Haupt- und Nebensetz
Wieland Schwanebeck über das Buch Das All im eigenen Fell von Clemens J. Setz
Seitdem Twitter zu X umetikettiert worden ist, finden immer mal wieder öffentlichkeitswirksam inszenierte Abwanderungsbewegungen statt. Nicht alle, die gehen, bleiben dauerhaft weg, einige lassen sich ihre stillgelegten beziehungsweise gelöschten Accounts noch vergolden wie einst Jan Böhmermann (Gefolgt von niemandem, dem du folgst, 2020). Anderes verschwindet tatsächlich für immer, denn die seit Kafka gepflegte Geste der Werkauslöschung bleibt auch im digitalen Zeitalter populär. Gegen das digitale Vergessen sperrt sich Clemens J. Setz mit einem verdächtig analogen Vorhaben, nämlich einer gedruckten Anthologie der Twitterpoesie. Das Buch besteht jeweils zur Hälfte aus Setz’ eigenen Versen sowie aus Texten anderer.
Anschaulich stellt Setz Techniken und Eigenheiten der von ihm bewunderten Dichter vor, doziert etwa über grammatikalische Verschrobenheiten des Enigmatikers Luni (Account: @LunaticAbsturz), dessen Notizen Setz teils nur noch aus dem Gedächtnis rekonstruieren kann (»Jetzt mit mein Spazierstock Frösche aufspießen wie so geisteskranke Herr Baron«), rühmt den Witz von Carla Kaspari (@carlakaspari) – »november / november / deine eltern sind / geschwister« – und weidet sich an den Orakelsprüchen des Bots @kochkunstebooks, der sein Material aus historischen Kochbüchern sampelt (»Man formt flache Klöße aus dem entferntesten Alterthum«). Am Rande denkt Setz über die literarische Tradition der Selbstlöschung nach und beklagt die Ignoranz des konservativen Feuilletons gegenüber den Online-Poeten.
Amüsant sind auch seine eigenen Twitterverse: launige Gelegenheitsreime (»im Fernsehen geht es um die Nachfolge der Grünen / und in der Sahara weht Sand um die Dünen«), Wortspiele (»Abends löst Gott den Pendlerverkehr / wie andere Kreuzworträtsel«) und Fundstückcollagen. Die 2016 vollzogene Erweiterung von 140 auf 280 Zeichen entfesselt in Setz den Reimer, ohne dass der bekennende Vielschreiber auf Knapplösungen verzichtet: »(Der Schnurrbart) hängt von Licht durchflutet da / Hurra.«
Von hinten nach vorn durchlesen muss man dieses sympathische Konservationsprojekt vermutlich nicht – aber das macht ja mit Twitter/X zum Glück auch keiner.
Clemens J. Setz: Das All im eignen Fell: Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie. Suhrkamp, Berlin 2024, 192 Seiten, 23 Euro