Staat der Emanzipation

Im Kampf um kürzere Arbeitszeiten steckt immer auch ein utopisches Moment. Von Stefan Dietl

Vor genau vierzig Jahren erstritten IG Metall und IG Druck und Papier mit dem Slogan »Mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen« und unter dem Logo einer lachenden Sonne den Einstieg in die 35-Stunden-Woche. Zehntausende beteiligten sich im Frühjahr und Sommer 1984 an den Streiks für eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 40 auf 35 Stunden. Die Arbeitgeberverbände stellten sich, wie auch die schwarz-gelbe Bundesregierung, vehement gegen die Forderung der Gewerkschaften, und Bundeskanzler Helmut Kohl bezeichnete die 35-Stunden-Woche als »dumm, dreist und töricht«.

Den Worten folgten Taten: Die Regierung unterstützte offen das Kapital. Als die Arbeitgeber im Zuge des Streiks Hunderttausende Beschäftigte aussperrten, verweigerte die Bundesanstalt für Arbeit die Auszahlung von Kurzarbeitergeld, um »den Arbeitskampf zu verkürzen«. Trotzdem gingen die Gewerkschaften nach sieben Wochen Streik aus der größten sozialen Machtprobe der Nachkriegszeit siegreich hervor.

Für Karl Marx war die disposable time – die zur freien Verfügung stehende Zeit, die nicht durch den Zwang eines äußeren Zwecks bestimmt ist – das Maß des Reichtums. Seit Entstehen der Arbeiterbewegung war das Ringen um kürzere Arbeitszeiten, mehr Urlaub, freie Wochenenden und eine möglichst selbstbestimmte Gestaltung der freien Zeit daher wesentlicher Gegenstand von Arbeitskämpfen. Dem Versprechen von weniger Arbeit und mehr Zeit für Erholung und Genuss wohnte immer auch ein utopisches Element inne, das den Blick freigab auf die Vorstellung eines Lebens ohne Mühsal und Plackerei. Kein Wunder also, dass es gerade die Kämpfe um kürzere Arbeitszeiten sind, die die Massen besonders mobilisieren.

Ein Umstand, der auch im Mittelpunkt des Buchessays Das Reich der Freiheit beginnt mit der Verkürzung des Arbeitstags steht, den der marxistische Philosoph Michael Löwy und der trotzkistische Politiker Olivier Besancenot verfasst haben. »Lange Zeit nahmen Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung sogar einen höheren Stellenwert ein als die Forderung nach höheren Löhnen. Davon zeugen viele der ersten Arbeitskämpfe, die für die Verkürzung der Arbeitszeit geführt wurden. Die Tradition des ersten Mai als ›Arbeiterkampftag‹ entstand 1886 im Zusammenhang mit Aktionen für den Achtstundentag«, so die Autoren.

Die sechs Jahre nach ihrem Erscheinen in Frankreich nun endlich in deutscher Sprache vorliegende Flugschrift liefert allerdings nicht nur einen kompakten und lesenswerten historischen Abriss der blutigen Auseinandersetzungen um die Zeit, sondern auch eine eindrückliche philosophische Darstellung des utopischen Potentials, das im Kampf um die disposable time schlummert. Auf Basis der Marxschen Arbeitswerttheorie zeigen Löwy und Besancenot, dass die Verkürzung des Arbeitstags die »grundlegende Bedingung der wahren menschlichen Freiheit« ist. Und eine Forderung, die in der Lage ist, die Fundamente der bürgerlichen Ordnung selbst in Frage zu stellen: »Jede Stunde Lebenszeit, die der Arbeiter dem Kapital abtrotzt, ist ein Fortschritt der menschlichen Freiheit, ein Sieg gegen die Diktatur des Kapitals, eine Bresche in den Mauern des Fabrikgefängnisses, ein Sandkorn im Räderwerk der Lohnsklaverei.« Im Ringen um Arbeitszeitverkürzung werden, so die Autoren, »die Samenkörner der emanzipierten Zukunft ausgesät«.

Bruno Kerns Übersetzung des Essays erscheint in einer Zeit, in der die Arbeitszeit wieder verstärkt ins Zentrum sozialer Kämpfe rückt. War es in Deutschland darum in den vergangenen Jahrzehnten zunächst still geworden, steht die Arbeitszeitfrage – nicht zuletzt aufgrund des Drucks aus den Betrieben – seit einigen Jahren wieder auf der gewerkschaftlichen Tagesordnung. Dabei geht es jedoch nicht nur um kürzere Arbeitszeiten, sondern auch um mehr Selbstbestimmung. Gegen eine weitere Flexibilisierung zugunsten der Unternehmen setzen die Gewerkschaften immer öfter auf flexible Arbeitszeitmodelle zugunsten der Lohnabhängigen. Es ist eine regelrechte Tarifbewegung für eine neue Arbeitszeitpolitik entstanden, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der letzten Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie vor der Corona-Pandemie fand. Im intensivsten Tarifkonflikt der Branche seit Jahrzehnten legten 2019 mehr als 1,5 Millionen Beschäftigte die Arbeit nieder und verursachten Produktionsausfallkosten von fast einer Milliarde Euro. Dies zwang das Kapital zum Einlenken. »Wir wollen nicht, dass die Betriebe lange stillstehen und die Straßen voller roter Fahnen sind«, ließ sich Rainer Dulger, Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, anlässlich des Tarifabschlusses in der Metall- und Elektroindustrie zitieren.

Der neue Kampf um die Zeit wird auch in den noch anstehenden Tarifauseinandersetzungen dieses Jahres eine wichtige Rolle spielen. Während die IG Metall bei der im Herbst beginnenden Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie ihr erkämpftes Wahlmodell weiter ausbauen will, wird Verdi erstmals seit Jahrzehnten auch für die 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst die Verkürzung der Arbeitszeit auf die Agenda setzen. Angesichts der Blockade der kommunalen Arbeitgeber dürfte dies nicht ohne umfassende Streiks vonstatten gehen.

Ob die derzeitigen gewerkschaftlichen Kämpfe die von Löwy und Besancenot erhoffte Dynamik entfalten, »die mehr und mehr in Widerspruch zur Logik des kapitalistischen Systems selbst gerät«, und letztlich das Ende der kapitalistischen Mehrwertproduktion einläutet, darf angesichts der bisherigen historischen Erfahrungen bezweifelt werden. Doch die konkrete soziale Errungenschaft der disposable time könnte zumindest dazu führen, dass mehr Gelegenheit und Muße besteht, um an das Reich der Freiheit wenigstens zu denken. l

Olivier Besancenot und Michael Löwy: Das Reich der Freiheit beginnt mit der Verkürzung des Arbeitstags. Aus dem Französischen von Bruno Kern. Mangroven, Kassel 2024, 103 Seiten, 18 Euro

Stefan Dietl schrieb in konkret 4/24 über das Buch Generation Anspruch