mindestens 1.000 jüdischen Demonstranten und der Münchner Polizei am 10. August 1949. Die Wut der Demonstranten richtete sich gegen einen tags  zuvor in der »Süddeutschen Zeitung« erschienenen Leserbrief eines »Adolf Bleibtreu«, der die überlebenden Juden als »Blutsauger« bezeichnet und bedauert hatte, dass »wir nicht alle vergast haben«.

Die Adolf Bleibtreus von heute formulieren feinsinniger. Zum 50. Jahrestag des Olympia-Attentats in München erschienen zum Beispiel in der »Landshuter Zeitung« Leserbriefe, die das Gezerre um eine Entschädigung der Hinterbliebenen zum Anlass nahmen, endlich wieder das zu sagen, was man ja wohl  noch sagen dürfen wird. Da ist von »Opfermissbrauch, um sich bereichern zu  wollen« die Rede oder von »Schmähung der Opfer durch Raffgier«. Über staatsanwaltliche Ermittlungen gegen Leserbriefschreiber oder Verleger ist nichts bekannt.

Florian Sendtner