Chronik der politischen Verfolgung von Boris Kagarlitsky

Das Militärberufungsgericht hat das Urteil über den Soziologen Boris Kagarlitsky zu fünf Jahren allgemeiner Strafkolonie verschärft. Der Staatsanwalt, der die Verschärfung forderte, bezeichnete das erste Urteil als „übermäßig milde“ und als „nicht dem Maß der öffentlichen Gefahr der Straftat entsprechend.“ Andrei Doultsev verfasste für konkret eine Chronik der politischen Verfolgung Kagarlitskys.

Der marxistische Soziologe Boris Kagarlitsky wurde bereits in der Sowjetunion als Mitglied der Dissidentenbewegung strafrechtlich verfolgt. Anfang der achtziger Jahre wurde er im Rahmen des Verfahrens gegen die sowjetische politische Underground-Bewegung „Junge Sozialisten“ verhaftet und verbrachte etwa ein Jahr im Moskauer Untersuchungsgefängnis Lefortowo. In den nuller Jahren gründete Kagarlitsky das Institut für Globalisierung und soziale Bewegungen, das 2018 vom russischen Justizministerium in das Register der „ausländischen Agenten“ aufgenommen wurde. Kagarlitsky selbst wird seit dem Frühjahr 2022 als „ausländischer Agent“ geführt.

Im Dezember 2023 wurde er wegen „Rechtfertigung des Terrorismus“ (Absatz 2 Artikel 205.2 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation) aufgrund eines Kommentars über die Explosion auf der Krimbrücke im Oktober 2022 für schuldig befunden.

Das Strafverfahren gegen Kagarlitsky wurde aufgrund einer Beschwerde des Abgeordneten der Stadtduma von Uchta, Leonid Krasnopjorow, eingeleitet, die er im Sommer 2023 bei der Regionalabteilung des russischen Geheimdiensts FSB der Republik Komi einreichte. Krasnopjorow ist unterdessen als Nationalist bekannt – in den russischen sozialen Netzwerken findet man ein Foto, auf welchem er vor dem Hintergrund des russischen Kaiserbanners in einem T-Shirt mit der Aufschrift „Rechtgläubigkeit oder Tod!“ posiert. Gegenstand der Klage war ein von Kagarlitsky im Oktober 2022 veröffentlichter Kommentar zum Video mit der Explosion auf der Krimbrücke: „Explosive Grüße von der Katze Mostik / Nervöse Menschen und Ereignisse, Anschläge auf die Infrastruktur“, den Kagarlitsky auf dem von ihm gegründeten Informationsportal Rabkor veröffentlicht hatte. Das Video war indessen von der Website seit langem entfernt.

Kagarlitskys Anwalt erklärte vor Gericht, dass es sich bei dem Video um Satire handle, während die „kritische Analyse der Ereignisse“ auf den von Kagarlitsky betriebenen Online-Kanälen „in der autorisierten Terminologie des Staates“ stattfand.

Für die Freilassung Kagarlitskys erhoben mehrere weltweit bekannte Linke ihre Stimme, unter ihnen die indische Sozialwissenschaftlerin Radhika Desai, die Putin im Rahmen des Waldai-Forums die Frage nach der Freilassung Kagarlitskys stellte, und der brasilianische Präsident Lula Da Silva. Indes überraschte Kagarlitsky das Auftreten seines Zöglings Hektor Spree als Zeuge der Anklage.

Nachdem das Militärgericht in Syktyvkar, wohin er verlegt wurde, Kagarlitsky zu einer Geldbuße verurteilt und ihm für die nächsten zwei Jahre das Administrieren von Internetseiten untersagt hatte, schien das Verfahren sich dem Ende zu nähern. In einem Telefongespräch Anfang Februar teilte Kagarlitsky mit, dass er mit einer Einstellung des Strafverfahrens im Mai rechne.

Dennoch kam es – für Kagarlitsky unerwarteterweise – zu einem Berufungsprozess: Der Staatsanwalt beantragte eine Verurteilung zu fünfeinhalb Jahren Strafkolonie, weil ihm das Urteil „zu milde und zu human“ erschien, so die russische Nachrichtenagentur RIA Novosti: „Das Gericht hat die Art und das Maß der öffentlichen Gefahr der begangenen Straftat nicht sachgerecht berücksichtigt“, betonte der Staatsanwalt.

Das Gericht folgte der Forderung des Staatsanwalts und Kagarlitsky wurde am 13. Februar im Gerichtssaal in Gewahrsam genommen.

Wie im Fall des liberalen Oppositionspolitikers Leonid Gosman, der im Juli 2022 verhaftet wurde und nach seiner Freilassung emigrierte, kann das erste Urteil im Fall Kagarlitsky als ein Warnschuss betrachtet werden, der ihm deutlich machen sollte, das Land zu verlassen. Kagarlitsky blieb aus Überzeugung, da er der Meinung ist, dass Oppositionelle vor allem innerhalb Russlands benötigt werden. Dies teilte er im Interview an die Journalistin Xenija Sobtschak mit, das am Tag vor dem Berufungsurteil veröffentlicht wurde.

„Natürlich bin ich nicht niedergeschlagen. Ich bin, wie immer, in bester Stimmung. Ich sammle weiterhin Material für neue Bücher, darunter auch eine Beschreibung des Gefängnislebens in den Moskauer Anstalten, und das bereits jetzt. Wie auch immer, wir sehen uns bald wieder. Ich bin sicher, dass alles sehr gut verlaufen wird. Und wir werden uns sowohl auf meinem Kanal als auch in Freiheit wiedersehen. Alles wird gut werden. Wir müssen nur noch etwas länger leben und diese für unser Land finsteren Zeiten überstehen. Am Ende wird alles wieder gut sein“, richtete sich Kagarlitsky in einer Ansprache an die Leser von Rabkor.