Gegen Bescheidwisserei

Aus konkret 4/22: Kritik der linken Kreml-Apologie. Ein Debattenbeitrag von Lars Quadfasel 

»Mir ist ein Gespräch in Erinnerung, in welchem ein Nationalökonom aus den Interessen der bayrischen Bierbrauer die Unmöglichkeit der Uniformierung Deutschlands bewies … Die Gescheiten haben es den Barbaren überall leicht gemacht, weil sie so dumm sind. Es sind die orientierten, weitblickenden Urteile, die auf Statistik und Erfahrung beruhenden Prognosen, es sind die abschließenden und soliden statements, die unwahr sind.«
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung

Klar, einen Tag nach dem russischen Überfall auf die Ukraine mit dem Titelbild »Nato-Aggression gegen Russland« zu erscheinen ist schon einigermaßen peinlich. Aber ein wenig Erleichterung könnte in der Redaktion womöglich auch dazugekommen sein. Deutschland, so war einem im Editorial der März-Ausgabe gleich zweimal versichert worden, bereite schließlich den »Krieg gegen Russland« vor. Nun hatte Putins Hasardeurspolitik den Verantwortlichen die Legitimation dafür sogar auf dem Silbertablett serviert – und was taten die Landsleute? Statt die Panzer in Marsch zu setzen, machten sie Frühjahrsputz und schickten ihre aussortierten T-Shirts in die Ukraine. Man freut sich ja immer, wenn man mit seinen düstersten Voraussagen nicht recht behält.

Dementsprechend heiter muss die Stimmung gewesen sein. Launig hieß es noch am gleichen Tag auf der konkret-Homepage: Das mit dem Krieg gegen die Ukraine sei zwar »so mit dem Kreml nicht abgesprochen« gewesen (Lol! Rofl!). Aber bloß weil die Titelgeschichte exakt das kategorisch ausgeschlossen hatte, was soeben eingetreten war, verliere sie ja nicht »an Gehalt und Wahrheit«. Das kann man gut verstehen. Nicht an Gehalt und Wahrheit verloren: Zu solchen Formulierungen greift man halt, wenn man nicht einfach schreiben kann, etwas sei nach wie vor wahr. Der US-Komiker Stephen Colbert prägte für derlei den schönen Begriff »Truthiness«.

Manch eine würde sich angesichts solcher Verrenkungen vielleicht fragen, ob es da nicht einfacher wäre, einen analytischen Rahmen, der zu derart kolossalen Fehlurteilen führt, einer grundsätzlichen Kritik zu unterwerfen. Aber das verfehlte ganz offensichtlich das, worum es dabei geht. Bei der Lektüre der von Jörg Kronauer verfassten Titelgeschichte erfährt man zwar nicht unbedingt etwas Neues, gar Zutreffendes über den Zustand der Welt. Aber dafür taucht man für einen Augenblick ein in jene ebenso fremde wie wunderbare Welt des deutschen Leitartikels, in welcher der Jargon zum Leben erwacht: wo die Karten neu gemischt werden und die Gesprächsfäden weitergesponnen, wo die Sicherheitsarchitektur ins Rutschen gerät und Hauptstädte als handelnde Subjekte auftreten, nie aber Menschen aus Fleisch und Blut. Das kann, in aufregenden Zeiten wie diesen, enorm beruhigend wirken.

Natürlich muss da so manches, was die Gemütsruhe stören würde, außen vor bleiben. Auf viereinhalb Seiten erfährt man zwar in aller Ausführlichkeit, wer welches diplomatische oder militärische Manöver veranstaltet und welchen Vertrag geschlossen, gekündigt oder nicht eingehalten hat, aber nichts über die ideologische und politökonomische Verfasstheit der in Frage stehenden Gesellschaften; nicht einmal im Sinne jener berüchtigten »materiellen Interessen«, die noch jeder Antiimperialist, der sein Handwerk versteht, aufzuspüren weiß. (Der Afghanistan-Krieg hatte wenigstens noch seine Pipeline-Forscher; das wäre an dieser Stelle jedoch, Stichwort Nord Stream 2, wohl eher nicht so willkommen.) Einen Absatz lang wird beklagt, dass »Kiew« gegen das Minsker Abkommen verstoße, ohne mit einem Wort zu erwähnen, worin die Verstöße genau bestehen – und warum einen das also überhaupt interessieren soll. Die »Volksrepubliken« genannten Ganglands, über die Russland seine schützende Hand hält (und in denen niemand freiwillig bleibt, der sich die Flucht irgendwie leisten kann), lässt man ohnehin besser unerwähnt: Dass die dort herrschenden Warlords ihren Machtantritt mit der Vertreibung der Roma und Sinti begingen und den Sieg über den »Judenmaidan« zelebrierten, passt nicht recht ins Bild der antifaschistischen Putin-Front.

