50 Shades of Schlimm

Das Ende der Regierungskoalition hat einen gewissen Schauwert. Politisch aber wird sich, vom Personal abgesehen, wenig ändern. Von Felix Klopotek

Am 6. November, mittags, als es am Wahlsieg Donald Trumps nichts mehr zu rütteln gab und die Gerüchte vom baldigen Ampel-Crash eskalierten, meldeten die Presse-Agenturen auch diese Nachricht: »Linkenchefin fordert Ampel zum Zusammenbleiben auf.« Denn, so die frisch gekürte Parteivorsitzende Ines Schwerdtner, »der Wahlsieg Trumps muss ein Weckruf sein für die Bundesregierung … Trump wird einen klaren Konfrontationskurs zur EU und Deutschland fahren. Deshalb muss die Ampel das Land wieder handlungsfähig machen.« Als sich gern radikal gebende linke Oppositionspartei sich der Staatsräson unterordnen, indem man von der Regierung verlangt, sie solle das gefälligst auch tun: ein durchaus verblüffender Move für die Arbeiterführerin in spe! Möchte man meinen.

Man meint aber falsch. Denn dass es gilt, das Schlimmste abzuwenden (das ist ja der Inhalt dieses Appells): Das teilen Schwerdtner und die Linke mit allen Parteien im Bundestag. Bundeskanzler Scholz entlässt Finanzminister Christian Lindner: um Schaden von Deutschland abzuwenden. Lindner hatte zuvor seinen Rauswurf durch ein Positionspapier provoziert, das doch nur dazu diente, das Schlimmste abzuwenden. Die CDU drängt auf sofortige Neuwahlen, um das Schlimmste abzuwenden. Die Grünen sind noch ziemlich verdattert, aber auch sie wissen: Nur ihr Kanzlerkandidat Robert Habeck könnte das Schlimmste noch abwenden. Und die Selbstlegitimation der AfD beruht einzig darauf, das Schlimmste … Ja, wir wissen Bescheid.

Der Schachzug, eine unannehmbare, weil eigentlich menschenverachtende und ökologisch katastrophale Politik entweder »zähneknirschend« zu akzeptieren (als ewiges Schicksal, das alle linken Real-, Parlaments- und Salamitaktik-Politiker verinnerlicht haben) oder souverän und selbstherrlich in Szene zu setzen (als Privileg, das alle liberalen, konservativen und autoritären Politiker genießen), um eine unvorstellbare Katastrophe – links und rechts im Chor vereint: »den Untergang Deutschlands« – zu verhindern, dieser Schachzug ist in Wirklichkeit der alltägliche Modus bürgerlicher Politik.

Das Schlimmste abzuwenden: Das lässt nicht nur den Maßstab unangetastet – denn was genau wäre so schlimm am Schlimmsten? Das lässt auch jedes Mittel zu seiner Verhinderung prinzipiell legitim erscheinen. Was nicht heißt, dass sich die Parteien in der Wahl der Mittel einig wären – der Streit darüber macht den berühmt-berüchtigten Pluralismus aus. Der Pluralismus wiederum ist die politische Verlaufsform, die wundersamerweise stets dazu führt, dass die schließlich getroffene, also von der Regierung dekretierte Entscheidung »alternativlos« ist, um das böseste Wort aus der Ära Merkel zu zitieren.

So gesehen war der Bruch der Ampel-Koalition alternativlos. Aber auch ihr Fortbestehen wäre alternativlos gewesen. Es ist egal. Denn das Ende der Koalition oder aber ein letztes Zusammenraufen der Beteiligten ändert nichts daran, dass diese Politik »Alternativlosigkeiten« herstellt, also Sachzwänge durchdrückt, wo es um Herrschaftsinteressen geht, wie sie sich aus der ungeselligen Geselligkeit der Klassengesellschaft ergeben.

Man schaue auf die letzten Monate: 30 Prozent Leistungskürzungen für Bürgergeldempfänger, die eine zumutbare Arbeit ablehnen? Check. Nullrunde beim Bürgergeld? Check. Aus dem 49-Euro-Ticket wird ein 58-Euro-Ticket? Check. Aussetzung des Lieferkettengesetzes? Check. Der Liberale Christian Lindner konnte sehr gut Politik mit Leuten machen, die er öffentlich als sozialistische Planwirtschaftler beschimpft. Und umgekehrt. Schon im April fragte »Die Zeit« suggestiv, ob der Neoliberalismus zurückkomme. Mittlerweile ein reißerischer Null-Begriff, korrekter wäre »angebotspolitische Wende«, und die wird selbstverständlich auch von der »Zeit« begrüßt. »Angebotspolitische Wende« meint: Entlastung des Kapitals von Sozialabgaben, Deregulierung der Märkte – etikettiert als »Bürokratieabbau« –, repressive Politik gegen Arme und Arbeitslose.

Tatsächlich gibt es verschiedene politische Interpretationen dieser Wende. Sie führten schließlich zum Bruch der Ampel. Wirtschaftsminister Robert Habeck schwebte eine staatlich enger begleitete Angebotspolitik vor: Investitionsanreize, disruptive Maßnahmen, um die großen Unternehmen zu Innovationsschüben regelrecht zu zwingen. Das ist nicht »links«, nicht »sozial«, auch nicht »staatsdirigistisch« (denn der Zweck der Unternehmen, Profite einzufahren, ist politisch voll akzeptiert und soll noch härter geschärft werden); aber es ist auf Langfristigkeit berechnet. Öffentlich prophezeite Habeck das grüne Wirtschaftswunder für die jeweils nächsten sechs Monate. Jeder, der die hochkomplexen Produktionszyklen der Schlüsselindustrien auch nur oberflächlich kennt, weiß, dass man eher von sechs Jahren ausgehen müsste. Genau diese Langfristigkeit kann sich die Wirtschaft angesichts der globalen Konkurrenz nicht leisten, so das Kalkül von Lindner. Für ihn dirigiert der Markt schneller und zuverlässiger als die Politik. Aufgabe von Politik wäre ihre Selbstaufgabe.

Über den Sinn dieses Streits, an dessen Ende nun Neuwahlen stehen, kann man länger grübeln. Sind Habeck und Scholz, der im Streit offensichtlich auf Habecks Seite stand, Optimisten des Kapitals? Glauben sie also an den Erfolg langfristiger Investitionen in einer vom Kapital schon lange übersättigten Welt? Ist Lindner ein Pessimist des Kapitals, der nur noch auf die letzte Karte zu setzen vermag, auf das freie Spiel der Kräfte auf den Märkten dieser Welt, aus dessen Chaos allein sich eine höhere Ordnung ergeben könnte?

Man sollte nicht zu lange grübeln. Es führt meistens dazu, diesen Positionen ein größeres Gewicht beizumessen, als sie tatsächlich haben, und sie zum Gradmesser einer progressiven Politik zu machen. Schon ist man Vorsitzende einer ehemals größeren sozialistischen Partei, die für die Fortführung der einen Position, der Habeck-Scholz-Linie, meint appellieren zu müssen. Denn diese Linie ist das »kleinere Übel«, das in diesen Tagen »alternativlos« ist. Wie immer.

Im Frühjahr wird es eine schwarz-rote Regierung geben oder eine Kenia-Koalition, auch andere Farbkombinationen sind möglich. Man liest, dass abseits der hitzigen Wortgefechte um Scholzens aktuelle Regierungserklärung Regierung und Opposition verständig und gelassen miteinander umgehen.

Felix Klopotek schrieb in konkret 10/24 über das Album »Strom« von Harald Grosskopf