Go East!
Aus konkret 3/22: Versuch, ein wenig Ordnung in die nicht nur propagandistische Aggression der Nato gegen Russland zu bringen. Von Jörg Kronauer
Mitte Januar verkündete der »Spiegel« Furchterregendes. Zwar sei noch nicht sicher, ob »Putin die Ukraine tatsächlich überfallen« werde, meinte das Blatt (bildete vorsichtshalber aber schon mal ein paar russische Panzer ab). Man wisse aber inzwischen, dass »Putin« womöglich noch Schlimmeres im Schilde führe. Der »Spiegel« hatte von anonymen Insidern bei der Nato erfahren, dort halte man es »nicht einmal mehr für ausgeschlossen«, dass »Putin« »den bewaffneten Konflikt mit dem Westen« sucht. Etwa so: »Die russischen Streitkräfte könnten ihre zuletzt teils massiv gesteigerte Präsenz im Mittelmeer, im Nordatlantik und in der Arktis nutzen, um auf breiter Front loszuschlagen – selbst gegen Nato-Staaten.« »Putin« umzingelt den Westen, um in Nato-Staaten einzumarschieren? Da hatten die Rechercheure des Sturmgeschützes der deutschen Kriegstreiberei mal wieder blanken Nonsens aufgedeckt. Zwar gebe es noch »keine konkreten Hinweise auf Vorbereitungen für einen solchen Angriff«, räumte das Blatt ein – aber die braucht man auch nicht. Der Name »Putin« reicht.
Der Konflikt um die Ukraine ist seit Ende 2021 auf eine Weise eskaliert wie zuletzt 2014. Die Eskalation ist dabei nicht, wie die westliche Propaganda glauben machen will, nur das Resultat der Entscheidung »Putins«, russische Truppen näher an die ukrainische Grenze zu verlegen. Sie ist das Ergebnis von Spannungen, die sich über Jahre systematisch aufgebaut haben.
Blickt man auf die Entwicklung der Beziehungen zwischen dem Westen und Moskau in den vergangenen Jahren, so fällt – unter anderem – auf: Die USA und die Nato haben ihre militärischen Aktivitäten in Ost- und Südosteuropa in größtmöglicher Nähe zur russischen Grenze systematisch intensiviert. Ihre Manöver wurden von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer – und nach Norden bis zum Nordkap – ausgeweitet, die Luftraumüberwachung verstärkt, Truppen stationiert, deutsche Soldaten etwa in Litauen; das Großmanöver Defender Europe übt seit 2020 einmal im Jahr die Verlegung von Großverbänden aus Nordamerika über den Atlantik in Richtung Russland. Hardliner dringen darauf, die verstärkte Nato-Präsenz nicht mehr auf die Ostseeregion zu begrenzen, sondern auch im Schwarzmeergebiet neue Einheiten zu stationieren; Ende 2021 wurde etwa bekannt, dass die Nato dauerhaft sogenannte Battle Groups in Rumänien und Bulgarien installieren will. Vorfälle wie das absichtsvolle Eindringen eines britischen Zerstörers in die Zwölfmeilenzone vor der Krim im Juni 2021 zeigen zudem, dass der Westen beginnt, die russische Seite mit gezielten Provokationen zu testen.
Hinzu kommt, dass sich die Lage in der Ostukraine aus russischer Sicht verdüstert hat. Kiew war nie bereit, die Bestimmungen des Minsker Abkommens, auf die es sich am 12. Februar 2015 hatte einlassen müssen, umzusetzen; auch die Verhandlungen mit Berlin, Paris und Moskau im sogenannten Normandie-Format brachten keinen Durchbruch, und nach einem letzten Treffen am 9. Dezember 2019 schliefen sie mehr oder weniger ein. Im Herbst 2021 bereitete Kiew ein Gesetz vor, das das Minsker Abkommen vermutlich endgültig erledigt hätte; es sah den Bruch mit einigen seiner zentralen Bestimmungen vor. Gleichzeitig rüsteten mehrere westliche Staaten die ukrainischen Streitkräfte auf, mal mit Schützenpanzern, mal mit Panzerabwehrraketen, und als Bonus gab’s Trainingsprogramme mit Militärausbildern aus den USA und aus Großbritannien. Brenzlig wurde es, als die ukrainischen Streitkräfte am 26. Oktober 2021 erstmals eine ihrer von der Türkei gelieferten Bayraktar-TB2-Drohnen im Osten des Landes einsetzten. Das sind jene Drohnen, mit deren Hilfe Aserbaidschan im Herbst 2020 seinen Krieg gegen Armenien gewonnen hatte. Bereitete Kiew die (Rück-)Eroberung von Donezk und Luhansk vor?