Eindringlich wird dargelegt, wie unerlässlich die Ukraine als Pufferstaat für Russlands »strategische Tiefe« sei; warum man sich allerdings als Kritiker von Staat und Kapital in die »Sicherheitsinteressen« ausgerechnet der größten Atommacht der Welt einfühlen soll, keinesfalls aber in die ihrer Nachbarstaaten, das will man lieber so genau nicht wissen. (Dass alle Umfragen in der Ukraine ein seit 2014 schwunghaft gestiegenes Interesse an einem Nato-Beitritt belegen, muss einfach auf miese westliche Manipulationen zurückzuführen sein – und nicht etwa darauf, dass der russische Landraub so manchen auf den Gedanken gebracht hat, dass das als Mitglied des transatlantischen Bündnisses wohl nicht ganz so einfach gewesen wäre.) 

Und auch dass Genscher dem Gorbatschow hoch und heilig versprochen hat, im Austausch für die Wiedervereinigung die Nato nicht auf die Zone auszudehnen, was dieser nur leider vergaß, sich schriftlich geben zu lassen, wird schon so gewesen sein (internationale Politik übersteigt selten das Niveau einer Boulevardkomödie). Dass daraus aber folgen soll, dass ausgerechnet der Nachfolgestaat des »Dritten Reichs« für alle Zukunft Tschechien, Polen und den anderen Ländern Osteuropas vorschreiben darf, welchem Militärbündnis die einstmals überfallenen Staaten angehören dürfen, würde man als Feind deutschen Großmachtstrebens unter anderen Umständen vielleicht auch noch mal überdenken wollen.

Aber Aufgabe der Titelgeschichte war es, »ein wenig Ordnung in die Nato-Aggression zu bringen«, und Ordnung hat nun mal ihren Preis; in diesem Fall das Abschneiden aller sich aufdrängenden kritischen Fragen. Der Witz ist nur, dass die wohlige Wirkung der Bescheidwisserei – keine Sorge, alles nur Geopolitik, und in der wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird – den Redaktionsauftrag zugleich hintertreibt. Dass es so weit her mit der Kriegswilligkeit der Nato dann auch nicht ist; dass dort niemand willens ist, für so einen unbedeutenden Flecken Erde wie die Ukraine einen Atomkrieg zu riskieren und man also gegen einen kleinen, überschaubaren Einmarsch nicht allzuviel einzuwenden gehabt hätte; dass insbesondere Deutschland, wie immer als »ehrlicher Makler« ganz vorneweg beim Unrecht dabei, alles daran setzte, auch Sanktionen so klein wie möglich zu halten, und wochenlang ein gemeinsames Vorgehen des »Westens« hintertrieb – das muss ja auch Kronauer eingestehen. Woher dann also die Idee, dass die Landsleute, die mit friedlichen Mitteln zu jeder Schandtat in der Lage sind (man frage nur in Griechenland), sich aber beim Kriegspielen in Afghanistan gerade erst bis auf die Knochen blamiert haben, es jetzt ausgerechnet mit einer Atommacht aufnehmen wollen?

Die Antwort findet sich an anderer Stelle im Heft. Der Leitartikel zeichnet die Antagonisten des »freien Westens« als ohnmächtige Opfer; das Feuilleton feiert sie als Topchecker und tolle Hechte. Kay Sokolowsky stilisiert in seinen »Hofgesprächen« den Lukaschenko zum ausgekochten Schlitzohr, das es locker mit abgefeimten Nato-Generälen und Polittrotteln aufnimmt(konkret 7/21), und in Marco Tschirpkes Gebrauchslyrik kann »der Russe« angesichts des hiesigen Kriegsgetöses nur müde gähnen. Und wer wollte es ihnen verdenken? Natürlich wäre es zu schön, zeigte den Verwaltern des allgemeinen Elends endlich einer, was eine Harke ist. Nur vielleicht nicht ausgerechnet die, auf die man sich da versteift hat.

