Demokratie des Kapitalismus

Karl-Heinz Dellwo über Gebrauch, Wert und Gebrauchswert der bürgerlichen Demokratie

Über Demokratie reden gilt als fein. Die Inbrunstpolitikerin Claudia Roth lässt sich auf der Eröffnungsvorstellung der Leipziger Buchmesse mit einem Schild fotografieren: »Demokratie wählen. Jetzt«. Was tritt da auf?

Wir erinnern uns an eine andere Parole: »Mehr Demokratie wagen«. Willy Brandt in seiner Regierungserklärung als Kanzler am 28. Oktober 1969. Die Liberalen und Linksliberalen lagen ihm für diese Zubilligung von oben zu Füßen. Andere haben sich gefragt: »wagen«? Wie weit? Ein bisschen? Zur Hälfte? Oder zwei Drittel? Auf die gewandelten Nazis in der Gesellschaft war das nicht gemünzt. Ihnen gehörte ja bis dahin die neue Gesellschaft. »Mehr Demokratie wagen« trat auf als Konzession an das Ereignis 1968. Dem abspenstigen Teil der neuen Generation musste etwas zugebilligt, aber viel mehr abgenommen werden; vor allem die Vorstellung, die Gesellschaft zu entkapitalisieren und vom Menschen aus bestimmen zu können. Jede als Freiheitserweiterung propagierte Reform im Kapitalismus bezahlt die Masse mit Verdoppelung der Anpassung. Am besten durch Selbsterziehung. Das ganze Leben muss zur Ware werden. Unter dem »mehr Demokratie« wagenden Kanzler wurde wenig später der Radikalenerlass eingeführt und die Gesinnung von 3,5 Millionen Personen überprüft. Ein Zurichtungsprozess. Gegen links selbstverständlich. Wo das nicht griff, kam das innerstaatliche Kriegsverhältnis »bis an die Grenze des Rechtsstaats« (Helmut Schmidt, 1977, vormals Wehrmachtsoffizier, auch bekennender Freund der SS-Divisionen) und die Isolationshaft. Sie ist ein gutes Beispiel für praktizierte bürgerliche Demokratie: Während für die einen der Ausnahmezustand in eng eingegrenzten Räumen etabliert wurde (wie heute, fast reflexartig, auch wieder bei Daniela Klette), wurde für den Rest der Gesellschaft »Normalzustand« praktiziert. Längst ist der partielle Ausnahmezustand integriert und jederzeit abrufbar. Jedes Reden über »demokratische Werte« entkommt seiner entleerten Grundlage nicht. So ist heute auch ein Großteil des politischen Personals: substanzlos – mit Entsprechung in der Gesellschaft. Regierende können heute gefahrlos ihre inhaltliche Unbedarftheit und ihre politische Infantilität zur Schau stellen. Simulation anstelle von Substanz. Nichts außer der Ware gilt gesellschaftlich als unantastbar. Längst ist Demokratie in Simulation von sich selbst versunken, entmachtet von jeder Hegemonie gegenüber der selbstlaufenden kapitalistischen Weltzerstörung. 

»Demokratie jetzt« – wenn die regierende Klasse Kampagnen zur Demokratie organisiert, meint sie materiell etwas anderes als das, was unten illusionär aufgesogen wird. Demokratie im Kapitalismus ist nichts anderes als das politische Austauschverhältnis unter den bürgerlichen Eliten. Die bürgerlichen Freiheitsrechte sind für sie da. Sie machen untereinander alles aus. Der Rest hat zuzuhören und zu folgen. Sie akzeptieren den Machtwechsel zwischen den anerkannten etablierten Parteien, das Bilden von Koalitionen unterschiedlicher Interessen. Das ist für sie Demokratie: Politik als Folge von Verhältnissen, deren Bewegungsraum immer kleiner wird. Sie teilen das politisch noch Mögliche in der Gesellschaft unter sich auf. Gut bezahlt und – gegebenenfalls – mit staatlich angestellter Begleitfriseurin. Untereinander halten sie sich an gewisse Spielregeln. Bereicherung, Opportunismus, Korruption und Lügen sind erlaubt; verewigter politischer Machtbesitz jedoch nicht. Dazu muss man dann in die Wirtschaft wechseln, was parteiübergreifend regelmäßig passiert. Die AfD fällt derzeit nicht darunter. Sie erinnert die alten wie die neuen Machthaber noch zu sehr an einen geschichtlichen Fauxpas: die Übergabe der politischen Macht an ideologisch bestimmte Hasardeure, die einen dann kurz oder lang mit in den Abgrund reißen können. Aber das Arrangement mit der AfD wird kommen, denn es ist von beiden Seiten aus gewollt. Die Grünen kennen das aus eigener Erfahrung. Einst waren sie als Systemfeinde missverstanden worden und mussten lang und schwer beteuern, keine zu sein. Giorgia Meloni versteht sich mit Scholz ganz gut und ebenso mit Joe Biden. Marine Le Pen supportet die israelische Regierung gegen die Hamas, distanziert sich aber von der AfD und ihren »Remigrationskonzepten«. Das sind politische Anpassungsschritte, die die AfD noch vor sich hat und für deren Erzwingung die medial gefeierte gesellschaftliche Kampagne »Gemeinsam gegen rechts« steht. Man fragt sich: Was ist »rechts« in einer Ordnung, die für den Menschen die Egalität des Nichts vorgibt und im Kern keine politische Ideologie mehr braucht? Denn vor der Ware sind alle gleich. Das ist das Substrat der Demokratie des Kapitalismus.

Das Verhältnis von oben nach unten dagegen ist nur bedingt ein Austauschverhältnis. Deswegen taugt diese Demokratie für die unten nicht wirklich, egal wie sehr man sich selbst dort verbürgerlichen möchte. Denn auch in der demokratischen Metropole schlägt der Darwinismus des Kapitals inzwischen manchmal so roh zu, wie er es in den Randzonen des Systems schon immer für normal gehalten hatte. Für die unten gibt es keine festen Spielregeln. Für sie gilt etwas anderes als Diktum: Systemgehorsam. Das passt mit Demokratie nicht so richtig zusammen, ist aber zur Aufrechterhaltung des großen Ganzen und Falschen notwendig. Denn das erfordert regelmäßig: die Regeln ändern. Die Regeln für die Masse werden immer über sie geändert: von Hartz IV oder Hartz XX, über »Pazifismus ist heute nicht aktuell« bis hin zur Kriegsfähigkeit. Daneben fällt derzeit noch der neue Technologieschub KI über sie her. Damit müssen sie zurechtkommen. Hier gibt es kein Mitsprachrecht. Nur Hinweise auf Anpassungstechniken. Hier bedeutet Demokratie ohne jeden Ausgleich: Gehorsam! Verständnis für die Verwertungsprobleme des Kapitals. Zur bürgerlichen Demokratie und zum Wohle der Besitzenden gehören Selbstaufgabe und Selbstopferung der Massen. Die Verluste dort sind für das System des Kapitals ein hinnehmbarer Kollateralschaden, gerne auch goldbehangen und mit Fahnenbegräbnis für die, die über die Klinge springen. Längst schon wieder hochgehalten als reaktionäre Ehre in der neuen »Wehrwillig-« und »Wehrfähigkeit«. Freiwillig das sein, was ansonsten erzwungen werden muss. Das ist im Kapitalismus die demokratische Beteiligung von unten.

Karl-Heinz Dellwo schrieb in konkret 4/24 über deutschen Verfolgungswahn und die RAF