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Die Beteuerungen linker Feinde Israels, keine Judenhasser zu sein, sind ohne Substanz. In der Sprache, mit der sie die Mordbrennerei der Hamas »kontextualisieren«, steckt ein Antisemitismus, der sich für moralisch überlegen hält, weil er auf offene Diskriminierung der Juden verzichtet. Von Peter Straß

Es gehört inzwischen zum guten Ton eines bestimmten linken Milieus, Barbarei nicht nur zu relativieren, sondern sie moralisch zu verklären. Stefan Gärtner hat in seiner Kolumne »Wir oder sie« (konkret 9/25) eine treffende Beobachtung gemacht: Die Hamas wird sprachlich entlastet. Aus Vergewaltigern und Mördern werden »militante Kämpfer«, aus Massakern werden »Aktionen«, aus antisemitischer Vernichtungsschuld wird ein Befreiungsnarrativ. Gärtner beschreibt, wie die Sprache die Täter entlastet. Doch ein entscheidender Punkt fehlt: Die Entlastung ist kein Versehen und keine semantische Schlamperei. Sie ist das Symptom eines politischen Begehrens.

Es gibt einen linken Antisemitismus, der sich für tugendhaft hält. Jean Améry hat diese Figur als den »ehrbaren« Antisemiten beschrieben, der nicht hetzt, sondern erklärt. Der sich nicht empört, sondern relativiert. Der nicht hasst, sondern »einordnet«. Er braucht keine Schmähungen, er braucht nur einen Diskurs. Heute heißt dieser Diskurs Antizionismus. Man muss nicht einmal mehr Jude sagen. Israel genügt.

Die Struktur ist immer gleich: Das Leiden einer anderen Gruppe wird zur moralischen Münze, mit der antisemitische Aggression legitimiert wird. Das Muster lautet: »Die Palästinenser sind Opfer. Israel ist Macht. Macht ist Unrecht. Und wer Unrecht bekämpft, kann nicht Unrecht tun.« Sobald diese Gleichung steht, ist jede Gewalt moralisch abgedeckt. Der Diskurs hat sein Reinigungsprogramm gestartet.

Dan Shueftan nennt Systeme, die Gewalt moralisch adeln, barbarisch. Barbarei ist bei ihm nicht das Fehlen von Bildung,
sondern die Präsenz eines politischen Modus: Gewalt ist legitim, weil der Gegner grundsätzlich illegitim ist. Wer sich auf die moralische Seite des Opfers stellt, darf jedes Mittel verwenden. Die Barbarei ist nicht irrational. Sie folgt einer Logik. Und aus dieser Logik folgt eine Ethik, die keine Verantwortung kennt.

Adorno und Horkheimer haben in Dialektik der Aufklärung (1947) beschrieben, dass Barbarei nicht verschwindet, wenn man sie moralisiert. Sie wird nur denkfein gemacht. Das Vokabular wird erhaben, das Vernichtende bleibt erhalten. Der barbarische Impuls kleidet sich in Moral, nicht in Raserei. Er sagt nicht: Die Juden müssen sterben, sondern: Die Palästinenser dürfen sich wehren. Und wenn sie sich wehren, dürfen sie alles.

Das aktuelle linke Projekt teilt mit dem barbarischen Regime nicht die Praxis, aber die Semantik. Es muss nichts sprengen, es reicht, das Sprengen zu erklären. Es muss nicht töten, es genügt, die Tötung als »Reaktion« zu interpretieren. Es muss nicht Hass formulieren, es reicht, die Hassenden zu kontextualisieren. So entsteht die moralisch gereinigte Zustimmung zur Gewalt.

In dieser Struktur liegt der Übergang vom Antizionismus zum Antisemitismus: Alles, was Juden zur Verteidigung ihres Lebens tun, erscheint als Aggression. Alles, was ihre Feinde tun, erscheint als Notwehr. Der Jude wird nicht mehr als Opfer denkbar. Das ist keine Positionierung im Nahostkonflikt, sondern eine epistemische Entscheidung: Wer Gewalt gegen Juden erklärt, hat sie mit dem Akt der Erklärung bereits legitimiert.

Dass sich diese Haltung inzwischen in Universitäten, Kultureinrichtungen und sozialen Bewegungen festsetzt, ist kein Zufall. Sie passt zu einer politischen Selbstbeschreibung, die sich selbst nur im Modus der moralischen Überlegenheit denken kann. Der Judenhass ist nicht das Verdrängte, sondern das Komplement: Man kann nicht gegen die Macht sein, ohne sich die Macht an einem Objekt zu veranschaulichen. Der Ju-de bleibt die ideale Projektionsfläche; kein anderer Gegner erlaubt gleichzeitig moralische Selbstüberhöhung und politische Folgenlosigkeit.

Der linke Antizionismus ist kein Reflexionsdefizit. Er ist eine Entscheidung. Man muss sich aktiv weigern, die Realität jüdischer Verletzbarkeit anzuerkennen. Man muss die Bilder ignorieren, die Schreie überhören, man muss aus der Vernichtung einen Prozess, aus der Vergewaltigung ein Narrativ, aus dem Morden einen Kontext machen. Die sprachliche Entlastung ist nicht Begleiterscheinung, sie ist Bedingung.

Elad Lapidot hat in Anti-Anti-Semitismus (2021) diese Bewegung als negative politische Epistemologie beschrieben. Sie kennt kein Wissen, nur Verneinung. Sie glaubt nicht, dass Israel existiert. Sie glaubt, dass es nicht existieren darf. Nicht, weil es schlecht wäre, sondern weil es die falsche Gruppe schützt. Negative politische Epistemologie produziert nicht Wahrheit, sondern Abwesenheit, die Abwesenheit des jüdischen Subjekts. Shueftan nennt das Barbarei. Adorno und Horkheimer nennen es moralisch legitimierte Gewalt.

Man muss nur genau hören, was heute gesagt wird: Es ist nicht der Jude an sich, es ist nur Israel. Es ist kein Hass, es ist Solidarität. Es ist nicht antisemitisch, es ist nur antizionistisch. Und doch folgt es demselben Muster: Wenn Juden sich wehren, werden sie zur Bedrohung. Wenn sie sterben, werden sie zum Beweis. Wenn sie leben wollen, werden sie zum Problem.

Wer Barbarei gutheißt, sobald sie sich antiisraelisch nennt, ist ein Antisemit. Punkt. 

Peter Straß ist Sozialarbeiter und Autor