Aus der Pimpfenwelt
Von der NS-Propaganda zum »Derrick«-Autor: Das Leben Herbert Reineckers ist ein Muster nachkriegsdeutscher Karrieren. Von Gerhard Henschel
Im Jahre 1990, auf der Höhe seines internationalen Ruhms, bekannte der Drehbuchautor Herbert Reinecker: »Wenn mich heute jemand fragt: Wann bist du jemals glücklich gewesen?, dann lautet meine Antwort: in den Jahren ’35 bis ’39.« Der junge Reinecker, Jahrgang 1914, hatte sich seinerzeit im Dienst des Presse- und Propagandaamts der Reichsjugendführung als brauchbarer journalistischer Scharfmacher bewährt und rasch Karriere gemacht. 1936 wurde er als »Hauptschriftleiter« der Hitlerjugend-Zeitschrift »Der Pimpf« bestallt, und er ging schon bald, wie man in seinem 1990 veröffentlichten »Zeitbericht unter Zuhilfenahme des eigenen Lebenslaufs« nachlesen kann, bei Kranzler und bei Adlon ein und aus.
Damit entsprach er freilich nicht so ganz dem von ihm selbst verkündeten Ideal. 1934 hatte er in einem Beitrag für die NS-Zeitschrift »Unsere Fahne« die Weichlinge attackiert, die ein süßes Leben führten, anstatt sich für den Kampf ums Überleben zu stählen: »Wer kennt sie nicht, die ›Vornehmen‹? Man findet sie überall, meistens in den Kaffeehäusern, in den Kinos, in den Vergnügungsstätten, am wenigstens bei der Arbeit in den Fabriken.« Dort hätte man jedoch auch Reinecker nicht gefunden: Seine Arbeit verrichtete er am Schreibtisch, und in seiner Freizeit tummelte er sich in den von ihm geschmähten Vergnügungsstätten.
Ab 1939 wurde es für ihn ein wenig ungemütlicher. »Während der Kriegsjahre war Reinecker als SS-Kriegsberichterstatter der 6. SS-Gebirgs-Division Nord, der SS-Division ›Totenkopf‹, der SS-Standarte Kurt Eggers und der 12. SS-Panzer-Division Hitlerjugend sowie bei der SS-Division Hitlerjugend in der Normandie tätig«, schreibt die Historikerin Haydée Mareike Haass in ihrem Buch über die »mediale Verwandlungsgeschichte«, in deren Verlauf der NS-Propagandist Reinecker zu einem bundesdeutschen Erfolgsautor mutierte. »Einige Jahre meines Lebens wurden mir damals gestohlen«, stellte er 1971 im Rückblick auf jene Schaffensphase fest, die er damit verbracht hatte, das Regime zu verherrlichen, von dem er bestohlen wurde.
In den fünfziger Jahren machte er von neuem Karriere als Drehbuchautor. »In größeren Porträts der Filmmagazine wurde er im Anzug und mit einem Whiskeyglas in der Hand inszeniert, sichtbar seinen Erfolg genießend« (Haass). Ein Mitarbeiter der Illustrierten »Quick« verstieg sich 1954 sogar zu der Äußerung, Reinecker sei »vor dem Krieg die literarische Hoffnung der jungen Generation gewesen«. Damit konnte nur die Generation gemeint sein, die 1938 Reineckers Frühwerk Pimpfenwelt gelesen hatte. Dessen Wiederentdeckung steht bis heute noch aus. (Wäre das nicht etwas für den Verlag Antaios?)
