Geist in der Grube

Omri Boehm ist der Philosoph der Stunde: Er veredelt die autoritäre Wende mit salbungsvollem Sermon. Von Klaus Weber

Omri Boehm »erweckt die kritische philosophische Tradition zu neuem Leben«, sein Buch Radikaler Universalismus (Propyläen, Berlin 2022) sei »ein Gegenmittel für die epistemologischen und moralischen Krankheiten unserer Zeit« und es »gibt uns Grund zur Hoffnung«. Es sei »kraftvoll und überzeugend« und werde »ein Meilenstein im großen Gebäude der Philosophie werden«.

Eva Illouz, die linksliberale israelisch-französische Soziologin, konnte sich bei ihrer Laudatio auf der Leipziger Buchmesse im März 2024 nicht bremsen in ihrem Lob für den 45jährigen New Yorker Philosophen Boehm, als er den Leipziger Buchpreis für europäische Verständigung erhielt. Doch auch nach zweimaligem Lesen im dünnen Taschenbuch fällt mir nur Marx’ Kommentar zu Dühring ein, den er Engels im Juli 1876 schrieb: »So ein seichiger Kohl ist noch nie geschrieben worden. Hochtrabende Plattheiten, weiter nichts, dazwischen vollkommener Blödsinn, aber alles arrangiert mit einem gewissen Geschick …« Wie kommt’s?

Boehm möchte zeigen, dass Gerechtigkeit nur dann möglich ist, wenn sie als universelle, abstrakte gedacht wird – was in seiner Lesart John Brown, Immanuel Kant und Martin Luther King schafften. Sie waren »berufen« im »Namen einer ewigen Gerechtigkeit«, und deshalb bezeichnet Boehm sie als »Erwählte«, »Genies« und »Propheten«. Was sie konnten, nämlich »aus eigener Kraft denken«, ist den meisten Menschen, die von »denkenden Wesen in ›Hausvieh‹ verwandelt« sind, nicht gegeben. Doch auch den Propheten und Auserwählten geht es weniger um das Denken denn um den Glauben, »dass das, was für dein persönliches Herz wahr ist, für alle Menschen wahr ist«. Derjenige, der es schafft, »dem Genie zu folgen«, welcher »die wahre Lehre«, die »wahre Position« kennt und sich dieser ewigen Wahrheit »unterwirft«, kann der drohenden Gefahr der »Tyrannei der Mehrheit« (Tocqueville) entgehen.

Rebellische oder gar revolutionäre »Mehrheiten« oder »Massen« scheinen Boehm etwas Unangenehmes zu sein, weil sie in ihrer Dumpfheit zu politischen Entscheidungen kommen, welche gegen die metaphysisch und abstrakt imaginierte Gerechtigkeit verstoßen (Nietzsche lässt grüßen). Es handelt sich um eine Gerechtigkeit, die »nicht nur über der irdischen Autorität von Königen, sondern auch über der Autorität einer wahren Gottheit steht«. Noch dazu sei die Freiheit (wessen?) in Gefahr, die bereits Tocqueville 1840 als unwichtiger denn die Zurückschlagung der Massen ansah (»… dass nach einer so gewalttätigen Revolution das einzige Mittel, die Freiheit zu retten, darin bestand, sie einzuschränken«). Denn die Begeisterung für die Freiheit – behauptet er in seinem Buch L’ancien régime et la révolution von 1856 – ende in politischer Knechtschaft.

Dass und wie »Gerechtigkeit« und »Freiheit« mit den realen Arbeits- und Lebensverhältnissen von Menschen in bürgerlichen Gesellschaften zusammenhängen, ist Omri Boehm keine Frage und also auch keine Antwort wert. Bei ihm gibt es keine tätigen, wirklich lebenden und ihre Lebensmittel produzierenden Menschen, es gibt keine Geschichte und damit auch keine Geschichte von Klassenkämpfen, keine Interessenkonflikte und keine Machtverhältnisse, keine Geschlechter, keine Nationen und keine Staaten. Was er kennt, ist sein Elfenbeinturm aus moralischen Werten und Gedanken (dort sitzt anscheinend auch die Laudatorin) und einem »Geist, der den Menschen aus seiner Grube« befreien kann.

Und das einzige, was ihm zum Thema »Mensch« einfällt, ist, dass dieser »kein Naturgeschöpf« sei: »Der Mensch kann genauso wenig als biologische Art verstanden werden wie als zoologischer, historischer oder soziologischer Begriff«. Dass der Mensch kein Begriff sein kann, verstehen wir – doch wer Marx und seine Feuerbachthesen verstanden hat, weiß, dass die Vorstellung des »menschlichen Wesens« als Abstraktum – wie sich Boehm das imaginiert – »seichiger Kohl« ist. Doch so wenig wie Boehm die real lebenden Subjekte in der Wirklichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse denken kann, so wenig ist er in der Lage, veränderndes Handeln (sozial, politisch, kulturell) sich als subjektive Tat vorzustellen. 

Sein »radikaler Universalismus« soll politisch umgesetzt werden, indem wir Menschen die Vorstellung davon verändern, »wer ›wir‹ sind und wie ›wir‹ unsere Werte verstehen«. Bei dieser an NLP (Neurolinguistisches Programmieren) erinnernden Übung – »stelle dir das Schlechte so lange als gut vor, bis du es glaubst« – gilt »der Vorrang der Wahrheit vor dem Konsens« und »der Metaphysik vor der (demokratischen, K. W.) Verfassung« sowie die »Anwendung von Grundsätzen, die über dem Zeitgeist stehen«. Und wer soll diese Veränderungen bewerkstelligen? Die Genies und Propheten, die als »Grundbedingung die Gabe der Imagination und nicht des Intellekts« besitzen. Einzig sie sind »menschlich«, weil sie fähig sind, einem »nicht menschlichen Grundsatz zu folgen«. Die Grundsätze, die Wahrheit und der »Ruf«, dem die »Berufenen« folgen, kommen dabei wie ein Deus ex machina aus dem metaphysischen Jenseits.

Auch wenn die »hochtrabenden Plattheiten« schnell entlarvt sind, so zeigt Boehms Nobilitierung durch den Leipziger Buchpreis eines: Die Zerstörung der Demokratie und des materialistischen Denkens (wenn nicht des Denkens überhaupt) wird auf philosophischer Ebene (nach Heidegger, Sloterdijk & Co.) vorangetrieben, wobei das esoterische Geschwätz, vermittelt über die überirdischen Gesetze und Wahrheiten, als Einfallstor für ein autoritäres und aristokratisches Gesellschaftsmodell dient: Die »Massen« folgen den »Berufenen«, die wiederum intuitiv wissen, was das beste für alle ist! Boehm wird dabei nicht nur von einer ehemals linken Soziologin gelobt. Er bekommt auch die politischen Weihen für sein Machwerk: Bundespräsident Steinmeier, kriegsbegeisterter Volksgemeinschaftsapologet, lud ihn »zu einem Staatsbesuch nach Israel ein« – was Eva Illouz als Lob für seine »Konzepte, die Widersprüche der Welt weniger frustrierend« zu finden, versteht. Steinmeier, Illouz, Boehm stehen für das, was ich als Nato kennengelernt habe: »No action, talk only«; damit alles bleibt, wie es ist.

Klaus Weber hat mit Dick Boer das Buch Hoffen gegen jede Hoffnung. Krieg – Klima – Kapitalismus. Ein Briefwechsel veröffentlicht (Argument, Hamburg 2024, 136 Seiten, 17 Euro)