Für Russland wurde beides – das stete Vorrücken der Nato und Kiews beharrliche Aufrüstung – zunehmend bedrohlich. Zwar war Moskau seinerseits nicht untätig gewesen, sondern hatte etwa mit dem Großmanöver Zapad, bei dem im September 2017 russische und belarussische Truppen gemeinsam in Westrussland und in Belarus trainierten, seine Abwehrbereitschaft demonstriert und im September 2021 wiederholt. Nach der Kündigung bedeutender Rüstungskontrollverträge – des INF- und des Open-Skies-Vertrags – durch die Trump-Administration strebte die russische Regierung allerdings auch neue Verhandlungen über die ins Rutschen geratene Sicherheitsstruktur in Europa an. Anfang April 2021 begann sie, Druck zu machen. Russische Truppen verharrten nach einem Manöver länger als erwartet nahe der Grenze zur Ukraine; weitere Truppen stießen hinzu. In Westeuropa wurde bereits damals über einen möglichen Überfall auf die Ukraine spekuliert. In Washington jedoch kam die Botschaft an. Am 13. April telefonierten die Präsidenten Joe Biden und Wladimir Putin, sprachen über Rüstungskontrolle und berieten über ein Treffen. Am 21. April warnte Putin in einer öffentlichen Rede davor, Russlands rote Linien zu überschreiten. Am 22. April kündigte Moskau die Rückverlegung der Truppen ins Landesinnere an: Putins Treffen mit Biden, das schließlich am 16. Juni in Genf stattfinden sollte, war unter Dach und Fach.
Ende Oktober wiederholte sich der Vorgang: Mit Blick auf russische Truppenkonzentrationen in Westrussland warnten US-Medien vor einem angeblich drohenden Überfall auf die Ukraine. Erneut stellte sich die Frage: Was war dran? Die Regierung in Kiew hegte keinen besonderen Verdacht. Noch am 7. November ließ Präsident Wolodymyr Selenskyj über einen Sprecher mitteilen, sein Verteidigungsminister habe »nichts Alarmierendes« entdecken können; es sei »eine offene Frage, wieso die amerikanischen Massenmedien derlei Informationen verbreiten«. Erst nach allerlei Gesprächen mit CIA-Chef William Burns, US-Außenminister Antony Blinken und anderen gaben Kiewer Regierungsvertreter an, nun doch eine akute Bedrohung durch russische Truppen zu erkennen. Dennoch rechnete weiterhin nur die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung mit einer russischen Invasion, und diejenigen, die das taten, bezogen sich oft genug auf westliche Medien. Im Deutschlandfunk kam im Januar eine ukrainische Journalistin zu Wort, die vermutete, in der westlichen Berichterstattung drücke sich »eine politische Strategie im Vorfeld der Verhandlungen mit Russland aus«.
Alles Panikmache also, was im Westen über die Truppenkonzentrationen in Russland verbreitet wurde? Ja und nein. Zwar sprach vieles dafür, dass Kiew Anfang November richtiggelegen hatte und eine russische Invasion nicht drohte; Beobachter wiesen zur Begründung darauf hin, dass die Bevölkerung in der Zentral- und vor allem in der Westukraine nicht, wie auf der Krim oder im Donbass, prorussisch, sondern durchweg antirussisch eingestellt war – beste Aussichten also für einmarschierende russische Truppen, sich einen Massenaufstand wie im Afghanistan der achtziger Jahre an den Hals zu holen. Das jedoch lag kaum im russischen Interesse.
