Göttlicher Sex

Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Berlin widmet sich der religiösen und künstlerischen Auseinandersetzung im Judentum mit Sexualität. Von Sabine Lueken

Augen, Arme, Hände, Brüste, Penisse, Vulven, Hodensäcke, Tropfen von Körpersäften, Sperma, Blut, Schleim, alles gehäkelt aus Wolle, in Rosa, Weiß, Braun, Lila, Gelb und Rot, zu einem großen Ball geformt: Das »Tumtum« (Gil Yefman, 2023) wirkt fröhlich und harmlos, fast albern, aber es steckt mehr dahinter. In der Mischna, der Niederschrift der mündlichen Tora, ist das Tumtum eine Person, deren Geschlechtsorgane verborgen sind, anders als beim Androgynos, dessen Geschlecht nicht eindeutig männlich oder weiblich ist.

Beide gelten als eigenständige Geschlechter – insgesamt werden sechs benannt. Heute wird Tumtum auch abwertend im Sinne von »Dummheit« gebraucht und klingt phonetisch ähnlich wie »tumah« (unsauber). Der Künstler sieht sein Werk als »sanfte Abrissbirne«, die »dogmatische Vorstellungen des Binären« zerstören könnte. Das »Tumtum« kann man als Leitmotiv der Ausstellung »Sex« im Jüdischen Muse- um Berlin sehen, die traditionelle »jüdische Positionen« zum Thema Sex mit heutigen Sichtweisen konfrontiert. Die Kuratorinnen haben, in Kooperation mit dem Joods Museum Amsterdam, die rund 140 historischen Objekte, Kunstwerke, Filme und Tondokumente von der Bronzezeit bis heute in vier »Sinneinheiten« gebündelt: »Pflicht und Vergnügen«, »Kontrolle und Begehren«, »Sexualität und Macht«, »Erotik und das Göttliche«.

Normen, die die Ordnung der Geschlechter betreffen, finden sich in allen Religionen. Die Vorschriften der Tora, die jahrhundertelang Frauenkörper definierten und kontrollierten, waren für jüdische Künstlerinnen oft Ausgangspunkt für kritische Aneignung. Mierle Laderman Ukeles etwa inszenierte das Untertauchen in der Mikwe als feministischen Akt der Wiedergeburt und Befreiung (»Mikwa Dreams, Hudson River«, 1978). Gabriella Boros verbildlichte mit sieben kleinen Frauenfiguren aus Latex, inspiriert von syrischen Fruchtbarkeitsstatuetten, verschleiernde Begriffe der Talmudgelehrten für die Vulva: »Der Ort«, »Das Grab«, »Zähne«, »Die andere Welt«, »Ihr anderes Gesicht«, »Ihr Starren«, »Ihr Atem« (»The Scourge«, 2023).

Seit den sechziger Jahren wollten feministische jüdisch-amerikanische Künstlerinnen wie Hannah Wilke, Judy Chicago und Anita Steckel mit der Darstellung von Vulven die Wahrnehmung von Frauen und Weiblichkeit verändern. Im Ausstellungskatalog zieht die Kunsthistorikerin Gail Levin eine Verbindung zu radikalen politischen Aktivistinnen wie der Anarchistin Emma Goldman, die für Geburtenregelung und »freie Liebe« kämpfte. Levin gelangt zu dem Schluss, dass jüdische Frauen im Kampf um freien Ausdruck in der Kunst und in der Sexualität eine Vorreiterrolle einnahmen, weil sie »nicht von den viktorianisch-protestantischen Idealen weiblicher Reinheit und Frömmigkeit belastet waren«. Auch an der zweiten Welle der US-amerikanischen Frauenbewegung waren Jüdinnen wie die feministische Publizistin Betty Friedan maßgeblich beteiligt. Ein Zitat aus ihrer berühmten Kampfschrift Der Weiblichkeitswahn (1963) – »No woman gets an orgasm from shining the kitchen floor« – ziert eine Ausstellungswand.

