VON konkret

Ein Aphorismus braucht nicht wahr zu sein, aber er soll die Wahrheit überflügeln. Er muss mit einem Satz über sie hinauskommen.« (Karl Kraus: Sprüche und Widersprüche) Das gilt auch für konkret-Titel. Der aktuelle unterstellt dem Staat und seinen Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung eine Form offener Brutalität, die es hierzulande (noch) nicht gibt. Aber er beschreibt autoritäre und letale Tendenzen, die sich am Umgang von Klassengesellschaften weltweit mit einer Pandemie erkennen lassen: die Verabschiedung von Notstandsgesetzen, den Einsatz von Militär im Inneren, das Drangsalieren von Armen und Obdachlosen, das Vernachlässigen von Datenschutzbestimmungen, die Rückkehr der Kriegsmedizin in privatisierten Krankenhäusern …

In Deutschland ist die Corona-Zeit eine schöne Zeit, in der die Mittelschicht stolz sein kann auf ihr Land und auf das eigene Vermögen, in allem das Gute zu sehen: »Endlich: Wir haben die Lizenz zum Entschleunigen«, freut sich das »Hamburger Abendblatt«, und auch die übrigen Kanäle machen den Dienstleister für den autoritären Staat: Es sei eine große Chance, so viel Zeit zu haben. Nur – Zeit und das nötige Kleingeld, sie entspannt zu verbringen, hat auch jetzt lediglich, wer privilegiert ist.

Die Beschränkungen, die der deutsche Staat im Namen der Pandemie den Landsleuten auferlegt, haben nichts »Gutes«, sie verlangen der Mehrheit aber auch nichts ab, was die Mär vom solidarischen Opfer, das die junge Generation der älteren bringt, rechtfertigte – man muss schon für die »Tageszeitung« schreiben, um sich angesichts geschlossener Buch- und Plattenläden an den Holocaust erinnert zu fühlen: »Kultur ist lebenswichtig. Selbst in Konzentrationslagern gab es vereinzelt kleine Orchester und Theatervorführungen, weil das den Menschen Hoffnung gab.« Trotzdem sind die Deutschen stolz darauf, sich den Hintern auf dem eigenen Sofa plattzusitzen und »cool« (Ulf Poschardt in der »Welt«) zu bleiben angesichts einer Krankheit, die gefährlich vor allem für die ist, die sie zuvor ins Pflegeheim abgeschoben haben.

Was auf die Alten und Kranken zukommt, ist nicht schwer vorherzusagen. Sie werden beschützt, also weggesperrt werden. Die Propagandamaschinerie läuft bereits auf Hochtouren, damit die Jungen, die in »Vorleistung« (Plasberg) getreten sind, nicht länger »leiden« müssen. An vorderster Front zitiert die Presse eine Handvoll Kronzeugen: Springers Hetzblatt etwa Unternehmerinnen und Politiker 70+: »Wir wollen zu Hause bleiben! … damit die Jungen eine Zukunft haben und die Wirtschaft nicht kollabiert«. Einer von ihnen, Jürgen Hambrecht (73), als Aufsichtsratschef des weltweit größten Chemiekonzerns Experte für die dreckigsten Geschäfte, wird plötzlich zimperlich: »Meinen gerade geborenen Enkel nicht besuchen zu können, schmerzt mich sehr. Auch mit Freunden bergsteigen fehlt mir. Aber im Vergleich zu den herzzerreißenden Bildern von überall in der Welt ist das verkraftbar.« Auch andere wollen verzichten: SAP-Gründer Dietmar Hopp (79) darauf, »mit Kindern und Enkeln in Terre Blanche, Südfrankreich, zu feiern«, und Ex-Bundesinnenminister Otto Schily (87) auf den »Frühjahrsaufenthalt in der Toskana«.

Noch schlimmer auch hier die »Tageszeitung«: Dort berichtet eine Autorin unter dem Titel »Isolation in der Coronakrise: Sperrt uns ein!« von »langen, nachdenklich machenden, aber auch sehr fröhlichen Gesprächen am Telefon« mit Rentnern, über die man »noch so gern so viel mehr erfahren würde, über ihre Leben, und vor allem würde man sie gern sehen, sie besuchen fahren, persönlich mit ihnen sprechen«. Grundsympathisch sind sie ihr, weil sie in E-Mails an die »Taz« die »Selbstisolation« der Älteren gefordert und geschrieben haben sollen: »Dass Unmengen von Menschen in die Vernichtung ihrer materiellen Existenz getrieben werden durch Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Insolvenz etc. Während wir, die Alten von heute, die reichste Rentner- und Pensionärsgeneration sind, die Deutschland je hatte! Die Alten, die luxuriöse Kreuzfahrten machen und in eigenen Immobilien leben. Die über Alterseinkünfte verfügen, die oftmals exorbitant über dem mageren Einkommen alleinerziehender Mütter liegen. Die den Jungen eine klimaverwandelte Erde hinterlassen, auf der diese kaum noch überleben können. Wir schämen uns für unsere reiche Altengeneration, die die Jungen über jedes erträgliche Maß hinaus belastet.« Eine Gesellschaft, die solche Kritiker/innen hat, kann sich Lobbyisten und Regierungssprecher sparen.

Verlag und Redaktion bedanken sich bei den vielen Leserinnen und Lesern, die im letzten Monat ein konkret-Abo abgeschlossen und uns damit geholfen haben, die Verluste, die durch die Schließung der Buchhandlungen und den Rückgang der Kioskverkäufe entstanden sind, abzufedern. Abo-Bestellungen und auch Spenden sind selbstverständlich weiterhin willkommen. Auch dieses Heft können Sie in gedruckter Form oder als PDF – letzteres für 6,50 Euro – direkt beim Verlag bestellen.

Ende Mai erscheint die Neuauflage von Hermann L. Gremlizas Buch Haupt- und Nebensätze als Band 78 der konkret texte-Reihe. Sie können das Buch ab Anfang Mai im Verlag bestellen.