VON konkret

Beginnend mit diesem Heft variiert der Umfang von Politik- und Kulturteil. Außerdem entfallen die Kurzrezensionen von Büchern, Platten und Filmen zugunsten ausführlicherer kulturpolitischer Stücke. Die Rubrik »Kunst und Gewerbe« übernimmt unser Autor Stefan Gärtner. Das Heft endet versöhnlich mit dem »Letzten Dreck«, also mit einem Verriss.

 

Menschen, die sich sexuell an Kindern vergehen, sind diejenigen Straftäter, die, ließe man den Mob walten, zuerst gelyncht würden – und zwar unabhängig davon, ob sie ihre Strafe verbüßt haben oder nicht. Selbst Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, aber ihrem Begehren nie nachgeben, wünscht die Gesellschaft, statt ihnen für den lebenslangen Kampf gegen das eigene Begehren dankbar zu sein, Sicherheitsverwahrung und Schlimmeres. Es ist bezeichnend für den deutschen Rechtsstaat, den verlängerten Arm des Volkszorns, dass seine Antwort auf das vermehrte Aufdecken von sexualisierter Gewalt gegen Kinder weniger in Maßnahmen, sie zu verhindern, als in höheren Strafen liegt.

Im Gegensatz zum »gesunden Volksempfinden« hatten die Autoren des seit 1979 erschienenen Sonderhefts »Sexualität konkret« immer wieder darauf hingewiesen, dass pädophiles Begehren kein Verbrechen sei und man denen, die es spüren, helfen müsse, nicht straffällig zu werden. Leider ließ man auch den Sozialpädagogen Helmut Kentler diese Schraube progressiver Sexualpolitik so fest anziehen, dass sie wieder locker wurde: Kentler hatte über Jahre in Kooperation mit der Stadt Berlin und ihren Jugendämtern Kinder und Jugendliche an zum Teil wegen sexualisierter Gewalt gegen Kinder vorbestrafte Männer mit der Begründung vermittelt, die Kinder bräuchten Liebe, die nur diese Männer ihnen geben könnten.

Nachdem Mitte Juni dieses Jahres ein Untersuchungsbericht zum Fall Kentler erschienen war, hat die Stadt Berlin jetzt Entschädigungszahlungen für zwei Männer in Aussicht gestellt, die damals an einen Mann vermittelt worden waren, der sich jahrelang an ihnen vergangen hatte. Wie meistens, kann auch in diesem Fall niemand behaupten, er habe nichts gewusst. Kentler hat seine Überzeugungen stolz verbreitet, leider auch in »Sexualität konkret«, wo er 1980 schreiben durfte:

Man verstehe mich richtig: Gerade weil ich will, dass alle Kinder am Leben bleiben, bin ich dafür, dass die Gefahren, die sie bedrohen, nicht falsch eingeschätzt werden. Sie lauern nicht hinter Spielplatzbüschen oder hingehaltenen Bonbontüten, sondern auf Autostraßen und bei Eltern, die ein unerwünschtes Kind haben. Der Mann, der »sich an Kinder heranmacht«, ist im allgemeinen nicht böse und auch kein Fremder. Meist mag er das Kind wirklich. Er will dem Kind etwas geben, worauf er, als er Kind war, verzichten musste: Liebe. Indem er dem Kind etwas Gutes tut, versucht er, etwas an seiner eigenen Kindheit gutzumachen. Pädophile ziehen sich meist sofort zurück, wenn das umworbene Kind die geringste Ablehnung zeigt. Die Vorstellung, Pädophile seien gewalttätig und würden von den Kindern sexuelle Handlungen erzwingen, beruht nicht auf Tatsachen; sie entspringt unserer Ideologie, nach der Kinder unsexuell zu sein haben. Wir können uns nicht vorstellen, dass Kinder Spaß an Sexualität haben und darum von sich aus sexuell aktiv werden.

Es gibt zum Glück nicht viele in konkret beziehungsweise in »Sexualität konkret« erschienene Texte, die besser nicht erschienen wären. Dieser gehört dazu.

 

Ein Sondertribunal in Den Haag hat Anklage gegen Hashim Thaçi erhoben. Dem Präsidenten des Kosovo und früheren politischen Sprecher der völkischen Guerillaorganisation UÇK werden Kriegsverbrechen und »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« zur Last gelegt, was den Westen nicht daran gehindert hat, ihn jahrelang zu hofieren. Hermann L. Gremliza hat zu Thaçi und dessen Zukunft schon in konkret 11/99 alles Wesentliche gesagt:

Der UÇK-Chef Thaçi, beispielsweise, der ein Bandit ist, verhält sich zu seinen Bonner und Washingtoner Förderern wie der Türsteher zum Bordellchef. Wird er lästig, werden sie mit ihm verfahren wie mit ihrem Agenten Noriega oder mit ihrem Augusto Pinochet, den sie zum Sturz Allendes und zur Vernichtung der Unidad Popular ausgesucht, installiert, gepriesen hatten (seitenlang riefen die »Frankfurter Allgemeine« und die »Welt« damals, als er Kommunisten gefesselt aus Hubschraubern ins Meer werfen ließ, Pinochets politische Leistung aus) und heute von ihren Schreibstiften niedermachen lassen.  

Wie schnell die Herren der Menschenrechte ihre Gunst entziehen können, zeigte sich, als die größte Zeitung der westlichen Welt den Krieg, der zugunsten der vergewaltigten, vertriebenen, massakrierten, immer nur leidenden Albaner geführt worden war, mit der Schlagzeile »Albaner-Willy, Hamburgs gefährlichster Zuhälter« beendete und ein Bundesinnenminister, der einst die deutsche Guerilla verteidigt hatte, die umgehende Abschiebung aller in Deutschland lebenden Albaner ankündigte.

 

Korrektur zu Heft 7/20: In Stefan Ripplingers Stück über die Schriften von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub wird einer der Herausgeber irrtümlich Tobias Herold und nicht, wie es richtig wäre, Tobias Hering genannt.