Feindmarkierung

Finstere Gestalten blickten die Leser/innen vom Cover des Time Magazine im August 1977 an. Bei allen handelte es sich um Afroamerikaner/innen, und alle waren ganz offensichtlich arm. Unter dem Label »Unterklasse« – ein Begriff, der zuvor praktisch unbekannt gewesen war – wurde hier eine vermeintlich neue innere Bedrohung vorgestellt, die in den folgenden zwei Jahrzehnten prägend für diverse politische und sozialwissenschaftliche Debatten in den USA werden sollte. Mitten in den großen Metropolen des Landes lebe eine »große Gruppe von Menschen, die widerspenstiger, sozial fremder und feindseliger ist, als es sich kaum jemand hätte vorstellen können«.

Wie mit diesem »großen, unausgesprochenen Problem des heutigen Amerika« umgegangen werden sollte, war von konservativen Stiftungen und Think-Tanks längst vorbereitet worden: Reduzierung der Sozialhilfe, Leistungsprämien im öffentlichen Schulwesen, Verschärfung polizeilicher Maßnahmen, Ausbau der Gerichte und Gefängnisse sowie Subventionierung schlecht bezahlter Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft. Ein Programm, das die US-Präsidenten Ronald Reagan, George Bush und vor allem Bill Clinton nur zu gerne umsetzten, wie der französische Soziologe Loïc Wacquant in seiner Studie Die Erfindung der »Unterklasse« nachweist.

Der in Berkeley lehrende Wacquant macht in seiner Diskursanalyse deutlich, dass dieser »atemberaubende Triumph« des Neoliberalismus – in den USA an dem Übergang vom System des welfare zu dem von workfare und prisonfare zu ersehen – ohne die beständige Stigmatisierung der vermeintlich leistungs- und integrationsunwilligen »Unterklasse« in Tausenden akademischen Studien und vor allem Zeitungsartikeln kaum so reibungslos hätte vonstattengehen können. Und er weist darauf hin, dass es sich bei diesem Begriff, der trotz seiner vermeintlichen ethnischen Neutralität immer mit der schwarzen Bevölkerung assoziiert wurde, natürlich niemals um eine analytische Kategorie gehandelt habe. Vielmehr sei es mit Hilfe der wieder und wieder aufgelegten Geschichten von den »rassialisierten Volksteufeln« (Wacquant) gelungen, in der US-Mittelklasse Abscheu und Ängste zu erzeugen und die sozialen Angriffe geradezu als unumgängliche Verteidigung der Nation darzustellen – eine Waffe, auf die auch im Deutschland der Agenda-2010-Vorbereitung nur allzu gern zurückgegriffen wurde.

Loïc Wacquant: Die Erfindung der »Unterklasse«. Aus dem Englischen von Christian Frings. Dietz, Berlin 2023, 216 Seiten, 25 Euro

Axel Berger