Die Kraft, die schafft

Die Dokumentation »Liebe, D-Mark und Tod« erzählt von der Musikkultur türkischer Einwanderer. Von Elena Wolf  

Damit wir zunächst das mal geklärt hätten: Cem Kaya hat den besten Dokumentarfilm des Jahres 2022 über Deutschland gedreht. Mit »Liebe, D-Mark und Tod« ist ihm gelungen, was bisher kein Filmemacher so unterhaltsam geschafft hat: eine Antwort auf die rhetorische Alman-Urfrage zu liefern, weshalb sich »die Türken« nie richtig bei »uns« integriert haben. Kurze Antwort: Weil das die Almans gar nicht wollten. Lange und schmerzhafte Antwort: Weil  Deutschland über 60 Jahre lang systematisch daran gearbeitet hat, türkische Migrantinnen und Migranten zu entmenschlichen, auszunutzen und auszugrenzen, dann aber sie als die Integrierungsunwilligen gebrandmarkt hat, um nachfolgenden Generationen bis heute vorhandene transgenerative  rassistische Traumata zu verpassen. Uff! Kayas Kino-Essay ist angesichts der vielen  deutschen Selbstlügen wie eine schallende Backpfeife.

Es geht um ein unglaubliches Stück deutscher Musikkultur: schillernde Diven, schwule Schmachter, exzentrische Gitarrengötter, millionenfach verkaufte Songs, Protest, Ekstase und Dringlichkeit, die das  Herz eines jeden Kunstfans verschlingensieft, verhelgeschneidert und vertonsteinescherbelt. Die Rede ist jedoch nicht von irgendwelchen Hildegard Knefs, Nina Hagens, Rio Reisers oder Udo Lindenbergs. Die Rede ist von Cavidan Ünal, İsmet Topçu, Yüksel Özkasap, Hatay Engin, Derdiyoklar und Cem Karaca. Letzterer dürfte ein paar Alt-Achtundsechzigern und kosmopolinken Kulturnerds zwar ein Begriff sein, weil seine Band Die Kanaken einst als erste türkische  Band ein Album bei einer deutschen Plattenfirma (Pläne Records) veröffentlichte und Karaca Mitte der achtziger Jahre auch in der deutschen Theaterszene wirkte; von den anderen ward unter Deutschen jedoch nie gehört. Da half es auch nicht, dass die NDW-Band Ideal 1982 das Gedicht »Aşk, Mark ve  Ölüm« von Aras Ören vertonte. Was zur Hölle war da los?

Die Geschichte, die Kaya mit Found Footage aus Spielfilmen, Werbespots, TV-Dokumentationen, Privataufnahmen und Interviews in seiner rauschhaften Collage erzählt, ist nicht nur eine beeindruckende Aufarbeitung der kaum bekannten Musikwelt von Einwanderern aus der Türkei, sondern auch eine Geschichte über das Verhältnis zwischen Deutschen und den sogenannten Gastarbeitern aus der Türkei, die Anfang der sechziger Jahre von der Bundesrepublik angeworben werden, um der boomenden Nachkriegswirtschaft mehr menschliches Fabrikfutter zuzuführen. Hunderttausende kommen nach Deutschland – und mit ihnen ihre Musik, die infolge der Eindrücke, die in Almanya gewonnen werden, ein ganz eigenes Genre entwickelt und zu türkisch-migrantischer Deutschlandmusik wird.

