Antiimperialismus im letzten Stadium

Wie sich kommunistische Parteien über den Ukraine-Krieg zerstreiten. Von Ewgeniy Kasakow

Am 9. September 2023, kurz vor ihrem zehnten Jubiläum, erklärte die Initiative kommunistischer und Arbeiterparteien Europas ihre Auflösung. Die rund 30 Parteien aus 27 Ländern umfassende Vereinigung von »traditionalistischen«, marxistisch-leninistischen Parteien konnte sich nicht auf eine Position zum Ukraine-Krieg einigen. Bereits im Februar 2022 sorgte die Stellungnahme der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) für Kontroversen. In der Initiative, deren Mitgliedsparteien sich an dem sowjetischen Gesellschaftsmodell der Stalinzeit ausgerichtet haben, nahm die KKE eine besondere Stellung ein. Sie ist die einzige Partei mit einer Massenbasis, Verankerung im Parlament und einem gewissen Gewicht in der Politik. Für die anderen Parteien, die in ihren Ländern weitgehend einflusslos sind, waren die griechischen Genossen der schlagende Beweis, dass Marxismus-Leninismus und Erfolg einander nicht ausschließen, sie bildeten den Gegenpol zur reformistischen Vereinigung Partei der Europäischen Linken (EL), der auch die hiesige Linkspartei angehört. Als die KKE aber gleich zu Beginn von Russlands »Spezialoperation« sich gegen beide kriegführenden Seiten positionierte und sich weigerte, das offizielle Narrativ des Kreml vom »Kampf gegen den ukrainischen Nazismus« zu übernehmen, stieß sie viele alte Bündnispartner vor den Kopf.

Die These, Russland sei auch imperialistisch, erwies sich als unannehmbar für etliche Kommunisten, die Putins Kampf um den Status einer strategischen Weltmacht als Befreiungskampf einer Halbkolonie sehen und russische Kapitalisten gern in liberale »Kompradoren« (abhängig vom westlichen Imperialismus) und die objektiv fortschrittliche »nationale Bourgeoisie« einteilen. Ganz voran ging die Russländische Kommunistische Arbeiterpartei innerhalb der (1993 neugegründeten) KPdSU (RKRP-KPSS) unter Wiktor Tjulkin und Stepan Malenzow, die größte unter den mittlerweile unzähligen außerparlamentarischen KPs Russlands. Der Kurs der Parteiführung, zusammen mit den Nationalbolschewisten und eindeutig rechten Gruppierungen einen »antifaschistischen« Block zu schmieden, sorgte für Empörung und Parteiaustritte vieler ihrer Kader, in Nowosibirsk gründeten die stalinistischen Kriegsgegner die Plattform »Krasny Poworot« (Rote Wende). Die Kritik der KKE an dem »Sozialchauvinismus« der RKRP unterstützten der langjährige Anführer des Jugendverbandes RKSM(b) Alexander Batow und Roman Osin, zuvor Mitglied der ideologischen Kommission des ZK. Dafür konnten die Putin-Unterstützer aus der RKRP-Führung auf Verständnis und Zustimmung von der Vereinten Kommunistischen Partei Georgiens (VKPG), der Belarussischen Kommunistischen Partei der Werktätigen (BKPT) und der Partei der bulgarischen Kommunisten (PBK), die mit der rechtsradikalen »Ataka«-Partei Wahlbündnisse eingeht, ebenso bauen wie auf die antititoistische Neue Kommunistische Partei Jugoslawiens (NKPJ).

