Das Virus und der Wert

Warum es falsch ist, die ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie als weiteres Kapitel in der Geschichte kapitalistischer Krisen zu behandeln. Von JustIn Monday



Dass die gesamte Bevölkerung als krank zu gelten hat und zu Hause bleiben soll, obwohl individuell betrachtet fast alle arbeiten könnten, ist ein Zustand, den der ökonomische Sachverstand nicht lange erträgt, ohne Symptome zu entwickeln. Der Shutdown zur Eindämmung des Corona-Virus hat nun auch diese Inkubationszeit messbar gemacht: Exakt elf Tage nach seiner Verkündung plapperte einer seiner Denkapparate dem »Spiegel« auf die Website, dass »jede weitere Woche mindestens 35 Milliarden Euro an entgangener Produktion« koste. Geld dürfe daher »keine Rolle spielen, wenn es darum geht, eine Verlängerung des ›Shutdowns‹ zu verhindern«. Wie etwas, das nicht stattfindet, Kosten verursacht, wurde selbstverständlich nicht erklärt.

In die gleiche Kerbe schlug das Institut für Weltwirtschaft (IfW), das die autoritäre Seele seiner wirtschaftsliberalen Ausrichtung bereits dadurch verrät, dass es keinen Chef der Abteilung für Konjunkturforschung hat, sondern einen »Konjunkturchef«. Und der wiederum gab die Weisung aus, dass »die Erholung der Produktionsprozesse einsetzen« könne, »sobald aus dem bedrohlichen Phantom ein berechenbares Phänomen geworden ist«. Weswegen sich das Institut in Übereinstimmung mit dem Interviewpartner des »Spiegel« dafür aussprach, die reale Gefahr für den Produktionsprozess durch Ansteckung am Arbeitsplatz mit Hilfe von Massentests messbar zu machen. Dass dagegen die Ansteckungsgefahr in der Freizeit noch lange durch Ausgangsbeschränkungen gebannt werden müsste, hielten beide für ganz selbstverständlich.

Das Vorhaben, »die Wirtschaft« zu priorisieren und die Freizeit hintanzustellen, wird allerdings selbst bei noch so bösem Willen gar nicht so einfach durchzuführen sein. Die Absicht drückt zwar die gesellschaftliche Hierarchie und damit die innere Komposition der Triebstruktur der dem Leistungsprinzip unterworfenen Individuen treffend aus, aber längst sind die Besitzer/innen der Ware Arbeitskraft auch als Konsumenten und Konsumentinnen unverzichtbar, sei es im Stadion oder bei Ikea. Was für die einen die Sozialkontakte in der Freizeit einschränkt, verbietet den anderen die Betätigung ihres Arbeitsvermögens.

Was aber hat der gegenwärtige Zustand mit einer Krise im ökonomischen Sinne zu tun? Zunächst einmal sahen sich die Verantwortlichen gezwungen, Kosten nicht für die möglichst schnelle Beendigung des Shutdowns entstehen zu lassen, sondern dafür, ihn so lange wie möglich durchzuhalten. Und weil diese Kosten höher zu sein scheinen als während des Kriseneinbruchs von 2007/08, wähnen sie sich wieder im Krisenmodus und greifen zu den Mitteln, die ihnen damals als wirkmächtige Instrumente gegen fallende Aktienkurse, Massenpleiten etc. vertraut geworden sind. So soll etwa der Euro-Rettungsschirm ESM eingesetzt werden, und auch der Streit um die Aufnahme gemeinsamer Schulden durch die Europäische Union ist wieder entbrannt. Die früheren Euro-Bonds heißen jetzt Corona-Bonds.

Obwohl selbstverständlich auch heute Aktienkurse fallen, Massenpleiten drohen und das Bruttosozialprodukt schrumpfen wird, hält die Krisenrhetorik einer genaueren Betrachtung nicht stand. Die Phänomene haben nur etwas gemeinsam, solange sie bloß quantitativ gemessen, statt in ihrem Zusammenhang betrachtet werden. Es ist falsch, die ökonomischen Folgen von Corona als weiteres Kapitel in die Geschichte der kapitalistischen Krisendynamik aufzunehmen. Ganz im Gegenteil handelt es sich hier um eine der seltenen Situationen, in denen der systematisch krisenblinde politökonomische Betrieb eine Krise diagnostiziert, obwohl es im diskutierten Zusammenhang gar keine gibt.