Schon auf den ersten improvisierten  Bühnen in Arbeiterwohnheimen und Teehäusern singen Volksdichter wie Metin Türköz in »Gurbetçi«-Liedern von ihren Lebensumständen in der Ferne, die anfangs von romantischer Abenteuerlust geprägt sind. Doch angesichts der Verheizung von Menschenmaterial in den Fabriken und der durch die Gastgeber erfahrenen Zurückweisung ist der Alltag mehr und mehr von Traurigkeit und Wut gekennzeichnet. Lieder wie Türköz’ »Mayestero« oder »Liebe Gabi« des Folk-Duos Derdiyoklar werden, auf türkischen Hochzeiten, von Tausenden Leuten in riesigen Mehrzweckhallen abgefeiert und verkaufen sich millionenfach; türkische Plattenlabels wie Türküola in Köln oder Türkofon vertreiben zeitweise Tonträger von 600 Sängerinnen und Musikern, vor allem Kassetten. Doch selbst herrliche Paradiesvögel wie die türkische Dolly Parton, Cavidan Ünal,  oder der androgyne Lipgloss-Lover Hatay  Engin, die wie viele andere Sternchen und  Monde ihrer Zeit im Berliner »Türkischen  Basar« – dem bekanntesten Veranstaltungsort für türkische Livemusik bis 1991 – strahlten, sowie ein Dutzend goldene Schallplatten, wie sie Yüksel Özkasap gewinnt, die  »Nachtigall von Köln«, ändern nichts daran, dass sich die deutschen Medien kaum für eine Kulturszene interessieren, die längst  viel zu groß, zu umsatzstark, zu laut und bunt war, um sie nicht bewusst zu übersehen.

Genau das muss sich Deutschland vorwerfen lassen: bewusst weggesehen und -gehört zu haben; sich selbst katatonisch mit dem Mantra belogen zu haben, »kein Einwanderungsland« zu sein, während außer Frage steht, dass der Reichtum des Landes auf dem Rücken von Ausländerinnen und Ausländern gescheffelt wurde; sich nicht  für seine »Gäste« interessiert zu haben, um nicht Gefahr zu laufen, ihnen ein Existenzrecht zugestehen zu müssen, das über das eines Arbeitsesels hinausgeht. Wer jemanden mag, will, dass er bleibt. Wer auf Strohmatten schlafen muss und sich nur in den Toiletten der Fabriken waschen kann, wird diejenigen nicht mögen, die so was zu verantworten haben. Und wer Liedermachern wie  Metin Türköz bei genau diesen vertonten Erlebnissen zuhört, schämt sich vielleicht für sein Land, in dem »Gastarbeiter« in Unterhaltungsshows als fröhliche, aber dummservile Nix-Versteher verhöhnt werden.

1973 ist der Plan, ausländische Arbeiter/innen um des Wohlstands Deutschlands willen auszubeuten und dann wieder heimzuschicken, ohne dass sich die Ausgebeuteten bei ihren Ausbeutern über die Ausbeuterei beschweren, gescheitert. Während Willy Brandt im Fernsehen erzählte, dass man in der Krise zuerst an die »eigenen Landsleute« denken müsse, traf die Ölkrise auf protestierende Türkinnen und Türken beim  Autohersteller Ford, die sich nicht länger wie Sklaven behandeln lassen wollten; »die  Türken« wurden zum Problem. Denn – oh,  Schreck! – »es wurden Arbeiter gerufen, doch es kamen Menschen an«, wie der Protestsänger Cem Karaca zehn Jahre später singt: »Man brauchte unsere Arbeitskraft, die Kraft, die was am Fließband schafft / Wir  Menschen waren nicht interessant, darum blieben wir euch unbekannt.« Und so erzählt  die letzte Episode des Films auch die Geschichte des deutschen HipHops, der ohne die Kinder und Enkel der »Gastarbeiter« überhaupt nicht denkbar wäre und bis heute Zeugnis der Selbstlüge der Deutschen ist, die sogar bei Terroranschlägen wie in Hoyerswerda, Rockstock-Lichtenhagen, Mölln  und Solingen die Schuld bei allen suchen, außer bei denen, die gemordet haben.

»Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod«. Dokumentarfilm. Regie: Cem Kaya, Deutschland 2022, 96 Minuten. Ab 29. September in den Kinos

Elena Wolf schrieb in konkret 8/22 über  das neue Album des Rappers Grim104