VON konkret

Seit Wochen demonstrieren Hunderttausende in großen und kleinen Städten gegen die AfD. Ein Grund zur Freude, gar zur Entwarnung? Der Bundeskanzler sieht in den Demonstrationen ein »starkes Zeichen« für die Demokratie und das Grundgesetz: »Ob in Eisenach, Homburg oder Berlin: In kleinen und großen Städten im ganzen Land kommen viele Bürgerinnen und Bürger zusammen, um gegen 
das Vergessen, gegen Hass und Hetze zu demonstrieren.« Aber was bedeutet es, gegen rechts zu demonstrieren, wenn Vertreter 
einer Politik vorneweg marschieren, die
für eine durch und durch rassistische Migrationspolitik verantwortlich sind? Mit Friedrich Merz gegen rechts? Der Antifaschismus, den Olaf Scholz und Co. ebenso meinen wie die deutsche Prominenz, mit 
der der »Stern« sein Cover bestückt hat, ist keiner und also weder Grund zur Freude noch zur Entwarnung.

»Seit dem 7. Oktober sehen wir Judenhass auf einem in Deutschland seit Jahrzehnten nicht dagewesenen Niveau«, schreibt der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein. Kinder würden nicht in den jüdischen Kindergarten geschickt, es gebe leere Klassenzimmer in jüdischen Schulen. »Jüdische Veranstaltungen werden abgesagt oder genauso gemieden wie bestimmte Stadtteile. Jüdisch klingende Namen werden in Taxi- und Bestell-Apps geändert, damit man nicht erkannt wird.« Nach Angaben des Geschäftsführers des Bundesverbandes der Antisemitismusmeldestelle Rias hat sich die Zahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland innerhalb 
der ersten zwei Monate nach dem Überfall der Hamas auf Israel im Vergleich zum Vorjahreszeitraum vervierfacht. Weil es aber nicht gibt, was es nicht geben darf, verhalten sich Universitäten und Veranstalter so, als wüssten sie nicht, dass alle paar Tage eine Veranstaltung abgebrochen werden muss, weil Juden daran teilnehmen (sollen). So auch am 8. Februar, als eine Podiumsdiskussion an der Berliner Humboldt-Universität, zu der mit anderen die israelische Professorin und Richterin Daphne Barak Erez eingeladen war, antizionistische Stimmungsmacher störten und die Richterin niederbrüllten. Die Universität hatte offensichtlich keine Vorkehrungen getroffen und war nicht in der Lage, die Ruhestörer zu entfernen.

Ähnlich indolent verhielt sich die FU: In der Nacht zum 3. Februar wurde der 30jährige jüdische Student Lahav Shapira in Berlin-Mitte von einem Kommilitonen krankenhausreif geprügelt und getreten. Shapiras Nase, Wangenknochen und Augenhöhle wurden 
zertrümmert. Die Staatsanwaltschaft geht von einer gezielt antisemitischen Tat 
aus. Auf die Forderung, den Täter zu exmatrikulieren, entgegnete die Berliner Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra, sie lehne Exmatrikulationen aus »politischen Gründen« grundsätzlich ab: »Wir wollen die Hochschulen nicht zu Gated Communities machen.« Universitäten seien offene Räume der Kommunikation und der Debatte. »Die Wissenschaft lebt von Austausch, lebt von Internationalität, lebt von internationalen Studierenden. Und natürlich gibt’s auch dann mal Konflikte auf dem Campus. Und die müssen wir eindämmen.« Dass es sich hier 
nicht um einen Konflikt aus politischen Gründen, sondern um Antisemitismus und schwere Körperverletzung handelt, muss 
einer Innensenatorin entgehen, die angesichts eines zusammengeschlagenen Juden zuallererst daran denkt, die Freiheit des Täters zu schützen.

 bereitet eine Ausgabe der Gesammelten Schriften Hermann L. Gremlizas vor und bittet seine Leser/innen, dabei behilflich zu sein. Die Ausgabe wird voraussichtlich 18 Bände umfassen; sie soll 2028 abgeschlossen sein und alle Texte, einschließlich Interviews, Reden et cetera, enthalten, die Gremliza seit 1963 veröffentlicht hat beziehungsweise hat veröffentlichen lassen. Weil aber weder Verlag noch Redaktion noch Gremliza selbst ein Verzeichnis, geschweige ein Archiv seiner Texte geführt haben, weil etliche seiner Beiträge/Stellungnahmen/Interviews an entlegenen Orten beziehungsweise in längst eingestellten Periodika erschienen sind, weil es (Online-)Archive dieser Periodika in der Regel nicht gibt und weil auch in den Online-Archiven der noch existierenden Periodika häufig nur ein begrenzter Zeitraum erfasst ist, ist unser Überblick über Gremlizas Schaffen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht vollständig. Daher ergeht an unsere Leser/innen folgende Bitte: Wer Kenntnis von einem Beitrag Gremlizas – Text, Interview, sonstiges Statement – hat, der an einem nicht (mehr) allgemein zugänglichen Ort erschienen ist, informiere darüber Verlag und/oder Redaktion – im Idealfall durch Zusendung einer Kopie des Beitrags. Die ersten beiden Bände der Gesammelten Schriften erscheinen im Frühsommer dieses Jahres. Eine detaillierte Einladung zur Subskription der Ausgabe folgt im nächsten Heft.

Der Publizist, Kulturkritiker und Autor Georg Seeßlen erhält den Lessing-Preis für Kritik 2024, der von der Braunschweigischen Stiftung, der Lessing-Akademie e.V. Wolfenbüttel und der Stadt Wolfenbüttel 
alle zwei Jahre verliehen wird. Verlag und 
Redaktion gratulieren herzlich. Allerdings können wir uns die Anmerkung nicht verkneifen, dass sich die Jury bei ihrer Begründung den einen oder anderen abgebrochen hat:

Mit Georg Seeßlen ehrt die Jury einen herausragenden Kritiker, dessen Werk geprägt ist von einer facettenreichen, kapitalismusskeptischen Medien- und Kunstkritik im Sinne einer sensiblen, unaufdringlichen Sezierung der politischen Kultur.

Was kann er mehr verlangen, der Kapitalismus, als von einem Skeptiker unaufdringlich seziert zu werden? Dass Seeßlen solch betuliche Nachrede nicht verdient, zeigt allein schon sein Beitrag über die schleichende Faschisierung Italiens in Heft 1/24.