Trotz allem hatte der Westen ein Problem: Für Staaten, die sich als Schutzmacht eines anderen gerieren, wie es die transatlantischen Mächte gegenüber der Ukraine tun, reichen Wahrscheinlichkeiten nicht aus. Wozu es führen kann, wenn man Moskau unterschätzt, hatte der Westen im August 2008 in Georgien und vor allem im März 2014 auf der Krim und im Donbass erlebt: Niemand hatte Russlands jeweilige Reaktion dort vorausgesehen. Konnte man in der jetzigen Situation also sicher sein, nicht schon wieder einer Fehleinschätzung zu erliegen? Nein, konnte – und kann – man nicht. Aus westlicher Sicht lag es nahe, Russland aufzufordern, durch eine Verlegung seiner Truppen ins Landesinnere wie schon im April 2021 Gewissheit zu schaffen. Dazu aber war Moskau diesmal nicht bereit. Immerhin befanden sich die russischen Truppen auf russischem Territorium, wo sie im Grundsatz tun und treiben konnten, was sie wollten – jedenfalls, solange dem keine Rüstungskontrollvereinbarung entgegenstand. Hinzu kam, dass die russischen Einheiten nichts anderes taten als US- und Nato-Truppen in Ost- und Südosteuropa. Man kann die Manöver, die Moskau um den Jahreswechsel in relativer Nähe zur Ukraine und dann im Februar auch in Belarus abhielt, als Hinweis darauf verstehen – und als Aufforderung, der Westen möge sich vielleicht doch zu Verhandlungen über Rüstungskontrolle und zu Zugeständnissen bei seinen eigenen militärischen Aktivitäten in Ost- und Südosteuropa bequemen, wenn er Gewissheit an der ukrainischen Grenze wünsche.
Moskau ist es auf diese Weise gelungen, Washington zu Verhandlungen zu bewegen. Am 7. Dezember sprachen Biden und Putin bei einem Videogipfel unter anderem über »strategische Stabilität«. Am 8. Dezember teilte Biden mit, wenn alles gut laufe, könnten bereits am 10. Dezember hochrangige Gespräche angekündigt werden, die Moskaus prinzipielle »Bedenken bezüglich der Nato« aufgreifen und nach »Übereinkünften« suchen sollten, um »die Temperatur an der östlichen Front zu senken«. Am 13. Dezember brach die Europa-Beauftragte des US-Außenministeriums, Karen Donfried, für drei Tage nach Kiew und Moskau auf, um den Gesprächsfaden weiterzuspinnen. Am 30. Dezember telefonierten Biden und Putin erneut. Am 21. Januar kamen die Außenminister der beiden Länder, Antony Blinken und Sergej Lawrow, persönlich in Genf zusammen. Die Verhandlungen waren in Gang gekommen.
In der unübersichtlichen politischen Entwicklung seit dem Videogipfel vom 7. Dezember lassen sich drei Aspekte ausmachen. Einer betrifft die Frage, mit welcher Berechtigung Russland eigentlich die Präsenz der USA und der Nato in Ost- und Südosteuropa kritisiert. Ein zweiter hat mit der Frage zu tun, wieso sich Washington überhaupt auf Verhandlungen mit Moskau eingelassen hat; selbstverständlich war das nicht. Daneben spielt eine Rolle, dass die Staaten Westeuropas an den Verhandlungen nur indirekt beteiligt sind: Für ihr Machtstreben ist das ein harter Schlag. All diese Aspekte wirken im Hintergrund, während der Streit über die russische Truppenkonzentration in relativer Nähe zur Ukraine und über militärische Maßnahmen des Westens im Vordergrund steht.
1. Aspekt: Hat Russland überhaupt das Recht, sich über Aktivitäten der Nato in Ost- und Südosteuropa zu beschweren? Darf nicht jeder Staat seine Militärbündnisse frei wählen, und darf nicht jedes Militärbündnis tun und treiben, was es für notwendig hält, um seine Sicherheit zu garantieren? Zu diesen Fragen gehört die in Moskau beharrlich wiederholte Aussage, Russland habe einst vom Westen Zusagen erhalten, die Nato werde nicht nach Osten expandieren. Was ist da dran?