Einer der simpleren Gründe für die Übererfüllung des Plansolls an Krisendiagnosen dürfte darin liegen, dass hier vorzufinden ist, was sonst unter Aufbietung aller zur Verfügung stehenden Selbstbetrugstechniken erst herbeischwadroniert werden muss: eine den ökonomischen Prozess äußerlich einschränkende Ursache, die in letzter Konsequenz geeignet wäre, ihn stillzustellen. Endlich bekommen die »Konjunkturchefs« also mal eine »Rezession« vorgelegt, deren Eintritt mit den inneren Widersprüchen der Kapitalverwertung nichts zu tun hat, weswegen sie ihnen nicht völlig schleierhaft ist. Und wenn die jetzige »Krise« von der Nichtverfügbarkeit der Arbeitskraft herrührt, ist das dann nicht der Beweis dafür, dass die vorherigen verursacht wurden, weil sich eben diese Arbeitskraft auf dem Markt nicht zu jedem Preis anbieten wollte?

Selbstverständlich nicht. Krisen produziert der Kapitalismus nicht aufgrund äußerer Umstände, sondern weil er dem ihm immanenten Sachzwang effizient folgt. Covid-19 ist hingegen nichts, was auch nur im Entferntesten zwingend hervorgebracht worden ist.

Dass die zu bekämpfenden ökonomischen Folgen quantitativ gemessen identisch mit denen einer Krise zu sein scheinen, liegt wiederum daran, dass der Wert, der da quantifiziert wird, verdinglichte Arbeit und in beiden Fällen ein Rückgang ihrer Anwendung zu verzeichnen ist. Für den Begriff der Krise kommt es aber nicht allein auf die unzureichende Anwendung von Arbeitskraft zu einem bestimmten Zeitpunkt an. Auch der Umfang des Produktionsausfalls spielt keine Rolle, solange der nicht so groß ist, dass die Reproduktion der Arbeitskraft selbst nicht mehr gelingen kann. Aber davon ist er heute weit entfernt. Wesentlich ist vielmehr, ob die unzureichende Anwendung von Arbeitskraft aufgrund einer objektiven Produktivkraftsteigerung auch in Zukunft zwingend ist oder nicht.

Ist dies der Fall und kann zudem die freigesetzte Arbeitskraft nicht an anderer Stelle absorbiert werden, kommt es zum Kernphänomen der Krise: der Entwertung von Kapital in einem Umfang, der die Reproduktionsfähigkeit des Gesamtkapitals gefährdet. Im Fall der zeitweise nicht anwendbaren, prinzipiell aber weiterhin gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen Arbeit kommt es demgegenüber nicht zur Entwertung. Zwar steht hier ebenfalls das Sachkapital vorerst ungenutzt herum. Seine Anwendung ist aber nicht liquidiert, weil es aufgrund von Überakkumulation unrentabel geworden ist, sondern nur auf unbestimmte Zeit verschoben. In den meisten Fällen wird es weder verschlissen noch vergammeln. Vermutlich wird sogar ein Großteil der jetzt ausgefallenen Nachfrage in Zukunft nachgeholt werden.

Demgegenüber wird das Klopapierkapital nur Scheinprofiteur der gegenwärtigen »Krise« sein, denn dem Rekordumsatz werden Rekordabsatzschwierigkeiten folgen, sobald die gehamsterten Vorräte aufgebraucht werden. Und weil das Virus dem Kapital den Gefallen tut, gleich die ganze Welt krankzuschreiben, werden sich auch keine allzu großen Verschiebungen im Konkurrenzverhältnis ergeben; dass darauf dennoch alle hinarbeiten, ändert hieran nichts.

Das ganze Drama erscheint überhaupt nur deshalb auch im ökonomischen Sinne so groß, weil die Existenz der einzelnen mit Hilfe von zumeist keynesianischen Krisenlösungsstrategien gesichert werden soll, die einmal erdacht wurden, um dem Verwertungszwang, der historisch an seine Grenzen gekommen ist, eine Zukunft zu geben. Die staatlich organisierte Produktion von Liquidität hat Wesen und Umlauf des Geldes so modifiziert, dass die Absorption zusätzlicher Arbeit zumindest prinzipiell möglich wurde. Völlig unabhängig aber von der gesamtgesellschaftlichen Irrationalität und den Grenzen dieser Mittel sind sie der gegenwärtigen Situation unangemessen. In dieser sind sie insofern widersinnig, als sie in dem Moment, in dem sie wirken und zusätzliche Arbeit ermöglichen, sofort wieder ausgesetzt werden müssen. Diejenigen Spezialfälle, die gerade Kredit brauchen, um beispielsweise Beatmungsgeräte zu produzieren, bekämen den auch ohne Staatsgarantien. Durch die Kreditbeziehungen und damit die Schulden, die bei der Produktion von Liquidität entstehen, entsteht zusätzliches, das heißt von permanenter Inflation begleitetes Geld, das nötig ist, damit der Wert der zusätzlichen Produktion umgeschlagen werden kann, und die Kreditzinsen sorgen dafür, dass der dabei anfallende Mehrwert zu seinen Aneignern und Aneignerinnen gelangt.