1955 kam László Benedeks Kriegsfilm »Kinder, Mütter und ein General« in die bundesdeutschen Kinos, und der »Spiegel« merkte dazu an: »Gemeinsam schrieben Reinecker und Benedek das Drehbuch. Sie wollten zeigen, dass Frauen, Kinder und Soldaten nur das Räderwerk einer unheimlichen Maschinerie sind, die, einmal angekurbelt, nicht mehr zum Stillstand zu bringen ist. Es ging ihnen ›um die Sinnlosigkeit des Krieges an sich‹. Im Skript gibt es deshalb weder Anspielungen auf den Nationalsozialismus
noch einen unsympathischen Soldaten.« So musste man vorgehen, wenn man auch in der Ära Adenauer wieder bei Kranzler und Adlon verkehren wollte: die Sinnlosigkeit des Krieges an und für sich anprangern, ohne irgendwem weh zu tun. Ein Jahr zuvor hatte Reinecker auch am Drehbuch des Spielfilms »Canaris« mitgewirkt, einer erbärmlichen Geschichtsklitterung, in der stolze Wehrmachtsoffiziere noch einmal als moralisch vollkommen integre Saubermänner zu bestaunen sind.
Der Rest ist Fernsehgeschichte. Ab 1969 wurde das Volk zu seiner vollen Zufriedenheit mit Reineckers verschnarchter ZDF-Serie »Der Kommissar« bedient und ab 1974 mit »Derrick«, einer Serie, die sich unglaublicherweise als exportfähig erwies. 1986 wurde ihr von Bundeskanzler Helmut Kohl bescheinigt, sie habe dazu beigetragen, »ein sympathisches Bild der Deutschen im Ausland mitzuprägen«; und 1993 schrieb die »Welt« dem von Horst Tappert verkörperten TV-Kommissar Stephan Derrick gar die Rolle eines »kulturübergreifenden Botschafters« zu, der aller Welt beweise, dass sich niemand mehr vor uns fürchten müsse. Hier und da sorgte »Derrick« allerdings auch für Irritationen. »Die Innendekors stürzen noch den muntersten Possenreißer in unheilbare Betrübnis, und die Außenaufnahmen zeigen das Schlimmste, was Bayern zu bieten hat (dabei gäbe es dort wahrhaftig Besseres zu sehen)«, teilte Umberto Eco seinen Landsleuten 1995 mit.
Haass versucht, in Reineckers Erfolgsserien Spurenelemente seines einstigen Glaubens an den Nationalsozialismus nachzuweisen. Wenn sie sich finden lassen, dann allenfalls in der unausgesprochenen Moral, dass früher alles besser gewesen sei, als die Ehen noch gehalten, die Kinder keine Drogen genommen und die Menschen sich nicht widerstandslos dem schnöden Gott Mammon unterworfen hatten. Die Trauer über diesen Sittenverfall spricht aus jedem betrübten Blick der Kommissare Keller und Derrick.
Bewundernswert ist die Akribie der Autorin. Um die eine oder andere ihrer Thesen zu erhärten, hat sie entlegene Aufsätze herangezogen, über die Entwicklung der Tabakregulierung in Deutschland zum Beispiel oder über die Geschichte der Polizeibeamtenkleidung. Extrem erschwert wird die Lektüre dieses Buchs leider durch den Umstand, dass es von Anfang bis Ende gegendert ist. Gleich eingangs erfährt man, »dass Reinecker die Zuschauer:innen vor dem Fernseher dazu einlud, zentrale moralische und strafrechtliche Fragen nach Schuld und Täter:innenschaften im Nachgang der Frankfurter Auschwitz-Prozesse anhand einer Art Bystander:innen-Figur zu reflektieren«, und an anderer Stelle heißt es: »Jede:r fiktive Bürger:in, so Reineckers Verbrechensvorstellung weiter, konnte zu einem/einer Mörder:in werden, wenn seine/ihre Moralvorstellungen und Wertekultur ins Wanken gerieten.«
Nach einem derartigen Gestrüpp aus Doppelpunkten und Schrägstrichen ist jeder herkömmlich verfasste Text ein Labsal fürs Auge.
Haydée Mareike Haass: Herbert Reinecker: NS-Propagandist und bundesdeutscher Erfolgsautor. Eine mediale Verwandlungsgeschichte. Metropol-Verlag, Berlin 2024, 416 Seiten, 29 Euro
Gerhard Henschel schrieb in konkret 9/24 über den Heidelberger Juristenkreis