Was uns frisst

Heute wird einer wie er »umstritten« genannt und totgeschwiegen, in den Sechzigern und Siebzigern musste man ihn noch totschlagen. Totgeschlagen wurde der Dichter und Filmemacher Pier Paolo Pasolini am 2. November 1975. Zuvor ließ ihn Italien Spießruten laufen. 

Den Passionsweg des Mannes schreitet eine Berliner Ausstellung ab, die mit einer langen Liste von Gerichtsverfahren beginnt. Hunderte Male wurde er wegen Verführung Minderjähriger, Gotteslästerung und Pornografie angeklagt. Während die Verfahren auf ihn niederprasselten, ging zugleich eine Schmutzflut aus der Presse über ihn hinweg;
Karikaturen, Beleidigungen, Verleumdungen – nichts blieb ihm erspart. Mit homophoben Beschimpfungen Pasoli-
nis zu dienen, waren sich selbst der Regisseur Sergio Leone und der Semiotiker Umberto Eco nicht zu schade.

Und doch gab es neben dem verfemten Schwulen und Kommunisten immer auch den Zeitkritiker Pasolini, der auf der Titelseite des »Corriere della Sera« gegen Abtreibung, Konsum und Moderne eintrat. Wie schon seine Gespräche mit Gideon Bachmann (siehe   3/23) lassen diese Kommentare den Eindruck eines rustikalen Kulturkonservatismus entstehen. Ich fragte Giuseppe Garrera und Cesare Pietroiusti, die zusammen mit Clara Tosi Pamphili die Schau kuratiert haben, wie sich dieser Widerspruch erkläre. Sie gaben mir zur Antwort, Pasolini habe auf eine Dialektik der Moderne hingewiesen. Mit dem Entstehen der Konsumgesellschaft lockerten sich zwar die alten Zwänge, doch nun fraß sich der Kapitalismus sogar in den Körper. Was wir konsumieren, konsumiert uns.

Pasolinis Protest dagegen findet sich ausdrucksvoll in seinem besten Film: »Porcile« (Der Schweinestall, 1969). Hier ist der Konsumismus zugleich zugespitzt und auf groteske Weise widerrufen: Der Kannibale (Pierre Clémenti) und der deutsche Unternehmersohn (Jean-Pierre Léaud), der es mit den Schweinen treibt, stehen für eine kreatürliche Körperlichkeit, ja sie lassen sich – die Ausstellung weist diskret darauf hin – mit den vielen rebellischen Christusgestalten in Pier Paolo Pasolinis Werk assoziieren. Aber aufgefressen werden sie am Ende doch.

Stefan Ripplinger

»Pier Paolo Pasolini. Porcili«. Ausstellung im Neuen Berliner Kunstverein (n. b. k.) bis 10. November 2024