In den Verhandlungen des Westens mit der Sowjetunion über die damaligen Umbrüche im allgemeinen und über die Übernahme der DDR durch die BRD im besonderen kamen am 9. Februar 1990 US-Außenminister James Baker und Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow auf die Nato zu sprechen und auf die Frage, ob ihr das vergrößerte Deutschland noch angehören dürfe. In den Archiven findet sich zu dem Treffen eine handschriftliche Notiz, in der Baker festhielt, er habe von Gorbatschow die Zustimmung zu einem deutschen Verbleib in der Nato erhalten – allerdings unter der Bedingung, dass sich deren »Jurisdiktion nicht nach Osten verschieben« werde, also nicht über das Gebiet der alten BRD hinaus. Baker fügte in einem Schreiben an Kanzler Helmut Kohl hinzu, Gorbatschow habe explizit bekräftigt: »Sicherlich wäre jede Ausdehnung des Nato-Gebiets inakzeptabel.« Das war der Stand der Debatte, und als solcher wurde er nicht revidiert. Außenminister Hans-Dietrich Genscher bestätigte am 10. Februar 1990 seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse laut einer Bonner Aktennotiz, »für uns stehe fest: Die Nato werde sich nicht nach Osten ausdehnen«. Weil es in dem Gespräch ja vor allem um die Frage gegangen war, ob das DDR-Territorium nach seiner Übernahme durch die BRD Teil der Nato werden solle, stellte Genscher klar, was »die Nichtausdehnung der Nato anbetreffe, so gelte dieses ganz generell« – also auch für alle Staaten östlich des »vereinigten« Deutschlands.
Allerdings erwies sich der Stand der Debatte vom 9./10. Februar 1990 als gleich doppelt problematisch. Zum einen hatte Moskau nur mündliche Zusagen erhalten und es versäumt, sich den Verzicht auf die Nato-Ostausdehnung schriftlich bestätigen zu lassen. Kanzler Kohl und US-Präsident George H. W. Bush diskutierten am 24./25. Februar 1990 in Camp David, wie damit umzugehen sei. Die Historikerin Mary Elise Sarotte zitiert Bushs Resümee: »Zur Hölle damit. Wir haben uns durchgesetzt, sie nicht. Wir können nicht zulassen, dass die Sowjets die Niederlage in letzter Minute abwenden.« Dabei blieb es – und noch heute streitet der Westen jede verbindliche Zusage gegenüber Moskau ab. Zum anderen ließen die belegbaren mündlichen Versprechungen eine Missinterpretation zu, die bereits Genscher am 10. Februar hatte ausräumen wollen: dass mit dem Verzicht auf die Nato-Ostausdehnung nur das Territorium der dahinscheidenden DDR gemeint gewesen sei. Gorbatschow hat später einmal erklärt, wohl in der Absicht, seine eigenen Versäumnisse zu entschuldigen: »Der Warschauer Pakt existierte doch noch. Die Frage«, ob die Nato sich über die ehemalige DDR hinaus weiter nach Osten ausdehnen werde, »stellte sich damals gar nicht«. Seitdem ist Gorbatschow einer der Kronzeugen für die verzerrende Auslegung, Moskau habe 1990 keine Einwände gegen eine Nato-Osterweiterung um die östlich von Deutschland gelegenen Staaten gehabt.
Den Fehler, sich auf verbale Versprechungen des Westens zu verlassen, hat Moskau seither nicht mehr gemacht. In der Nato-Russland-Grundakte vom 27. Mai 1997 konnte Russland als kleinen Ausgleich für die in jenem Jahr geplante erste Runde der Osterweiterung wenigstens geringfügige Zugeständnisse erreichen. Die Nato habe »nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass«, heißt es in dem Dokument, »nukleare Waffen im Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren«. Zudem nehme sie im »gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld« ihre »kollektive Verteidigung und andere Aufgaben eher dadurch wahr«, dass sie auf »Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung« setze, als dass sie »zusätzliche Kampftruppen dauerhaft« in Osteuropa stationiere. Letzteres ist der Grund, weshalb die Nato-Kampftruppen, die seit 2017 in Polen und im Baltikum stationiert sind, regelmäßig rotieren. Nimmt man es genau, dann sind die Gummiparagrafen der Grundakte (»keine Pläne«, »gegenwärtig«, »eher«) allerdings nicht viel wert.
