Der Schut

Der Bundestagswahlkampf war spannend wie ein Karl-May-Roman – und genauso pubertär. Von Florian Sendtner

Ein Kriegsdienstverweigerer als Bundeskanzler? Vor 40 Jahren, als der ehemalige Offizier der Wehrmacht, Helmut Schmidt in Bonn regierte, wäre diese utopische Aussicht von Udo Lindenberg und Wolf Biermann im Duett besungen worden. Nun ist es soweit. Mit dem Sozialdemokraten Olaf Scholz trat 2021 erstmals ein Kanzlerkandidat an, der Zivildienst geleistet hat. Im Interview mit der »Süddeutschen Zeitung« erzählte Scholz, wie er damals bei seiner Verweigerung argumentiert habe: »Ich habe geschrieben, dass ich alle Bücher von Karl May gelesen hätte, aber die Helden, Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, hätten niemals jemanden getötet.« Diese zutiefst humane Haltung habe er »sehr ausführlich mit christlichen Motiven begründet«. Und dann folgt ein abschließender Satz zu den Indianern und Muselmanen, auf die Karl May beziehungsweise sein Held bei seinen humanitären Interventionen stößt: »Dass die im Laufe der Geschichte manchmal doch zu Schaden gekommen sind, lag nie am Helden.«

Wer denkt da nicht sofort an Kundus? 4. September 2009, Bundeswehroberst Georg Klein lässt zwei von Taliban entführte Tanklastzüge bombardieren, 100 bis 200 Zivilisten, die sich gerade Benzin abzapfen wollen, sterben – und der Bundesgerichtshof stellt am 6. Oktober 2016 fest, Oberst Klein habe »nach Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Aufklärungsmöglichkeiten« nicht erkennen können, dass sich bei den Tanklastern Zivilisten aufhielten.

Generell lässt sich sagen: Dass im Lauf des 20jährigen Aufenthalts des deutschen Militärs in Afghanistan manchmal doch Afghanen zu Schaden gekommen sind, lag nie am Helden, sprich: der Bundeswehr. »Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.« Einer der dümmsten Sätze der deutschen Nachkriegsgeschichte, im Dezember 2002 formuliert vom damaligen Verteidigungsminister Peter Struck (SPD), wird erst im Lichte von Karl May verständlich.

Scholz hat es bislang nur bis zum Arbeits- und Sozial- beziehungsweise zum Finanzminister gebracht, aber er redet wie ein erfolgreicher Verteidigungsminister, der »die mageren Jahre für die Bundeswehr«, für die die Union verantwortlich gewesen sei, endlich beendet habe: »Ich habe den Wehretat massiv erhöht und Investitionen in eine bessere Ausstattung der Bundeswehr erst wieder ermöglicht. Mittlerweile umfasst er etwa 50 Milliarden Euro.«

Und nicht nur Deutschland will Scholz »aus tiefer Überzeugung heraus« weiter aufrüsten, er propagiert auch die Militarisierung der EU: »Die wichtigste Aufgabe für Europa ist es jetzt, selbst auch schlagkräftiger zu werden.« Dabei bezieht er sich auf Joe Biden; in Wahrheit aber erweist er sich als Büttel Trumps. Was für ein Seufzer der Erleichterung ging durch Deutschland, als Donald Trump am 7. November 2020 die Wahl verloren hatte! Zehn Monate später führt ein SPD-Kanzlerkandidat die Umfragen an, der sich Trumps unablässig wiederholte Forderung, Europa im allgemeinen und Deutschland im besonderen müssten ihre Militärausgaben noch mal erheblich steigern, wörtlich zu eigen macht.

Ist das der Grund, warum Anfang September die Zustimmungswerte für Scholz als Bundeskanzler höher sind als die für Armin Laschet und Annalena Baerbock zusammen? Oder woran liegt es, dass die SPD plötzlich wiederauferstanden ist und im ARD-»Deutschlandtrend« zur gleichen Zeit fünf Prozentpunkte vor der Union liegt? Allein am »schlumpfigen Grinsen« des Kandidaten, wie Söder das nennt? Sollte Scholz der erste Bundeskanzler werden, der den Wehrdienst verweigerte, wird er versuchen, diesen Makel durch vorauseilendes Strammstehen vor dem Militär wettzumachen.

Und doch wird alles anders kommen. Denn Scholz ist nur der Strohmann dunkler Mächte, die im Verborgenen längst Rotgrünrot ausgehandelt haben. Die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« brachte es an den Tag. Alle wissen also Bescheid, nur Scholz ist noch arg- und ahnungslos. Er wird die Sache aber durchziehen, weil er die gestrengen Parteichefs von SPD und Linkspartei im Nacken hat, die Strippenzieher, die im Hintergrund bereits alles geregelt haben.

Kurzum: Deutschland erwartet mit Olaf Scholz ein grundpazifistischer Bundeskanzler, der mit Bärentöter und Henrystutzen zum Zwecke der Friedensstiftung weltweit auf humanitärer Mission ist, wobei durch seine Hand selbstverständlich niemand zu Schaden kommt. So scheint’s. Denn in Wahrheit ist Scholz nur die Marionette bolschewistischer Hintermänner, die Deutschland in den Abgrund reißen und die Weltrevolution vom Zaun brechen wollen. Wirklich wahr! Also den Mindestlohn werden sie auf jeden Fall um sieben Cent erhöhen!

Wenn in Deutschland jemand eine Münchhausen-Kanonenkugel abfeuert, sitzen sofort fünf andere mit drauf. Am schnellsten war in diesem Fall Anne Will, die noch am gleichen Tag die schauerliche »FAS«-Enthüllung durchreichte und den im Studio anwesenden Angeklagten Janine Wissler und Norbert Walter-Borjans, den amtierenden Parteichefs von Linkspartei und SPD, unerbittliche Vorhaltungen machte. Was wussten die beiden von den geheimen Abmachungen? Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus jedenfalls wusste so viel: »Wenn Sie Olaf Scholz wählen, wählen Sie einen Linkskanzler.« Zusätzliche Zweifel säte die »FAZ«-Redakteurin Helene Bubrowski, die auf Olaf Scholz keinen Pfifferling geben wollte: »Wieviel hat er eigentlich nach dem Wahlabend zu sagen? Er behauptet, er habe die Zügel in der Hand.«

Tags darauf warnte der bayerische Staats- und Parteichef Markus Söder (CSU) vor einem »Linksruck«, wurde indes unverzüglich von Hubert Aiwanger, dem stellvertretenden Ministerpräsidenten von den Freien Wählern, locker überboten, der eine »DDR 2.0« heraufziehen sah. Kinder, war das ein Wahlkampf!

Florian Sendtner schrieb in konkret 9/21 über Hubert Aiwanger als Vertreter der stänkernden Obrigkeit