Hundert Jahre Biegsamkeit
Am 14. Februar 2024 wurde der marxistische Soziologe Boris Kagarlitsky in einem Berufungsverfahren zu fünf Jahren Straflager verurteilt – vorgeblich wegen „Unterstützung des Terrorismus“, tatsächlich wegen seiner Kritik am russischen Krieg in der Ukraine. konkret wird den eklatanten Vorgang in den nächsten Tagen eingehend darstellen. Weil das Ziel politischer Verfahren gegen Intellektuelle immer ist, sie zum Verstummen zu bringen, sei hier ein Text über das sowjetische Bildungssystem wiederveröffentlicht, den Kagarlitsky für konkret 12/22 verfasste. Er schreibt darin: „Das Volk wurde unterrichtet, erzogen, befreit – und eingeschüchtert.“ Von der Sowjetunion blieb wenig übrig. Leider gehört die staatliche Einschüchterung dazu.
Die Sowjetunion erzielte in der Bildung der Bevölkerung beispiellose Erfolge – und verspielte sie durch permanente Entmündigung. Von Boris Kagarlitsky
Die UdSSR wurde vor hundert Jahren, am 30. Dezember 1922, gegründet und im Dezember 1991 aufgelöst. Man kann die Geschichte dieses Staats als einen Versuch betrachten, die verschiedenen Völker, die auf dem Gebiet des ehemaligen Zarenreichs lebten, auf der Grundlage eines autoritären Föderalismus zusammenzuführen. Die zahlreichen Konflikte, die seit dem Zerfall der Sowjetunion ausgebrochen sind, insbesondere der gegenwärtige Krieg in der Ukraine, zeigen, dass dieser Versuch trotz einer Reihe von Zwischenerfolgen zum Scheitern verurteilt war.
Man könnte die Geschichte der UdSSR, des ersten sozialistischen Staates der Welt, auch als erledigte Angelegenheit behandeln. Als Stalin 1936 die neue sowjetische Verfassung präsentierte, erklärte er den vollständigen und endgültigen Sieg des Sozialismus. Er begründete dies damit, dass es im Land keine bürgerliche Klasse mehr gäbe. Diese Behauptung widersprach der Logik und auch der marxistischen Theorie. Das positive Programm der sozialistischen Revolution - Macht des Volkes und öffentliche Kontrolle über die wirtschaftliche Entwicklung – wurde nie erfüllt. Durch die Wiederkehr des Kapitalismus in den 1990er Jahren war es sinnlos, die Diskussion über den sozialen Charakter des Sowjetstaats fortzusetzen. Russland und die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken wurden fest in das kapitalistische Weltsystem eingebunden und bildeten dessen neue Peripherie.
Bedeutet dies, das sowjetische Projekt nun als endgültig abgeschlossen und gescheitert zu betrachten? Ich halte eine solche Schlussfolgerung nicht nur für verfrüht, sondern auch für falsch. In den fast 70 Jahren, die das sowjetische Projekt dauerte, fand in der Sowjetunion eine umfassende Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft statt. Obwohl sie nicht einheitlich war, betraf sie alle Sowjetrepubliken, einschließlich der Gebiete, deren Entwicklung zuvor der Logik kolonialer Ausbeutung unterworfen war. (In diesem Sinne ist nichts lächerlicher und antihistorischer, als zu versuchen, die Entwicklung der neuen unabhängigen Staaten anhand des modischen postkolonialen Diskurses zu analysieren). Anders als im kapitalistischen Weltsystem während des größten Teils des 20. Jahrhunderts erfolgte die Umverteilung der Ressourcen nicht von der Peripherie zum Zentrum, sondern vom Zentrum zur Peripherie. Das war eine Grundlage für das rasche Wirtschaftswachstum in der ersten Entwicklungsphase der UdSSR.
Die rasche Industrialisierung und Urbanisierung, die die sowjetischen Ideologen als die wichtigste Errungenschaft des neuen Staates betrachteten, war jedoch nur ein Aspekt eines viel umfassenderen und tiefergreifenden Modernisierungsprozesses. Die Texte der frühen sowjetischen Kader – von Lenin und Lunatscharski bis hin zu Stalin und Trotzki – lassen keinen Zweifel daran, dass die Sowjetunion ein in der Geschichte beispielloses Aufklärungsprojekt war. Während die Ideen von Marx und Engels trotz des ständigen Zitierens ihrer Werke durch die Machthaber nur in sehr geringem Maße verwirklicht wurden, setzten sie die Pläne der französischen, deutschen und russischen Aufklärer des 18. und 19. Jahrhunderts konsequent und mit Nachdruck um.