Wichtig war für Moskau zudem ein anderes, weniger bekanntes Dokument, das auf dem OSZE-Gipfel am 19. November 1999 in Istanbul verabschiedet wurde: die Europäische Sicherheitscharta. In ihr wird ein derzeitiges Lieblingsrecht des Westens festgeschrieben: die freie Bündniswahl, die etwa auch in der Charta von Paris vom 21. November 1990 zu finden ist. »Wir bekräftigen das jedem Teilnehmerstaat innewohnende Recht, seine Sicherheitsvereinbarungen einschließlich von Bündnisverträgen frei zu wählen«, heißt es in Absatz 8 der Sicherheitscharta. Das ist aber nicht alles. Ganz wie im bürgerlichen Alltag die Freiheit des einen endet, wo die Freiheit des anderen beginnt, schreibt Absatz 8 für alle OSZE-Staaten vor: »Sie werden ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen«, denn: »Jeder Teilnehmerstaat hat dasselbe Recht auf Sicherheit.« Auch Russland also; und dass es Russlands Sicherheit tangiert, wenn nach den benachbarten baltischen Staaten nun auch noch die angrenzende Ukraine der Nato beiträte, liegt auf der Hand. Die Sache mit der freien Bündniswahl ist also komplex.
Sie in einer Weise zu lösen, die das Recht auf Sicherheit aller OSZE-Staaten, also auch Russlands, wahrt, war das Motiv, das Moskau veranlasste, auf Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten zu insistieren. Am 17. Dezember 2021 legte die russische Regierung konkrete Entwürfe für Verträge mit der Nato beziehungsweise mit den USA vor, die eine neue Sicherheitsordnung für Europa begründen sollen. Sie enthalten unter anderem den Verzicht auf jede weitere Nato-Osterweiterung, dazu Rüstungskontrollmaßnahmen und die Verpflichtung der Nato, die Stationierung ihrer Truppen in Ost- und Südosteuropa auf den Stand vom 27. Mai 1997 zurückzuführen, den Tag, an dem die Nato-Russland-Grundakte unterzeichnet wurde. In der Summe sind das Maximalforderungen. Nur: Die Entwürfe sind Grundlage für Verhandlungen, in denen sich schließlich eine Menge bewegen kann. Und in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten hat die Nato das Geschehen in Ost- und Südosteuropa so gründlich dominiert, dass, wenn ein für alle tragbarer Ausgleich geschaffen werden soll, erhebliche Zugeständnisse nötig sind.
2. Aspekt: Was hat Washington veranlasst, überhaupt Verhandlungen mit Moskau aufzunehmen? Selbstverständlich war dies nach den Jahren der Nato-Ostexpansion, des Aufrüstens, der Großmanöver nicht. Einen Hinweis mag man darin sehen, dass Biden am 8. Dezember äußerte, es gehe ihm darum, »die Temperatur an der östlichen Front zu senken«. Die »östliche Front« ist beileibe nicht die einzige, an der US-Truppen stehen. Es gibt noch die Front im Mittleren Osten, von der Biden die Truppen abzieht – Afghanistan –, um sie für eine dritte, die »asiatisch-pazifische Front« zur Verfügung zu haben, für den Machtkampf gegen China. Und dieser ist für die USA längst zentral: Nur die Volksrepublik hat das Potential, die USA in jeder Hinsicht als stärkste Macht der Welt abzulösen. Russland mag hier und da Ärger machen, in Syrien, in Libyen, in Mali; die Kapazitäten aber, wirtschaftlich mit den USA zu rivalisieren, hat es nicht.
