DER LETZTE DRECK

Er sagt. Sie sagt.

ZDF-Fernsehspiel. Regie: Matti Geschonneck; mit Ina Weisse, Godehard Giese; Deutschland 2024, 105 Minuten, seit 17. Februar in der ZDF-Mediathek

Ferdinand von Schirach. Der große Erklärer. Wunderwuzzi. Nazigrößen-Nachkomme und Feuilletonliebling mit der Talkshowlizenz zum bedeutungsschwangeren Schwafeln. Je aufreibender das ethisch-moralische Thema, desto fester hängt das Publikum an seinen spröden Lippen. Verständlich. Da Helmut Schmidt den Deutschen nicht mehr das Gefühl von Souveränität vorhusten und ihnen die fürchterlich komplizierte Welt in Mentholschwaden auflösen kann, mussten die lanzigen Ledersessel der Nation mit neuen männlichen Kompetenzsimulanten gefüllt werden, die kognitive Dissonanzen entkrampfen wie Benzodiazepine in Rotwein. Schirach beruhigt rezeptfrei. Nimmt väterlich an die Hand. Gibt den geistigen Truppenführer durch das Trümmerfeld deutscher Existenz, um Antworten auf die Frage zu geben, wie alles am bequemsten gleich beschissen bleiben kann.

Schlägt in hiesigen Wohnzimmern mal wieder ein Granatsplitter im Kampf um Deutungshoheit ein, wird im Öffentlich-Rechtlichen verantwortungsbewusst die Schirach-Glocke zur dreifaltigen TV-Event-Messe geläutet: Erst ein Film zur Primetime mit Starbesetzung; dann Publikumsabstimmung; dann eine Talkshow zum Thema. So geschehen mit »Terror – Ihr Urteil« (2016): Ein Major knallt ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug ab, das in die voll besetzte Allianz-Arena stürzen sollte (86,9 Prozent stimmten für einen Freispruch des Majors); dasselbe bei »Gott« (2020): Ein alter, aber gesunder Mann will sterben, ein Ethikrat diskutiert darüber, ob er das dürfen darf oder nicht (70,8 Prozent des Publikums stimmten dafür). Und so läutet’s auch zu Schirachs neuem Moralkasperletheater »Er sagt. Sie sagt«: Wieder ein Gerichtssaaldrama, dessen »scheinbar unauflösbares Dilemma« laut ZDF »juristisch wie menschlich … eine ungeheure Sprengkraft entfaltet«.

Dieses Mal also Vergewaltigung. Eine bekannte TV-Moderatorin (Ina Weisse) verklagt ihre langjährige heimliche Affäre, einen Industriellen (Godehard Giese), der sie beim zunächst einvernehmlichen Sex vergewaltigt haben soll. Die ganz große Liebe des Lebens des jeweils anderen seien sie gewesen. So schrecklich ähnlich seien sie einander gewesen. Beide verheiratet. Beide mit Kindern. Doch nach ein paar Jahren, so erzählt die Moderatorin nüchtern wie eine Klavierlehrerin in der Mon-Chéri-Winterpause, habe man sich einvernehmlich getrennt, weil man zurück in die Sicherheit und Ordnung der bürgerlichen Existenz wollte.

Bei einem zufälligen Wiedersehen, Monate nach der Trennung, sei es in seinem Appartement mit Privataufzug und etruskischen Vasen gegen jegliche Vernunft aber wieder zum einvernehmlichen Sex gekommen. Doch in medias bums dann der Sinneswandel: Sie wollte das alles nicht mehr. Ekelte sich plötzlich vor der Situation und der großen Liebe. Dreimal habe sie ihm gesagt, er solle aufhören. Dreimal habe er aber einfach weitergemacht. Erst bei seinem Höhepunkt habe sie es geschafft, den ejakulierenden Industriellen von sich zu stoßen, dessen Industriellensuppe sich daraufhin auf ihr am Boden liegendes Kleid ergossen habe – das angebliche Beweisstück. Doch hätte der Fleck nicht auch schon lange davor aufs Kleid gelangt sein können? Und wieso ging sie eigentlich erst nach ein paar Tagen zur Polizei? Das fragt auch die eiskalte Verteidigerin des Angeklagten (Henriette Confurius). Und überhaupt: Wie kann man vergewaltigt worden sein und dann so gefasst und emotionslos drüber berichten, hm?

Gegenfrage: Was für eine »Sprengkraft« hat ein Film voller stumpfer Klischees? Von was für einem »scheinbar unauflösbaren Dilemma« ist die Rede, wenn am Ende einer suggestiven Shitshow er sein Schweigen nach eineinhalb Stunden Sympathiefokus auf ihr effektgewaltig bricht und erklärt, wie’s wirklich war? Es habe keine 
einvernehmliche Trennung gegeben. Er hätte sich von ihr getrennt, was sie wiederum nicht wollte. Es habe auch keine Vergewaltigung gegeben. Sie habe »ihre Tage gehabt« und ihn neben dem Fenster (mit der etruskischen Vase) »mit dem Mund und mit der Hand befriedigt«, bis er »kam«, und gefragt, ob sie es nicht doch noch einmal miteinander versuchen wollten. Er sei jedoch bei seinem Nein geblieben – aus Angst, seine Familie zu verlassen, seufz. Was für Schlüsse kann das Publikum ziehen, wenn sie den Saal überraschend verlässt, als er anfängt auszupacken, und der rosa Elefant im Raum schreit: »Aha! Da haben wir’s mal wieder: Die Frau ist schuld!«

Doch damit nicht genug. Am Ende wird das Publikum nicht nur ins geläufige Vorurteil manipuliert, dass sie wegen ihres gekränkten Egos eine Vergewaltigung erfunden hat. »Er sagt. Sie sagt« setzt noch einen weiteren rosa Elefanten auf den Rücken des bereits im Gerichtssaal »schuldig!« trötenden: In den allerletzten Minuten des Films bekommt die Vorsitzende Richterin mit der Hannelore-Kohl-Gedenkfrisur (Johanna Gastdorf) eine Akte zugesteckt, aus der hervorgeht, dass die Ehefrau des Angeklagten bei der Polizei gewesen sei – um die Version der Klägerin zu bestätigen! Ihr Ehemann habe ihr gestanden, die Moderatorin vergewaltigt zu haben.

Boom! Was für eine Wendung: Ein Mann, dessen Leben von gleich zwei gekränkten Frauen mit einer erfundenen Vergewaltigung »zerstört« wird! Till Lindemann schießt Freudentröpfchen aus der Peniskanone. Für eineinhalb Stunden hätte man betrunken meinen können, Schirach wolle einen »inneren Gedankenprozess anregen« und anprangern, dass das deutsche Rechtssystem Frauen nicht ausreichend vor Gewalt schützt – Deutschland blockiert nämlich ein EU-Gesetz, das Vergewaltigung europaweit einheitlich bestraft. Aber das wäre die Wahrheit – und kein für kulturell wertvoll erklärter Schirach-Ethik-Porno.

Elena Wolf