Die Überwindung des Analphabetismus, die weit verbreitete und oft erzwungene Übernahme von Praktiken der Bürgerbeteiligung, die beharrliche und großzügige Förderung von Bildung und Wissenschaft durch den Staat, der Glaube an den Wert des gedruckten Worts und des öffentlichen Denkens (dessen Kehrseite eine pingelige und kleinliche Zensur war), die Umwandlung der Kunst (einschließlich so elitärer Gattungen wie Oper und Ballett) in eine öffentliche Domäne, zentralisierte Programme zur Förderung des nationalen Schrifttums und der Literatur indigener Völker, die bis dahin weder das eine noch das andere hatten – all dies wurde möglich.
Es sollte nicht überraschen, dass die konsequenten Bemühungen um die Bildung der Massen mit einem oft rücksichtslosen Autoritarismus einhergingen. Historisch gesehen ist die Ideologie der Aufklärung mit den Werten der modernen Demokratie verbunden. Aber nur in dem Sinne, dass ein aufgeklärtes Volk in der Lage sein soll, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und durch die kompetente Wahl würdiger Anführer seine künftige Entwicklung zu bestimmen.
Aber das sollte erst am Ende des Wegs geschehen, wenn die Ziele erreicht und die Aufgaben bewältigt sind. Unmittelbar im Prozess schien es notwendig, alles zu beseitigen und zu unterdrücken, was den Fortschritt behinderte. Es kann keine Diskussion zwischen Lehrer und Schüler darüber geben, wieviel zwei mal zwei ist. Über Lernaufgaben wird so wenig debattiert wie über die Ausführung militärischer Befehle. Das Bildungswesen birgt ein großes Potenzial für Autoritarismus.
Der Schriftsteller und Dissident Andrei Sinjawski beklagte, die sowjetische Gesellschaft sei eine Kombination aus Gefängnis und Schule. Diese Feststellung trifft auf die Natur des Systems genau zu, und zwar nicht nur im negativen Sinne. Das Wissen wurde mit autoritären Methoden aufgezwungen. Das Volk wurde unterrichtet, erzogen, befreit – und eingeschüchtert. Der Sowjetmensch war ständig mit Widersprüchen konfrontiert. Er wurde mit den höchsten humanistischen Werten, einschließlich dem Wunsch nach Freiheit, indoktriniert und dazu erzogen, Entscheidungen zu treffen, Initiative, Kreativität und kritisches Urteilsvermögen an den Tag zu legen. Aber er wurde jedesmal bestraft, wenn seine Initiative nicht den Anweisungen der Vorgesetzten folgte und sein kritisches Denken zu Schlussfolgerungen führte, die für die Regierungspartei unbequem waren.
Der Erzieher und der Schüler befanden sich in einer ständigen Interaktion, die nie dagewesene Möglichkeiten schuf und unweigerlich zu immer größeren Konflikten führte. Je offensichtlicher die Erfolge der Volksbildung waren, desto akuter wurden die systemischen Probleme der sowjetischen Gesellschaft. Jede neue Entwicklungsstufe, die die sowjetische Gesellschaft erreichte, brachte neue Probleme und Widersprüche mit sich. Die Diktatur der kommunistischen Intellektuellen und der kleinen, aber aufgeklärten Arbeiterklasse in einem rückständigen Agrarland konnte anfangs von der alten Elite angefochten und wegen brutaler, grober und oft wenig kompetenter Maßnahmen angeprangert werden. Dies war später nicht mehr der Fall, als die Alphabetisierung Allgemeingut wurde.
Die Sowjetunion konnte sich stolz als „das meistlesende Land der Welt“ präsentieren. Über ein Territorium von „einem Sechstel der Erdoberfläche“ breitete sich ein Netzwerk von Universitäten und Forschungszentren aus. Die Mehrheit der Sowjetmenschen lebte in Städten, und die UdSSR hatte die zweitstärkste Wirtschaftsleistung der Welt. Übrigens wäre das militärische Potenzial der UdSSR – dessen Überreste das postsowjetische Regime in Russland heute verschwendet – ohne die Massenausbildung und die Anwendung moderner Technologien nicht möglich gewesen. Der Aufstieg der UdSSR zur Supermacht wurde von Wissenschaftlern ermöglicht, darunter auch solchen, die zu Stalins Zeiten in den Strafkolonien des Gulag forschten.