Was folgt daraus? Zum einen müssten die USA wohl »alle ihre Ressourcen im Pazifik konzentrieren«, wollten sie sich gegen die Volksrepublik durchsetzen, urteilte Anfang Januar der russische China-Experte Wassili Kaschin. Zum anderen müssten sie darauf achten, dass sich Beijing nicht mit Moskau verbündet: Ein Zweifrontenkrieg gegen Russland und China werde die Kapazitäten der US-Streitkräfte »wahrscheinlich übersteigen«, äußerte im Sommer 2021 A. Wess Mitchell, von 2017 bis 2019 Staatssekretär für Europa und Eurasien im US-Außenministerium. Also müssten die Vereinigten Staaten, »ob sie wollen oder nicht, ihr Verhältnis zu Russland neu ausbalancieren«, hieß es in einem aufgeblasenen Strategiepapier (»The Longer Telegram«), das der Washingtoner Atlantic Council im Januar 2021 publizierte. Genau das habe die US-Administration mit ihren Verhandlungen mit Moskau im Sinn, urteilte im Januar Harald Kujat, Exgeneralinspekteur der Bundeswehr: Sie strebe »ein stabiles Verhältnis mit Russland an«, weil »China für sie der größere, der gefährlichere Gegner ist«.
3. Aspekt: Er betrifft die Mächte Westeuropas. Berlin und Paris hatten es in ihren Verhandlungen mit Moskau und Kiew (»Normandie-Format«) seit der Einigung auf das Minsker Abkommen am 12. Februar 2015 nicht vermocht, einen Durchbruch zu erzielen. Das hatte verschiedene Gründe, nicht zuletzt den, dass sich die Ukraine immer auf US-Unterstützung verlassen konnte und nie genötigt war, Zugeständnisse zu machen. Jedenfalls waren Deutschland und Frankreich gescheitert. Bei den Gesprächen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland waren sie außen vor – und das, obwohl es nicht nur um die Ukraine, sondern auch um eine Sicherheitsordnung für ganz Europa ging. »Sollte dieser Plan umgesetzt werden«, wetterte der Politik-Ressortleiter der »Süddeutschen Zeitung«, Stefan Kornelius, über die von Washington und Moskau angestrebte Vereinbarung, dann »muss sich die Europäische Union auf eine gewaltige Demütigung einstellen«: »eine Konferenz über die Sicherheit der Staaten Europas – ohne die Staatengemeinschaft Europas«. Es gehe nicht an, dass sich »Europa … von zwei Herren in Moskau und Washington«, die »der großmachttypischen Vorstellung« folgten, »Weltpolitik per Federstrich lösen zu können«, in ein »Korsett zwängen« ließe. Dagegen müsse die EU »ihren Gestaltungsanspruch deutlich machen«, und zwar »in aller Härte«.
»Europa« machte sich umgehend an die Arbeit. Außenministerin Annalena Baerbock, kaum drei Tage im Amt, teilte auf dem Treffen mit ihren G7-Amtskollegen am 11./12. Dezember in Liverpool mit: »Mit ganzer Kraft versuchen wir, die Verhandlungen mit Russland wieder aufzunehmen.« Am 21. Dezember setzte sich Kanzler Olaf Scholz bei Putin für einen baldigen Neubeginn der Verhandlungen im »Normandie-Format« ein. Am 6. Januar fand in Moskau ein deutsch-französisch-russisches Treffen auf Beraterebene statt; man habe die Möglichkeit erörtert, ein Treffen im »Normandie-Format« auf Ministerebene abzuhalten, hieß es anschließend. Am 26. Januar fand in Paris tatsächlich ein solches Treffen statt, abermals noch auf Beraterebene; Kiew hatte dafür – auf Druck aus Washington – den Gesetzentwurf aufgeben müssen, der mit dem Minsker Abkommen gebrochen hätte. Unabhängig davon hatte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell Anfang Januar auf einer Reise in die Ostukraine verkündet, es sei »klar, dass jede Diskussion zur europäischen Sicherheit die Europäische Union … einbeziehen muss«: »Ob sie es mögen oder nicht: Sie werden mit uns reden müssen.«
Washington hat die Staaten Europas tatsächlich in die Verhandlungen eingebunden – allerdings nur indirekt und im Nato-Rahmen, den es am verlässlichsten kontrolliert. Am 16. Dezember informierte die US-Europa-Beauftragte Donfried in Brüssel die Nato über ihre Gespräche in Moskau. Nachdem die stellvertretende US-Außenministerin Wendy Sherman am 10. Januar in Genf mit ihrem Amtskollegen Sergej Rjabkow verhandelt hatte, wurden die Gespräche am 12. Januar im Nato-Russland-Rat weitergeführt. Bei den eigentlichen Verhandlungen blieben Washington und Moskau unter sich. Präsident Macron und Kanzler Scholz bemühten sich jeweils, eigene Gesprächsverbindungen mit Russland aufzubauen, bislang mit zweifelhaftem Erfolg. Im Rahmen des Ukraine-Konflikts bekämpft eben nicht nur der Westen Russland; es finden parallel innerwestliche Konkurrenzkämpfe statt.