Die derzeit stillgelegten Arbeitskraftquanten produzieren aber nicht einmal das, wofür sie vorgesehen waren und für dessen Realisierung bereits Kreditbeziehungen bestehen. Der Stillegung entsprechen daher nicht diejenigen staatlichen Maßnahmen, die zur Überbrückung Liquidität schaffen sollen und dabei wie das Kurzarbeitsgeld, die Kreditabsicherungen und die Unterstützungszahlungen an Selbständige Schulden im Staatshaushalt hinterlassen. Ihr entsprechen vielmehr diejenigen, die Liquiditätsmangel temporär erlauben. So hat die Bundesregierung beispielsweise beschlossen, dass Darlehensverträge, die aufgrund der Corona-Pandemie nicht bedient werden, vorerst nicht mehr gekündigt werden können und um drei Monate verschoben werden. Auch das Insolvenzrecht ist so modifiziert worden, dass Insolvenzantragspflichten verschoben werden können. 2008 ist man genauso verfahren, hat damit allerdings verleugnet, dass die damalige Krise tatsächlich auf die dauerhafte Stillegung von überakkumuliertem Kapital drängte und weiter drängt.

Die spektakulär angekündigten Maßnahmen, mit denen sich der Staat derzeit mehr denn je als potenter Geldgeber aufspielt und »die Bazooka« (Olaf Scholz) auspackt, folgen der Logik des Liquiditätsaufschubs höchstens implizit. Denn es wird so getan, als könnten die mit neuer Liquidität abgelösten Kredite so bedient werden, als wären die Annahmen, die in ihren Bedingungen fixiert sind, korrekt gewesen. In den Fälligkeitsdaten von Zins- und Tilgungszahlungen kommt aber zum Ausdruck, dass die Bedeutung einer Einheit Arbeit (zum Beispiel eine Stunde) gesamtgesellschaftlich und vom Stand der Produktivität bestimmt ist. Ähnliches gilt für die Mieten. Zusammengenommen wird so durch den Verwertungsprozess selbst diktiert, in welcher Zeit er vollzogen werden muss – mit der Tendenz zur Beschleunigung. Wer sich mehr Zeit nimmt, wird mit höheren Kreditkosten bestraft, weil entsprechend länger verzinst werden muss. Dies sind die Bedingungen der eingangs zitierten Klage darüber, dass »entgangene Produktion« Kosten verursacht.

Das aber ist purer Subjektivismus. In dem Maß nämlich, in dem die Verzögerung objektiv ist, entstehen überhaupt keine Kosten. Mit dem Shutdown ist festgelegt worden, dass nicht einzelne Produktion, sondern der gesamte Verwertungsprozess nicht in der Zeit vollzogen werden kann, die er sich selbst diktiert hat. Statt dessen braucht es einen noch unbestimmbaren Zeitraum X länger. Was vor allem heißt, dass die Arbeitskraft länger reproduziert werden muss, denn im Gegensatz zur toten Arbeit, also etwa dem ohne Verschleiß auf dem Rollfeld stehenden Flugzeug, ist sie weiterhin auf Mittel zu ihrer Reproduktion angewiesen – wenn auch auf niedrigerem Niveau als üblich, denn der kulturindustrielle Konsum ist ja auf Netflix beschränkt. Die Bedingungen des Kredits sind daher in nahezu allen momentan laufenden Kreditverträgen schlichtweg falsch fixiert, weswegen die Ansprüche auf Zahlung nicht in der vereinbarten Höhe, aber zum vereinbarten Zeitpunkt illegitim werden – und zwar nicht von irgendeinem moralischen Standpunkt aus, sondern vom Standpunkt der Kapitalverwertung selbst.

Die zeitweilige Einstellung aller Forderungen aus Schuldverhältnissen wäre daher genauso konsequent, wie es die Forderung des Handelsverbandes ist, für den Zeitraum X Mietzahlungen um 50 Prozent zu mindern. Das ist nicht empörend unsolidarisch, wie zunächst unterstellt wurde. Eher ist die Empörung selbst eine seltsame Form der Solidarität mit den Grundeigentümern und Grundeigentümerinnen. Problematisch ist allein, dass dies (zumindest bis Redaktionsschluss) noch niemand zur Forderung verallgemeinert hat, sämtliche Mietzahlungen auszusetzen – auch die privaten, und unabhängig davon, ob gezahlt werden könnte. Das deutsche Gesetz sieht bislang nur Kündigungsschutz vor, die »Verpflichtung zur fristgerechten Zahlung« soll jedoch prinzipiell bestehen bleiben. Eine solche Forderung hätte mit Enteignungen herzlich wenig zu tun, sondern entspräche bloß der Verhinderung einer Aneignung von Wert, den es gar nicht gibt, weil er nicht produziert werden konnte. Immobilien sind, wenn keine Verwertung stattfindet, nichts wert, sondern bloß recht praktisch, wenn es regnet.

