FILM DES MONATS

Die Unschuld

Regie: Hirokazu Kore-eda; mit Sakura Andō, Eita Nagayama, Soya Kurokawa; Japan 2023, 127 Minuten, ab 21. März im Kino

Los geht es mit dem Filmtitel. Der für die deutschen Kinos nämlich ist gelungener als das japanische Original, »Kaibutsu«, was lose übersetzt »Ungeheuer« oder »Bestie« bedeutet. Passt zwar auch, denn in dem neuen Film von Hirokazu Kore-eda wird die Frage, wer das Monster ist, ausgiebig behandelt, in drei Episoden, die das Geschehen 
aus unterschiedlichen Perspektiven zeigen. Aber – die Pointe kann man gleich mal vorwegnehmen, ohne zu spoilern – Ungeheuer sind irgendwie alle und keiner. Und deswegen ist der deutsche Filmtitel auch schöner: »Die Unschuld«.

Die Geschichte beginnt mit einem Hochhausbrand. Im ersten Durchgang sehen wir die Geschehnisse durch den Blick der alleinerziehenden Mutter Saori (Sakura Andō), im zweiten Durchgang durch den des Lehrers Hori (Eita Nagayama) und im letzten durch den ihres Sohnes Minato (Soya Kurokawa). Wie schon in Akira Kurosawas Klassiker »Rashomon« geht es darum, in drei narrativen Perspektiven einen Tathergang zu klären.

Minato soll von Hori geschlagen worden sein, der Lehrer wiederum wirft seinem Schüler vor, den Außenseiter Yori (Hinata Hiiragi) zu mobben. Die Schuldirektorin, die ihren Enkel bei einem Unfall verloren hat, und die Vertreter der Lehrerschaft kriegen außer roboterhaften Entschuldigungsfloskeln gegenüber der Mutter nicht viel zustande. Minato verhält sich weiter auffällig und springt mit einem Mal unvermittelt aus einem fahrenden Auto. Und es passiert dann noch einiges mehr. In der Multiperspektive ergibt sich nach und nach ein (weitgehend) vollständiges Bild.

In den Blicken der Figuren setzt sich die Welt dieses Films für Zuschauerin und Zuschauer zusammen, der Blick des Regisseurs aber ist ein radikal humanistischer. Die schönsten Sequenzen in den Filmen Kore-edas sind jene, in denen die Welt sich in all ihrer Beschissenheit und Schönheit vor und in den Augen von Kindern entfaltet. Das gilt zum Beispiel zur Gänze für »Nobody Knows« und für zentrale Passagen von »Shoplifters« und »Meine kleine Schwester«. Die Bilder lösen allzu schnelle Urteile auf. Ein Humanismus mithin, der die Grausamkeit und das Schlechte, über das man gerne schnell und eindeutig urteilen würde, nicht relativiert oder glättet. Und also auch nicht für Wohlfühlkino taugt, obgleich alle Filme Kore-edas nicht zuletzt ausgesprochen schön sind.

In gewisser Weise kann man »Die Unschuld« auch als implizite Poetologie des Kinos von Hirokazu Kore-eda sehen. Weil die Kamera immer nur eine Perspektive zugleich präsentieren kann, sehen wir nie die ganze Wahrheit, und wer die ganze Wahrheit nicht kennt, weil er sie nicht kennen kann, soll, wenn er schon urteilt, nicht verurteilen. Niemand verhält sich in diesen Filmen so, wie er idealerweise sollte. Und niemand kann sich wirklich anders verhalten. Einfach auch deswegen, weil es in der Weltkonstruktion von Hirokazu Kore-eda kein Heldentum gibt.

Die Wahrnehmung der Mutter, die Wahrnehmung des Lehrers und die der beiden Kinder stehen gleichwertig nebeneinander. Saori will ihren Sohn vor der willkürlichen Gewalt der Institution schützen, geht in Kampfmodus und verzweifelt an der formalen, kalten Höflichkeit der Institutionsmenschen, die aus taktischen Gründen verschweigen, was sie meinen zu wissen. Kann man verstehen. Lehrer und am Rande auch die Schuldrektorin sehen wir im zweiten Durchgang in Aktion. Die Gründe für die Apathie der Direktorin werden klar, so wie auch die pädagogische Gewalt mit einem Mal anders erscheint, sobald man weiß, dass sie ein misslungener Versuch war, kollektives Mobbing zu unterbinden, ohne Kenntnis der Verhältnisse der Schüler/innen untereinander. Kann man verstehen.

Im dritten und letzten Durchgang aber schlägt der Film dann doch so etwas wie eine übergeordnete Perspektive vor. Nicht übergeordnet im Wahrheitsgehalt oder in der Vollständigkeit. Sondern hinsichtlich der Kameraeinstellungen und damit auch der Einstellung des Films, die er im Verhältnis zu seinen Figuren erkennen lässt. Die Empathie gilt den beiden Kindern, die im langen letzten Akt beim Spielen und bei der schwierigen Gestaltung ihrer Beziehung begleitet werden. In diesen Szenen zeigt sich der Kern des Kinos von Kore-eda. Die Figuren müssen nicht mehr den Plot voranbringen, das Puzzle ist schon weitgehend vollständig beziehungsweise Vollständigkeit nicht mehr entscheidend. Statt dessen verschiebt sich der Fokus weg von der Rätsellösung hin zu einer Wahrnehmung der Leinwandkörper in ihrer unmittelbaren Präsenz. Kore-eda kann Menschen so filmen, dass die eigentlich unvermeidbare Objektifizierung der Leinwandkörper durch die Kamera von der Kamera selbst so weit wie irgend möglich zurückgenommen wird.

Heißt im Falle von »Die Unschuld«: Die beiden Kinder sind einfach nur da und versuchen, mit ihrem Innenleben und der Welt, die in Kore-edas Filmen allemal grausam ist, zu Rande zu kommen, während die Erwachsenen um sie herum ähnliches probieren, dabei aber als Verantwortliche, auch wenn sie einem nicht als Schuldige erscheinen, nicht mehr unschuldig wirken. Man kann sie nicht verurteilen, man kann sie aber auch nicht freisprechen. Die Kinder hingegen sind in den Filmen Hirokazu Kore-edas Verkörperungen des noch nicht Verdinglichten. Man nimmt an ihnen wahr, was den Erwachsenen verlorenging.

Benjamin Moldenhauer