Die Debatte eskalierte im Verlauf des ersten Kriegsjahres und griff von der kontinentalen auf die globale Ebene über. Die mexikanische PCM und die türkische TKP schlossen sich der von der KKE vertretenen Theorie der »imperialistischen Pyramide« an, in dieselbe Richtung argumentiert auch die Kommunistische Partei der Werktätigen Spaniens (PCTE). Demnach wäre Russland zwar eine schwächere, aber dennoch sehr wohl imperialistische Macht. Dagegen formierten sich die Anhänger der These einer allein von den USA beherrschten Welt und vom antimperialistischen Charakter aller Gegner dieses »Unilateralismus« – von Teheran bis Peking – im Oktober 2022 im Rahmen der »World Antiimperialist Plattform« (WAP). Von Anfang an warnte die KKE vor Fake-Parteien und rechtsoffenen Gruppen in den Reihen der WAP. Von etlichen Organisationen, die WAP-Deklarationen unterschrieben, hat man bisher noch nie irgendwas gehört. Doch so wie die KKE in der Initiative kommunistischer und Arbeiterparteien Europas die einzige Organisation von Gewicht war, so erfüllt in der WAP diese Funktion die regierende Partido Socialista Unido de Venezuela (PSUV). Nachdem diese die (regierungs-) kritische Führung der venezolanischen KP abgesetzt hat und die altehrwürdige Partido Comunista de Venezuela durch ihre feindliche Übernahme faktisch neutralisiert hatte, zeigte sich sogar die Redaktion der »Jungen Welt«, die den WAP-Positionen viel Platz im Blatt einräumt, verstimmt.

Im deutschsprachigen Raum treten die Spaltungsphänomene immer deutlicher zu Tage. Während die 1990 gegründete KPD-Ost, für viele Linke ein Inbegriff von Stalin-Kult und antiwestlichem Ressentiment, Unvereinbarkeitsbeschlüsse mit der WAP fasst, da diese Imperialismus getrennt vom Kapitalismus kritisiere, spaltete sich die 2018 ihrerseits als Abspaltung der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend entstandene Kommunistische Organisation (KO) in einen Flügel, der beide Kriegsparteien kritisiert (kommunistische.org), und einen, der auf die Frage »wer hat angefangen?« eine alternative Antwort gibt: natürlich die USA (kommunistische-organisation.de). Beide Flügel haben verwirrenderweise den alten Namen beibehalten. Der, sagen wir, USA-kritische hielt Anfang Oktober einen »Kommunismus-Kongress« ab. Die Fragestellung versprach nicht zu wenig: »Welche Rolle spielen China und Russland für die Kämpfe der Unterdrückten, für den Kampf um den Sozialismus? Können sie Verbündete sein, vielleicht sogar entscheidende Kräfte im Sturz der westlichen Vorherrschaft?« Wichtige öffentliche Gesichter der WAP wie Dimitrios Patelis (Kollektiv des Kampfes für die revolutionäre Vereinigung der Menschheit) und Joti Brar von der Communist Party of Great Britain (Marxist-Leninist) waren ebenso zu Gast wie Willi Langthaler von der Antiimperialistischen Koordination aus Österreich. Langthaler echauffierte sich darüber, dass die Bourgeoisie der westeuropäischen Länder die »Interessen der ganzen Nation verrät«.

Für die Kritiker der WAP – wie KKE, Alexander Batow oder der antimilitaristische KO-Flügel – ist die Rolle von Figuren wie Patelis offensichtlich. Er gilt als Promoter der außenpolitischen Interessen Chinas, die er vor jeglichem Vorwurf, kapitalistischen Charakter zu haben, in Schutz nimmt. Dagegen ringt die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) seit langem um die Einschätzung Chinas. Die Vorstellung, dass die US-Hegemonie nun endlich zu Ende gehe, heizt die Phantasien von einem neuen, irgendwie doch sozialistischen Welthegemon an. Kontra beim Thema China-Einschätzung bekommen die prosowjetischen DKP-Autoren ausgerechnet von der maoistischen Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD), die in der heutigen Volksrepublik vor allem einen Verrat an Maos Linie sieht.

Die Eskalation im Streit um die richtige Auslegung von Lenins Imperialismustheorie hält Schritt mit der Eskalation der Weltlage. Nach dem Hamas-Überfall auf Israel pocht die MLPD darauf, dass es sich bei den Islamisten um eine faschistische Organisation handelt, die von links bekämpft gehört; dafür wurde die MLPD mittlerweile von propalästinensischen Demos ausgeschlossen. Anders der »China-Putin«-Flügel der KO, der unter dem Titel »Solidarität mit dem kämpfenden Palästina! Kampf der anti-palästinensischen Repression in Deutschland!« auf seiner Webseite »kommunistische-organisation.de«, wissen ließ: »Für uns und alle Freiheit und Gerechtigkeit liebenden Menschen auf der Welt ist es dagegen eine großartige Überraschung! Wir können diesen Aufstand nur bewundern, ihm Erfolg wünschen und uns mit ihm voll und ganz solidarisieren! Wir distanzieren uns nicht ein Stück vom Widerstand und von keinem seiner Teile! Er ist in Gänze legitim, genau wie all seine Mittel!«