Das wäre, um es noch einmal zu betonen, keine in irgendeiner Weise radikale Forderung, sondern bloß die rechtliche Anerkennung der Folgen der bereits getroffenen Entscheidungen für die ureigensten Prinzipien der Kapitalverwertung. Daher ist es nicht überraschend, dass die Entwicklung in diese Richtung drängt. Allerdings sind die Hindernisse auf diesem Weg nicht gerade unwesentlich. Zum einen kennt diese Gesellschaft keine Institutionen, die in der Lage wären, zufällig ungleich Betroffene gleich betroffen zu machen, das heißt dafür zu sorgen, nicht alle Forderungen, sondern alle Forderungen zu dem Anteil, zu dem die Arbeit tatsächlich stillgestellt wurde, aufzuschieben. Zudem müssten die Zahlungen, da die Kreditbeziehungen international sind, im internationalen Konsens ausgesetzt werden.

Zum anderen stehen dem derzeit kapitallogisch notwendigen Liquiditätsaufschub ideologische Gründe im Weg. Denn auch wenn die Vertagung aller Zahlungen in der Natur der Sache liegt, ist das nichts, was das fetischistische ökonomische Wissensregime einzusehen erlaubt. Aus den gleichen Gründen, aus denen 2007 ff. nicht eingesehen wurde, dass die Krise nicht in der Finanzsphäre entstanden ist und in die »Realwirtschaft« überzugreifen drohte – sondern umgekehrt –, wird heute nicht eingesehen, dass die Schwierigkeiten in der Produktion die Finanzsphäre beeinflussen müssen. Nur weil die Titel an den Finanzmärkten inzwischen Finanzprodukte heißen und sich auch gut vom Homeoffice aus handeln lassen, stellen sie noch lange keine eigenständigen Waren dar, die »Gott sei Dank nicht so betroffen sind« wie die Warenproduktion mit Anwesenheitserfordernis. Um den Zusammenhang zu begreifen, müsste aber mindestens die liberale Variante der Arbeitswertlehre anerkannt werden. Die aber ist von der Volkswirtschaftslehre schon lange in Quarantäne geschickt worden.

Statt dessen changiert die Öffentlichkeit zwischen Stolz auf die ökonomische Macht des Staates und Panik angesichts der finanziellen Folgen: »Wer soll das am Ende alles bezahlen?« Dass die Antwort ein schlichtes »Niemand« sein kann, scheint undenkbar. Finanzminister Scholz hat bei der Präsentation des deutschen »Hilfspakets« das Argument plaziert, dass all die Hilfsmaßnahmen nur möglich seien, weil er in der Vergangenheit so diszipliniert auf der jetzt gelösten Schuldenbremse stand. Wie gut, dass »unser« hart erarbeiteter Kredit an den Finanzmärkten nicht schon vorher für Sozialausgaben verplempert wurde. Das ist selbstverständlich nichts als Demagogie, die in dem Moment, in dem die Abhängigkeit des Kapitals von der Arbeit deutlich wird wie selten, die Abhängigkeit der Arbeitskraft vom Staat zelebriert.

Wenn die Linksparteien aller Länder nun behaupten, ihre üblichen »Konzepte« wie Verstaatlichungen oder das bedingungslose Grundeinkommen seien zur Bewältigung der »globalen historischen Krise«, die beispielsweise der rotrotgrüne Think-Tank Institut Solidarische Moderne diagnostiziert, besser geeignet, konkurrieren sie um die Autorität im autoritären Staat. »Der Ausnahmezustand«, schreibt das Institut, bestätige »schmerzhaft die gegen das neoliberale System auch von uns seit Jahren schon geleistete Kritik«. Was soll das? Sollte das stimmen, sollten die dafür Verantwortlichen nicht die Morgenröte aufziehen sehen, sondern peinlich berührt sein, denn das wäre der Beweis, dass sie seit Jahrzehnten nichts anderes propagieren als alternative Konzepte zur Verwaltung von Mangel.

Die passen aber gar nicht, weil die autoritäre Macht, die der Corona-Ausnahmezustand induziert, nicht krisenhaft spät-, sondern frühkapitalistischen Wesens ist. Sie zielt auf erneute Transformation der einen Moment lang wieder unbeherrschten Natur in fetischistisch herrschende. Im Zeitraffer – weil auf dem Stand der heutigen Produktivkräfte – wird die disziplinierende Gewalt aktualisiert, die einst die hörigen Körper schuf, die anschließend humanistischer Rücksichtnahme würdig erachtet werden können. So wird Ausgangssperre Menschenrecht.

JustIn Monday schrieb in konkret 12/19 über einen weiteren Akt im Brexit-Drama