Die nach Stalins Tod eingeleiteten Reformen waren eine logische Reaktion auf die Herausforderungen eines modernen Industriestaats. Doch die Reformen waren unvollständig und inkonsequent. Sie konnten auch nicht anders sein, denn sie mussten einen unüberwindlichen Widerspruch überwinden: Den Bürgerinnen und Bürger mehr Rechte und Freiheiten einzuräumen, ohne die Macht der Bürokratie einzuschränken.
Der Schüler war nicht nur erwachsen geworden und hatte sein Studium mit Auszeichnung abgeschlossen, er hatte den Lehrer in vielerlei Hinsicht bereits übertroffen. Der Lehrer war aber nicht bereit, den Schüler loszulassen und ihm die Freiheit der politischen und moralischen Selbstbestimmung zuzugestehen. Er erfand im Gegenteil immer neue Kontrollmöglichkeiten und versuchte mit einer Beharrlichkeit, die ihresgleichen suchte, und unter Androhung von Strafen, erwachsenen Menschen dieselben Weisheiten, die ihnen aus Schulzeiten bekannt waren, einzuhämmern.
Angesichts der ständigen aufdringlichen Belehrungen und der kleinlichen kontraproduktiven Kontrolle durch den Staat war der sowjetische Mensch nicht nur permanent frustriert, sondern wurde auch aggressiv infantil. Die Menschen lehnten die ihnen von außen aufgezwungene Aufklärung ab, da die Alltagserfahrung in einem eklatanten Widerspruch zu den verkündeten Idealen stand. Zu Beginn unterdrückte die Bürokratie sehr erfolgreich die Versuche, sich im Namen eines Ideals gegen die Realität aufzulehnen. Später, als die Rebellen erkannten, dass Widerstand zwecklos war, wurden die Ideale selbst in Frage gestellt.
Die Kombination aus weitverbreitetem Zynismus und Pragmatismus, hohem Bildungsniveau und praktischer Kompetenz bestimmte weitgehend das tragische Ergebnis der Perestroika. Zunächst akzeptierte das sowjetische Volk den Kapitalismus, ohne sich über die damit verbundenen Probleme und Gefahren Gedanken zu machen. Als dann alle negativen Aspekte der bürgerlichen Ordnung für sie offensichtlich wurden, begannen sie, statt zu kämpfen und zu revoltieren, aktiv nach individuellen Lösungen zu suchen. Dabei nutzten sie das in der Sowjetzeit erworbene Wissen. In den meisten Fällen waren sie erfolgreich.
Leider ging die kapitalistische Restauration, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stattfand, überall mit einer Archaisierung der sozialen Beziehungen, einer Primitivierung der Wirtschaft, einem Abbau technologisch hoch entwickelter Industrien und infolgedessen mit einer Barbarisierung der Politik einher. Der Kampf um die Demokratie muss in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion von vorne beginnen, oft unter wesentlich schlechteren Bedingungen als in der späten UdSSR. Dies bestätigt einmal mehr die These, dass der Fortschritt zur Freiheit ohne Beteiligung der Arbeiter an der Entscheidungsfindung und ohne Vergesellschaftung des Eigentums unmöglich ist.
Es steht ein langer, schwieriger Weg bevor, um aus der Krise herauszukommen, in die Russland, die anderen postsowjetischen Republiken und die ganze Welt durch die Politik der bürgerlichen Restauration gelangt sind. Grund zum Optimismus gibt jedoch die Tatsache, dass die Früchte der Aufklärung, die wir von der Sowjetunion geerbt haben, nicht völlig verlorengegangen sind. Sowohl die positiven als auch die negativen Erfahrungen der sowjetischen Geschichte sind zum Erbe der gesamten Menschheit geworden.
Boris Kagarlitsky schrieb in konkret 11/22 über die Unfähigkeit der Linken, den Interessen der Arbeiterklasse eine Stimme zu geben