Und es kommen Brüche und Mängel in der westlichen Strategie hinzu. Die Pro-Nato-Kräfte in der Ukraine waren – man erinnert sich – in Kiew Anfang 2014 mit Unterstützung des Westens an die Macht gekommen; die westlichen Staaten präsentieren sich seither als ihre Schutzmacht. Nun sieht sich die Ukraine von Russland militärisch bedroht – und was teilt US-Präsident Biden Anfang Dezember mit? Truppen zu ihrer Verteidigung schicken würde Washington nicht. Man kann sich ausmalen, wie diese Mitteilung in Kiew ankam. Die USA und die Nato mussten sich etwas einfallen lassen, um ihr Schutzmachtgehabe nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Also drohten sie Russland für den Fall eines Einmarschs harte Sanktionen an, bis sich Biden Mitte Januar verplapperte und mitteilte, bei einem nur »geringfügigen« Einmarsch würden auch nur geringfügige Sanktionen verhängt werden. Zwar bemühte man sich umgehend, diesen Lapsus durch die Ankündigung brutalstmöglicher Strafmaßnahmen vergessen zu machen, zu denen etwa ein Ausschluss Russlands vom Zahlungsdienstleister Swift und damit aus dem globalen Finanzsystem gehörte. Aber prompt tat sich das nächste Dilemma auf.
Russlands Verbindung zu Swift kappen? Klingt einfach; hat man ja mit dem Iran schon gemacht. Nur: Wenn Energieversorger in der EU plötzlich ihre Erdgaskäufe in Russland nicht mehr bezahlen können, wird Gazprom kaum noch liefern; dann ist Deutschland auf einen Schlag mehr als die Hälfte seines Erdgases los. Anonyme Berliner »Regierungsquellen« steckten dem »Handelsblatt« Mitte Januar, Russlands Ausschluss von Swift sei vom Tisch – zum großen Ärger Washingtons; schließlich hatte Berlin damit die schärfste Drohung gegen Moskau versenkt. Es begann die Suche nach Möglichkeiten, die EU anderweitig mit Erdgas zu versorgen; erwogen wurden Flüssiggas aus der lupenreinen Feudaldiktatur Qatar und verflüssigtes Frackinggas aus den USA. Schade nur für die Außenministerin und den Wirtschaftsminister, dass Flüssiggas – zumal gefracktes – einem Experten des Umweltbundesamts zufolge »fast so klimaschädlich wie Steinkohle« ist. Anfang Februar verkündete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schließlich, man habe endlich eine für Moskau verheerende, aber die EU nicht gleich mit ruinierende Sanktionsform gefunden: Überfalle Russland die Ukraine, dann sperre man dem Land den Zugang zum internationalen Kapitalmarkt und zu allerlei High-Tech-Produkten. Details blieben unklar.
Derweil begannen diverse Nato-Staaten, zwecks Stärkung der militärischen Positionen des Westens die Ukraine weiter aufzurüsten. Großbritannien etwa lieferte Panzerabwehrraketen; Lettland und Litauen stellten Kiew Stinger-Luftabwehrraketen in Aussicht; Polen kündigte die Lieferung ähnlicher Raketen mit etwas geringerer Reichweite an. Zudem teilten mehrere Nato-Staaten mit, sie würden zusätzliche Truppen nach Ost- und Südosteuropa entsenden. Teilweise handelte es sich bei diesen Ankündigungen um Propagandagetöse; Berlin etwa verkündete stolz, es werde Eurofighter zum Air Policing nach Rumänien schicken, verschwieg allerdings, dass es dies seit dem vergangenen Jahr bereits tut. Allerdings war in dem Potpourri auch Neues dabei; Frankreich etwa meldete, eine Nato-Battle-Group nach dem Vorbild derjenigen in Polen und den baltischen Staaten in Rumänien anführen zu wollen, wo es eine solche Truppe noch nicht gibt. Warum aber aufrüsten, wenn die USA über Rüstungskontrollmaßnahmen mit Russland verhandeln? Nun ja – man erhöht den Einsatz.
