Die Erklärbären

Die Zahl sogenannter Experten nimmt inflationär zu. Was ist ihre Funktion? Von Bernhard Torsch

Als der norwegische Neonazi Anders Breivik nach seinem Massaker an jungen Sozialdemokraten und seinem Bombenanschlag in Oslo von der Polizei bereits höflich gebeten worden war, sich festnehmen zu lassen, stand für die atemlose deutschsprachige Liveberichterstattung immer noch fest, dass die Anschläge von Muslimen begangen wurden. Rainald Becker, damals stellvertretender ARD-Chefredakteur mit unter anderem dem Fachgebiet Terrorismus, wusste nichts und wollte doch den Wissenden spielen, also sprach er mit ernster Miene in die Kamera: »Insgesamt spricht vieles bei dem Anschlag in Oslo für einen islamistischen Hintergrund.« »Spiegel Online« ließ immerhin einen norwegischen Nichtswisser nichts wissen, nämlich den »führenden norwegischen Terrorismusexperten Brynjar Lia«, der, während 69 Jugendliche verbluteten, klar die Handschrift Al-Qaidas zu erkennen meinte. So ging das auf allen Sendern, und am Ende des Tages waren sie alle blamiert: die Rechten, die gegen Muslime gehetzt hatten; die norwegische Polizei, die den Terror von rechts nicht hatte kommen sehen; aber vor allem die »Experten«, von denen kein einziger auf das richtige Hütchen gezeigt hatte.

Nach dieser Entzauberung, die genau deswegen eine war, weil die vielen Herren und ganz wenigen Damen Experten zum jeweiligen Zeitpunkt, zu dem sie ihre Expertisen absonderten, keine solchen hatten erstellen können, da es ihnen an Daten mangelte, war die Zunft nicht etwa desavouiert und deren Vertreter reif für Hartz IV. Nein, so wie aus dem stellvertretenden ARD-Chefredakteur Becker ein Chefredakteur mit Stellvertretern wurde, ist kein einziger Fall bekannt, bei dem das zumeist auf einer gefestigten ideologischen Basis aufbauende freie Assoziieren mit abschließender Fehleinschätzung irgendeinen »Experten« den Job oder auch nur die nächste Einladung ins Fernsehstudio gekostet hätte. Das liegt an der Schamlosigkeit der Medienbranche, deren Personal man sich wie eine Ansammlung von Henryk-M.-Broder-Klonen vorstellen muss, ebenso wie an der politischen Funktion, die die »Experten« zu erfüllen haben: ausgestattet mit der Autorität des angeblichen Expertentums die Verbrechen der herrschenden Klasse als alternativlose Naturereignisse oder weises Handeln zugunsten der Allgemeinheit darzustellen.

Dass »Experten«, zumal in Sachen Tagespolitik und Ökonomie, zufällig genau das als Expertise verkaufen, was jenen Finanziers der Think-Tanks, Stiftungen und Privatuniversitäten finanziell nutzt, bei denen sie ihre dick belegten Brötchen verdienen, fällt natürlich auf. So wie es kaum jemandem verborgen bleibt, dass auch dann, wenn die Experten beispielsweise hauptberuflich bei einer NGO mit menschenfreundlichen Zielen arbeiten, die wahre Botschaft hinter 2einem Auftritt im Fernsehen oft lautet: »Bitte spenden Sie!« So inflationär ist der Auftritt von »Experten« als Stichwortgebern im Fernsehen, Gastkommentar-Verfassern in Zeitschriften und Einschlafhilfen in Podcasts, dass mittlerweile die Nachfrage nach Quasslern das Angebot übersteigt und in der Folge dessen die Qualität der Quasseleien stetig weiter sinkt. Konnten Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder noch Wissenschaftler, die an namhaften Universitäten lehrten, zum Verrat an dem, was sie wussten, überreden, so dass der sozioökonomische Irrwitz der Angebotsförderung um jeden Preis auf viele Menschen so wirkte, als sei da etwas dran, rückt heutzutage schon in den Rang eines »Experten« auf, wer als Privatgelehrter ein mittelmäßig erfolgreiches Buch veröffentlicht hat. Wer eine Obsession hat und seine Sinne noch so weit beisammen, dass er Buchstaben halbwegs grammatikalisch richtig aneinanderreihen kann, ist schneller Experte, als das Frühstücksfernsehen ihn anrufen kann.

Dass die Zahl der Experten inflationär zunimmt, hat nicht nur negative Seiten. Irgendwo müssen die vielen Menschen, die dank sozialdemokratischer Reformen studieren können, ja unterkommen und Geld verdienen. Und wer so plemplem ist, dass er nicht einmal als unbeholfener Apologet der bestehenden Verhältnisse nützlich ist, kann immer noch auf Youtube Karriere machen. Dort verdient seit einigen Jahren eine stattliche Anzahl Wahnsinniger viel Geld damit, »Experte« für Ufos, die Flache Erde, Nazi-Flugscheiben und jeden nur vorstellbaren Irrsinn zu spielen. Manche dieser Gegenaufklärer ahmen Gestus und Habitus der TV-Experten nach und basteln sich Kulissen, Jingles und Grafiken, die den »Mainstream-Medien« nachempfunden sind. Andere, wie etwa der inzwischen von Youtube vertriebene US-amerikanische Verschwörungstheoretiker und Merchandise-Verkäufer Alex Jones, brüllen stundenlang reinen Wahn ins Mikrofon und regen sich dabei fürchterlich auf.

Diese »Anti-Experten« sind das Resultat zweier Faktoren: Erstens war die Demokratisierung der öffentlichen Debatte durch das Internet genau eine solche, was die elitären Idealisten aller Parteien und Denkrichtungen vor Ekel erschauern ließ. Denn dass eine – mit der Ausnahme des Themas Sexualität, das verpönt ist – ungefilterte Meinungsäußerung von jedermann im Verbund mit naturgemäß amoralischen Algorithmen, deren einziges Interesse der möglichst lange Verbleib des Medienkonsumenten auf der Plattform ist, das hohe Wahnlevel der Gesellschaften offenbaren und anschließend verstärken würde, konnte ja kein Experte ahnen. Mit Ausnahme wirklicher Medienexperten natürlich, aber die werden nicht ins Fernsehen eingeladen und dürfen nicht für »Bild« vorhersagen, wie das nächste Jahr wird. Zweitens haben sogar weniger aufmerksame Menschen bemerkt, wieviel Unsinn ihnen von denen erzählt wurde, die ihnen als Wirtschafts-, Nahost-, Terrorismus- oder Was-auch-immer-Experten präsentiert wurden. All das »Lügenpresse«-Geschrei und all die »alternativen Fakten« wären wohl auf weniger offene Ohren gestoßen, hätten die Medien nicht tatsächlich immer wieder gelogen und hätten sich die »Experten«, vorgeblich Instanzen des Spezialwissens, nicht selbst fortwährend blamiert.

Die Auflösung des Expertentums im Sumpf der »Sozialen Medien« ist nicht die Ursache für die Zerstörung des Konsenses über die Realität, sondern die logische Entwicklung in Gesellschaften voller Murdoch- und Springer-Zeitungen. Und: Ob mir der »Experte«, der von geheimen Alien-Stützpunkten am Mars fabuliert, so viel unsympathischer ist als der, der die Pauperisierung und Enteignung der Arbeiterklasse zugunsten einer Handvoll Milliardäre als unumgängliche Konsequenz der Verhältnisse zeichnet, habe ich für mich noch nicht abschließend beantwortet.