Auf dem 23. Internationalen Treffen Kommunistischer und Arbeiterparteien im türkischen Izmir Ende Oktober gab es erwartungsgemäß zwei Resolutionen. Die eine, die den Krieg in der Ukraine als einen Zusammenstoß imperialistischer Interessen begreift, bekam 25 Unterschriften, die im Sinne der WAP gehaltene nur elf. Bemerkenswert ist, dass die erste Resolution vor allem von alteingesessenen kommunistischen Parteien, die seit den Zeiten der Kommunistischen Internationale existieren, unterschrieben wurde, die zweite von relativ neu entstandenen Organisationen aus dem postsowjetischen und postjugoslawischen Raum. Darunter sind nicht nur RKRP und NKPJ, auch die Duma-Kommunisten von Gennadi Sjuganow sind dabei, ebenso wie die faktisch nur noch auf dem Papier bestehende KP der Ukraine. Zwei Parteien, die palästinensische PCP (nicht zu verwechseln mit der größeren PPP, der Palestinian People’s Party, die früher ebenfalls PCP hieß) und die KP aus Irakisch-Kurdistan, haben ihre Unterschrift unter beide Resolutionen gesetzt.

Längst ist Imperialismus nicht nur eine analytische Kategorie, sondern vor allem ein polemischer Kampfbegriff enttäuschter Nationalisten. Jeder Staat, dessen Machtgrundlage das nationale Kapital ist, muss sich die Interessen des Kapitals, über die Staatsgrenzen hinaus agieren zu können, zu eigen machen. Die jeweiligen Machtgrundlagen sind nicht gleich und können es nicht sein. Es reicht nicht festzustellen, dass ökonomisch und militärisch überlegene Staaten die Abhängigkeit der unterlegenen nutzen, um sie in Bündnisse einzubinden und dabei diejenigen, die sich der strategischen Einordnung entziehen, mal mit Verweigerung von »normalen« Marktbeziehungen, mal mit militärischen Aktionen strafen. Der Widerspruch zwischen den grenzenlosen Interessen des Kapitals und der Begrenzung der Staatsgebiete, zwischen nationaler Kapitalakkumulation, die ihre eigenen Quellen schädigt (Umweltzerstörung, Ruinierung der Gesundheit der Lohnabhängigen), und dem Staatsinteresse, das aus den negativen Folgen des kapitalistischen Wachstums schließt, es müsse noch mehr Wachstum her, muss erst begriffen werden, um das Streben der Staaten, »ihrem« Kapital weitere Wachstumsmöglichkeiten über die eigenen Grenzen hinaus zu verschaffen, zu analysieren.

Dagegen verlegen sich linke Organisationen auf den Streit darüber, wer bei aktuellen Kriegen »angefangen hat«, wessen Nationalismus am unterdrücktesten, wessen Souveränität am schützenswertesten sei, und suchen nach »Fortschrittlichem« in der rücksichtslosen Staatsräson konkurrierender Mächte. Weite Teile der Linken haben sich mit dem Paradigma »Kampf der Demokratie gegen Diktatur« von jeglicher Imperialismusanalyse verabschiedet. Auf der anderen Seite gibt es den trotzigen Versuch, jeden Konflikt zwischen den USA und anderen Staaten als »Widerstand« zu feiern. Beides hat wenig mit einer Analyse des Imperialismus und viel damit zu tun, linke Hoffnungen auf die Staatsinteressen zu projizieren. Daher ist die Spaltung im marxistisch-leninistischen Milieu, in deren Folge die mal offenen, mal heimlichen Befürworter der russischen Kriegspartei eigene Wege gehen, eine gute Nachricht. Sie macht den Weg frei für die anstehende Debatte über die heutige imperialistische Konkurrenz.