Für die Frontstellung zwischen Russland und dem Westen nämlich gibt es, anders als zu Zeiten der Sowjetunion, keinerlei Grund in der Sache; wenn es sich um eine Neuauflage des Kalten Krieges handelt, dann um eine ohne jede Substanz. Hüben wie drüben herrscht das Primat des Kapitals. Putin hat, allen anderslautenden Gerüchten zum Trotz, die Ausverkaufspolitik Jelzins bruchlos fortgesetzt, nur dass sich die Kompradorenbourgeoisie, die den Nationalreichtum auf Offshore-Konten parkt, jetzt vornehmlich aus dem Sicherheitsapparat rekrutiert. Der einzige Unterschied zu seinem Vorgänger besteht darin, dass Putin zeitweilig Glück mit dem Ölpreis hatte; aber das ist inzwischen längst perdu. Weswegen auch all das Geschwätz davon, dass Russland ein Bollwerk gegen die Unterwerfung Osteuropas unter die Ägide Deutscheuropas bilde, so hanebüchen ist: Würden die Menschen, ob in der Ukraine, ob in Russland, auch formell in die hiesige Wirtschaftsordnung eingemeindet werden, etwa durch EU-Beitritt, würde sich am Status der Ausgebeuteten nullkommanichts ändern. Was auch immer die Großmächte von Russland wollen (im wesentlichen: Erdöl und Erdgas), bekommen sie schon jetzt billiger, als je ein milliardenteurer Krieg es ihnen beschaffen könnte.

Das bezeichnet freilich auch das Dilemma der russischen Führung. Die Sowjetunion war einst die zweitgrößte Nationalökonomie der Welt; Russland, mit einer Wirtschaftsleistung kleiner als die Italiens, ist heute ein Rohstofflieferant, der den unberechenbaren Kapriolen des Marktes hilflos ausgeliefert ist. Ökonomisch hat es als Hegemon nichts zu bieten; was es hat, sind allein die Überreste der Roten Armee. So kann es zwar nicht als Wirtschafts-, wohl aber als Ordnungsmacht reüssieren. Und als solche spiegelt Putin dem Westen dessen Vergötzung der Stabilität einerseits bloß zurück und wendet sie andererseits gegen ihn: Denn jetzt sind es gerade die vom Westen proklamierten universalen Werte – bürgerliche Freiheitsrechte, Frauenemanzipation, Gleichstellung von Schwulen und Lesben –, welche die stabile Ordnung zu untergraben drohen. Das erklärt, warum die russische Führung zwar, trotz Unterdrückung der Opposition und Ermordung von Dissidenten, darauf beharrt, eine »Demokratie« genannt zu werden, sich aber jede Einmischung raumfremder Mächte in die Frage, was der Begriff im slawisch-orthodoxen Kulturkreis zu bedeuten hat, verbittet. Ob als Technokrat, als Populist oder als völkischer Agitator, was Putin vor allem anderen verkörpert, ist ein bizarrer, postmodern gewendeter Machiavellismus, eine Ideologie des Lol: Jede Berufung auf Prinzipien, auf Moral und Ethik ist, egal von wem, ohnehin geheuchelt, aber wir zumindest gestehen das auch – mit einem Augenzwinkern, versteht sich – offen ein.

Das spricht Rechte wie Linke an: Linke, weil sie es doch immer schon gesagt haben, dass all die Heuchelei bloß die »wahren Interessen« verschleiern soll, und Rechte, weil sie es kaum erwarten können, das Heucheln endlich bleiben zu lassen und Herrschaft ganz unverbrämt zu zelebrieren. Darin besteht das Elend der Ideologiekritik. Die Mächte des Bestehenden, die sich als Wahrer des Guten inszenieren, sind eine Zumutung; aber wo offen ausgesprochen wird, dass zwischen Gut und Böse sowieso kein Unterschied besteht, herrscht die nackte Barbarei. Kein Zufall, dass Putin zum Schutzpatron der fiesesten Rassisten und Faschisten (ob Front National oder AfD) avancierte, welche in Russland den letzten »rassisch« homogenen Staat erblicken; kein Zufall auch, dass längst vor Trump, der den Überfall auf die Ukraine bekanntlich als Geniestreich feierte, die konservativen Propagandisten Putin als Bewahrer der von Genderwahn bedrohten Männlichkeit priesen. Auf Fox News stellte man Aufnahmen von Obama mit Fahrradhelm solchen von Putin mit freiem Oberkörper gegenüber und Rekrutierungsvideos der weibischen U.S. Army denen der virilen russischen Streitkräfte. Jetzt müssen sie den Schock verdauen, dass die echten Kerle nicht einmal mit einer drittklassigen Provinzarmee fertigwerden und der Vormarsch auf Kiew nach dem Einmarsch erst einmal tagelang ins Stocken geriet.

