Zum Heulen

Am 3. Oktober zelebriert die Nation zum 23. Mal ihr bedeutendstes Ritual – den »Tag der deutschen Einheit«. Warum die deutsche Teilung so entsetzlich war, wird den Insassen der Republik auch an gewöhnlichen Tagen gepredigt – zum Beispiel im Berliner »Tränenpalast«.
Von Marco Tschirpke

Wenn hierzulande der Eintritt in ein Museum kostenlos ist, darf man getrost davon ausgehen, dass in ihm nicht das Gute, Wahre und Schöne geschaut werden kann, sondern dass es sich um eine politische Bildungseinrichtung handelt. Wie zum Beispiel die Berliner Dauerausstellung »Tränenpalast – Ort der deutschen Teilung«.

Ich schließe mich einer Schar Viertklässler an, die sich in diesem ehemaligen Grenzübergang am Reichstagufer mit der Nachkriegszeit konfrontiert sieht. Die Neun- und Zehnjährigen sind durchweg Experten für Pokémonkarten; Staatswesen und Weltkriege interessieren sie weniger. Für die klare Einteilung in Gut und Böse hingegen haben sie dank Harry Potter und den Avengers einen Sinn. Günstig also der Zeitpunkt, die Grundschüler für ein zeitgemäßes Weltbild vorzuglühen. Mauer, Flucht und Stacheldraht – was wünscht sich ein Kinderherz mehr, als die allerdunkelsten Kapitel der Geschichte im Gänsemarsch zu durchqueren!

Der 1962 mit direkter Anbindung zum Bahnhof Friedrichstraße erbaute Grenzübergang bildet eine topsanierte Kulisse, um »das Ausmaß des perfiden Überwachungssystems der SED-Diktatur« zu verdeutlichen. Eine originale Kontrollkabine steht bereit, um »den schneidenden Ton und die strengen Blicke der Kontrolleure« nachzuerleben. Der touristische Reiz der Hauptstadt besteht wohl zur Hälfte aus dem Nimbus der Mauer, die in beinahe jedem Stadtteil ihre Hinweisschilder, Mahnmale und Bodenmarkierungen hat. Die Dauerausstellung »Alltag in der DDR« in der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg (frei der Eintritt auch hier) trägt dieselbe Bonner Handschrift. Immer mit von der Partie ist die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Wenn es darum geht, den jüngeren Generationen einen tüchtigen Abscheu gegen alle »kommunistischen Regimes« einzuimpfen, stehen gerne mal 75 Millionen Euro bereit. Mit diesem Startkapital aus dem SED-Vermögen wurde die Stiftung 1998 ins Leben gerufen. Sollten die alten Genossen die Kriminalisierung ihres Tuns mal schön selber bezahlen!

Wer eine Führung bucht, wird von persönlich Betroffenen durch ein Geschichtsbild geführt, das bis in die feinsten Formulierungen hinein allen Standards weltanschaulicher Einseitigkeit genügt. »Tagtäglich müssen sich die Ostdeutschen mit den Bedingungen der Diktatur arrangieren. Die Machthaber wollen das Leben der Menschen umfassend lenken und kontrollieren.« Durch die bloße Zusammenballung von Reliquien des kommunistischen Propagandaapparats beschleicht den Besucher der Kulturbrauerei ein wohliges Gruseln. Wo sich FDJ-Hemd, Stasi-Akte und Dienstwaffe in spärlich beleuchteten Korridoren zeigen, kann doch der unterjochte Bürger nicht anders gekonnt haben, als fortzuwollen aus dem bedrückenden Elend. Das Personal beider Ausstellungen wirkt wie zusammengeklaubt aus den Opferverbänden. Wer Sachlichkeit und Nüchternheit geringschätzt, der kann auf engagierte Laien nicht verzichten. Den »Trennungsgeschichten von auseinandergerissenen Familien« im »Tränenpalast« fehlt so gut wie jeder Kontext. Nirgends fragt die Ausstellung nach dem historischen Ablauf der Ereignisse, die letztlich zum Bau einer Mauer führten. Dass westdeutsche Währungsreform und Staatsgründung wichtige Faktoren auf dem Weg hin zur Schließung der Grenze waren, erfährt man hier nicht. Dass der Westen gezielt im großen Maßstab Fachkräfte der DDR abwarb – nichts dergleichen. Thomas Mann stellt im Vorsatz seines Romans Der Zauberberg fest, dass nur das Gründliche wahrhaft unterhaltend sei. Wen also kann wundern, dass eine halbe Geschichte, wie sie in Berlin über den Mauerbau erzählt wird, so anödet?

Ohne Zweifel war die DDR für den Oppositionellen in ihr ein Berg aus Schönfärberei, Bevormundung und Schikane. Solches Empfinden aber hochzurechnen auf die Mehrheit der Bevölkerung ist ein billiger Taschenspielertrick. Doch je mehr Zeitgenossen mit freundlicherer DDR-Erfahrung wegsterben, desto leichter wird es Ausstellungsmachern fallen, der Nachwelt den östlichen Block als ein Reich der Finsternis anzudrehen. Zumal da ihnen ein Großteil früherer SED-Mitglieder, die sich inzwischen selbst als verkappte Bürgerrechtler imaginieren, dabei nicht im Wege steht.

Am Ende des Besuchs im »Tränenpalast« entnehme ich den verständigen Gesichtern der Viertklässler, dass sie begriffen haben, welches Glück ihnen geschah, als sie in die beste aller möglichen Welten hineingeboren wurden. Zu blöd, dass ausgerechnet die beste zugleich die schlechteste ist im Hinblick auf ihren Beitrag zur Unbewohnbarmachung des Planeten. Wenn selbst den klugen Köpfen in den Think-Tanks des Abendlandes partout kein Wirtschaftsmodell einfallen will, in dem Flora und Fauna kein Dorn im Auge des Wirbelsturms wären, liegt das nicht zuletzt, sondern zuerst daran, dass Systeme, die die Nichtausbeutung des Menschen durch den Menschen anstreben, in die Schmuddelecke gestellt werden wie der Pionierwimpel in die Glasvitrine des Hauses der Geschichte.

Man bedenke, dass die ersten Formationen des Kapitalismus den arbeitenden und versklavten Massen ein ebensolches Grauen bescherten wie Jahrhunderte später jene frühen Ausformungen des Sozialismus, wenn nicht ein schlimmeres. Nehmen wir beispielsweise die Staaten des Warschauer Vertrags: Dem einen bedeuteten sie Barbarei, dem anderen gestatteten sie ein paar verhuschte Ausblicke auf die friedfertigen Möglichkeiten von uns Primaten, die wir doch immer wieder zurückfallen in affige Epochen wie die gegenwärtige.

Marco Tschirpke schrieb in konkret 5/22 über Kunstgewerbe in Zeiten des Krieges