Begleitet wurde all dies von einer gewaltigen Propagandakampagne. Russlands Einmarsch in die Ukraine stehe »unmittelbar« bevor, und es sei damit zu rechnen, dass Kiew geplündert werde, verkündete Biden Ende Januar. Einige Tage später gab Bidens Sprecherin Jen Psaki bekannt, die Lage habe sich geändert; man gehe jetzt nicht mehr von einer sofortigen russischen Invasion aus. Ausgeblieben war nicht nur der Einmarsch, sondern auch ein prorussischer Umsturz in Kiew, den das britische Außenministerium Mitte Januar vorausgesagt hatte; während in der westlichen Öffentlichkeit nach Londons vermeintlicher Enthüllung die antirussische Agitation sich überschlug, lachte sich in der Ukraine mancher schief: Von den fünf angeblichen Umstürzlern, die das Foreign Office identifiziert hatte, lebten vier seit Jahren in Russland, und der fünfte hatte dort Ärger mit den Behörden und Einreiseverbot. NS-Vergleiche begannen ins Kraut zu schießen. Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis warf Moskau vor, einen »totalen Krieg« gegen die Ukraine vorzubereiten: »ein beispielloses Ereignis – wahrscheinlich seit dem Zweiten Weltkrieg«. Die Grünen-Europaabgeordnete Viola von Cramon-Taubadel und ihr Parlamentskollege Michael Gahler (CDU) verglichen die Lage mit »1938 kurz vor der Münchner Konferenz, als die deutsche Wehrmacht ihre Truppen rund um die Tschechoslowakei zusammengezogen hatte und diese zum Einmarsch bereitstanden«. Der »Spiegel« betitelte einen Beitrag des ehemaligen polnischen Außenministers Radosław Sikorski mit »Wer gegen Waffen für die Ukraine ist, ist für Krieg«.
Hinzu kamen mit ermüdender Beständigkeit False-flag-Vorwürfe, die die informationellen Nebelschwaden über der Ukraine undurchdringlich und die Situation auch dadurch immer gefährlicher werden ließen. Russland bastele an einem Vorwand, um einen Angriff auf die Ukraine als Abwehrmaßnahme ausgeben zu können, hieß es; Anfang Februar etwa war in Washington von einem Video die Rede, das einen gefakten ukrainischen Überfall auf Russland zeige und eine russische Invasion legitimieren solle. Belege? Keine, was sonst? Allerdings können derlei Desinformationen eine tatsächliche Eskalation vorbereiten. Denn wenn man dem Publikum eintrichtert, man erwarte eine russische False-flag-Operation, kann die Ukraine, eine russische False-flag-Operation vortäuschend, gegen Donezk und Luhansk losschlagen, ohne im Westen als Aggressor betrachtet zu werden. Auch Russland hätte im allgemeinen Propagandagetümmel womöglich Chancen, gewisse Frontbegradigungen vorzunehmen. Das Risiko, dass Missverständnisse zu militärischen Operationen führen, wächst.
Dabei werden seit dem 4. Februar die Karten neu gemischt. An diesem Tag verabschiedeten Russland und China eine gemeinsame Erklärung, in der sie vereinbarten, künftig noch enger als bisher zu kooperieren und sich gemeinsam gegen jede westliche Aggression zu wappnen, auch gegen jede weitere Nato-Osterweiterung. War der US-Versuch, mit einem neuen Ausbalancieren der Beziehungen zu Russland einen russisch-chinesischen Schulterschluss zu verhindern, damit gescheitert? Und wenn ja – was hieß das für die Verhandlungen über Rüstungskontrolle und eine neue Sicherheitsordnung in Europa? Würde Moskau, sich der Rückendeckung durch Beijing gewiss, in Europa künftig offensiver auftreten können? Es sieht danach aus, als ginge der Konflikt in seine nächste, nun nicht mehr europäische, sondern globale Runde.