Progregressiv

Es braucht keinen Uniabschluss, um gewisse Hirnverrenkungen der pro-palästinensischen Studentenbewegung zu erkennen. Die Gruppe Students for Palestine der FU Berlin etwa kritisierte den Aufruf »Fuck Islamismus – Antifa reunite« dafür, dass er den Islam mit Faschismus gleichsetze und also rassistisch sei. Gut, könnte man sich denken, wer nie, sagen wir, Verstehen mit Verständnis gleichgesetzt hat, steinige die erste Frau, und gerade die Studis sollten das Handwerk des Differenzierens schon noch lernen, indem sie den Meistern im Vorlesungssaal zuhören.

Falsch gedacht. Ingo Elbe zeigt in seinem Buch Antisemitismus und postkoloniale Theorie akribisch auf, dass einer internationalen Avantgarde der postkolonialen Schule wissenschaftliche Kompetenzen zugunsten einer antisemitisch unterfütterten Agitation wegbrechen. In ihrem Milieu ist die Theorie zweifellos hegemonial, woraus folgt: Je mehr die Studis zuhören, desto schlechter wissen sie über Israel und Juden Bescheid, aber um so größer wird ihr Selbstvertrauen – Dunning und Kruger lassen grüßen.
Der »›progressive‹ Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung« (Elbe) nimmt in einer Art globaler Arbeitsteilung mit islamistischen Terrorgruppen und Antisemitenregimes eine zentrale Rolle in der Bedrohung jüdischen Lebens ein. Das sitzt, und der Applaus von der falschen Seite darf nicht über die hohe Qualität hinwegtäuschen: Die Rechte, die ihre verlogene Israel-Liebe (siehe konkret 8/24) gerade raustrompetet, um endlich jedes antirassistische Projekt des Antisemitismus überführen zu dürfen, zeigt sich von Elbe mitunter begeistert. Wer lesen kann, wird solches Lob schnell als die reaktionäre Polemik erkennen, die es ist.
Die Begeisterung über Elbes Buch hält sich dennoch in Grenzen, weil bei ihm, wenn er eine akademische »Elite« anprangert, die »objektiv am Selbstmord der liberalen Demokratien« arbeitet, der Kapitalismus fast ungeschoren davonkommt. Ja, unter dem Scholzomat lebt es sich besser als unter den Vernichtungskriegern der Hamas, aber selbst angesichts der Barbarei beweist sich linke Kritik an der Verachtung für die »verwaltete Welt« (Marcuse). Nicht zuletzt, weil moderner Antisemitismus deren pathologisch-projektive Verarbeitung ist.

Jan Miotti

Ingo Elbe: Antisemitismus und postkoloniale Theorie. Edition Tiamat, Berlin 2024, 408 Seiten, 28 Euro