Die Schau ehrt Pioniere und Pionierinnen der Sexualwissenschaft, allen voran Sigmund Freud. Ein Kästchen mit Penisprothesen aus Japan (vor 1928) gehört zu den wenigen erhaltenen Gegenständen aus Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft, 1919 gegründet und 1933 von den Nazis geplündert. Nach Ernst Gräfenberg, dem Erfinder der Verhütungsringe aus spiralig aufgedrehtem Metall (1925–1935), wurde posthum der G-Punkt benannt. Das Brettspiel »Dr. Ruth’s Game of Good Sex« führt mit Aufgaben wie »Fondle his penis« oder»Caress her vaginal area« geradewegs zum Ziel »gegenseitigen Vergnügens«. Ruth Westheimer (1928–2024), die berühmte Sexualtherapeutin, die als Kind den Holocaust in der Schweiz überlebte, war in den USA eine Institution.

Wie sind Pflicht und Kontrolle mit Vergnügen vereinbar? Im Film »Yentl« (1983) mit Barbra Streisand erfahren wir, dass im Judentum der Ehemann verpflichtet ist, seine Frau zu befriedigen. Die junge Frau, die sich als Mann ausgibt, erhält zur Hochzeit vom Rabbi einen Rat aus dem Iggeret HaKodesch: »Sprich Worte, die in ihr Liebe, Begehren und Leidenschaft wecken ... Wenn sie bereit ist, lass ihr Begehren zuerst befriedigt sein; ihre Lust ist es, worauf es ankommt.« Vom Mann wurde erwartet, dass er sein Begehren kontrolliert und in religiöse Bahnen lenkt. Fortpflanzung galt als Pflicht, der Zölibat wurde abgelehnt, männliche Selbstbefriedigung als Verschwendung des Samens verurteilt. Auf einem Gemälde von Nicole Eisenman blickt ein Junge mit Clownsnase traurig auf sein hängendes Glied, das T-Shirt mit einem Pfeil nach unten trägt den Schriftzug »I’m with Stupid« (2001). Junge orthodoxe Paare können ganz schön in Stress kommen, wenn sie nach der Keuschheit vor der Ehe plötzlich dem Gebot »Seid fruchtbar und mehret euch« nachkommen sollen, berichtet die Sexualtherapeutin Talli Rosenbaum im Katalog. Ein »Reproductive Freedom Kit« des National Council of Jewish Women von 2022 zeigt den Protest gegen das in den USA erneuerte Abtreibungsverbot im jüdischen Kontext.

Eine kleine Ecke der Ausstellungsräume ist dem Zusammenhang von Sex, Gewalt und Holocaust gewidmet. Neben Boris Luries provozierendem »Immigrant’s NO Suitcase (Anti-Pop)« (1963) findet sich dort auch ein Hinweis auf die pornografischen Stalag-Romane, die in den sechziger Jahren in Israel populär wurden – »Stalag« war im Nazi-Jargon die Abkürzung für »Stammlager« und bezeichnete sowohl große Kriegsgefangenen- als auch Konzentrationslager.

Für den Zusammenhang zwischen Erotik und dem Göttlichen steht das Hohelied Salomos, das rabbinische Gelehrte allegorisch verstehen. Künstler fühlten sich davon inspiriert. Der Fotograf Benyamin Reich inszeniert Tefillin, Gebetsriemen, als Bondage-Sexspielzeug. In R. B. Kitajs Gemälde »Nose to Nose, Los Angeles Series‚ #24« (2003), zeigt sich der Künstler erotisch vereint mit seiner verstorbenen Ehefrau. Der Einfluss kabbalistischer Mystik ist unverkennbar. Sex gilt dort nicht nur als Spiegel des Göttlichen, sondern als transzendenter, heiliger Akt von kosmischer Tragweite. Make love not war!

»Sex. Jüdische Positionen«. Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin, bis 6. Oktober. Der Begleitkatalog, herausgegeben von Miriam Goldmann, Joanne Rosenthal und Titia Zoeter, ist unter gleichem Titel im Verlag Hirmer erschienen (München 2024, 224 Seiten, 39,90 Euro)

Sabine Lueken schrieb in konkret 8/24 zum 100. Geburtstag von James Baldwin