Das ist halt das Risiko, das der postmoderne Machiavellismus eingeht. Nicht nur gerät, wo allein die Macht zählt, auf Dauer jede Zweck-Mittel-Relation aus den Fugen und Politik damit tendenziell zum Himmelfahrtskommando; beim ersten Misserfolg fliegt die ganze Bande auseinander. In der europäischen und US-amerikanischen Rechten ist jedenfalls panische Absetzbewegung zu beobachten. Die einzigen, die irgendwie noch bei der Stange bleiben, sind die Linken. Klar, ein paar Distanzierungen müssen schon sein, selbst bei den 150prozentigen von der »Jungen Welt«, und ein bisschen konsterniert ist man auch, dass der doofe Putin einen so blamiert hat und nicht nur genau das tat, wovon man stets behauptet hatte, es sei Kriegspropaganda des Westens – sondern auch noch die ganze Osterweiterung der Nato, von der doch alles Übel ausgegangen sein soll, zur Rechtfertigung des Feldzugs kaum der Rede wert fand.

Nimmt man jedenfalls den konkret-Podcast zum Maßstab, in dem die Herausgeberin mit Autor Kronauer die Weltlage besprach, so scheint das Debakel der März-Ausgabe nicht gerade tiefe Spuren hinterlassen zu haben. Auffällig ist, wie wenig das Gespräch in den Mittelpunkt stellt, worum es für eine herrschaftskritische, kommunistische Linke doch zu gehen hätte: die Solidarität mit den Opfern des Überfalls, den ermordeten und in die Flucht geschlagenen Ukrainerinnen und Ukrainern, den eingeknasteten und desertierten Russinnen und Russen. Statt dessen schwankt man hin und her zwischen der erstaunten Feststellung, dass Putins Ideologie »auch nicht so viel besser« sei als die, »wie wir sie hier haben« (Friederike Gremliza), der verzweifelten Suche nach irgendwie rationalen Kriegszielen der russischen Führung und der Selbstvergewisserung, es handele sich eben doch um »Gegenschläge« (Jörg Kronauer) gegen die Nato-Aggression.

Es ist, als bräuchten sie das Zerrbild einer hinter sämtlichen Übeln steckenden Schurkenarmee, um sich ihre Opposition gegen Staat und Vaterland überhaupt noch selbst zu glauben; als wüssten sie ohne die Krautjunker von anno dunnemals, stets auf dem Sprung zum Ritt nach Osten, eigentlich gar nicht mehr, was sie noch gegen die hiesigen Verhältnisse einzuwenden haben. Dabei ist es doch so einfach. Was den freien Westen so furchtbar macht, ist ja nicht zuletzt die Tatsache, dass die Feinde, die er seit seinem globalen Sieg hervorbringt, allesamt noch furchtbarer sind als er selbst. 

 

PS: Eine berechtigte Frage an den Autor: Wenn das alles so schlimm ist, warum erst jetzt die Polemik? »Erfolgsmodell Putin« stand ja nun schon vor Jahren auf dem Titel. Und ja, that’s on me, wie man in Amerika sagen würde: mein Fehler. Aber ein bisschen auch die Schuld der Weltlage. Denn ein Einschnitt wie ein völkisch begründeter Eroberungskrieg, dessen Eskalationsgrenze derzeit überhaupt noch nicht abzusehen ist, verändert ja nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit. Was einmal vergleichsweise harmlos schien (die Annexion der Krim) oder zumindest verwickelt, uneindeutig und schlichtweg leichter ignorierbar (Grosny, Aleppo, die Ganglands im Donbass), gewinnt auf einmal rückwirkend einen neuen, unheilvolleren Charakter.

Von dem, was man so in Zeiten wie diesen vor sich hin schreibt, weiß man ja, wie objektiv bedeutungslos es ist. Da fällt es leicht, auch bei Genossen so manch merkwürdigen Spleen hinzunehmen: Es wird schon keinen Schaden anrichten. Aber irgendwann kommt halt doch der Moment, wo die Anstrengung, überhaupt noch etwas Vernünftiges zu Papier zu bringen, die wie auch immer irre Idee voraussetzt, es könne selbst eine winzige kommunistische Monatszeitschrift etwas bewirken, im Guten wie im Bösen. Wenn einen sonst schon keiner ernst nimmt, dann doch wenigstens man selber. Sonst steht man in ein paar Monaten oder Jahren mit dem nächsten Titel da, der die »Nato-Aggression gegen China« ankündigt, und weiß sofort: Au weia, jetzt geht es Taiwan an den Kragen.