Nachts sind alle Kriege grau
Aus konkret 4/22: Ein Versuch, den russischen Überfall auf die Ukraine bei Licht zu betrachten. Von Jörg Kronauer
Und sie hatten doch recht. Als in den frühen Morgenstunden des 24. Februar die ersten russischen Raketen in der Ukraine einschlugen und Flughäfen und militärische Anlagen zerstörten; als russische Truppen die Grenze überschritten und die ersten Verletzten und Todesopfer zu beklagen waren, war klar: Russland hatte den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine, vor dem zunächst US-amerikanische, dann auch britische Geheimdienste und Regierungspolitiker wochenlang nachdrücklich gewarnt hatten, gestartet. »Völkerrechtswidrig« soll dieser Krieg auch hier heißen, obwohl das Völkerrecht seit dem Nato-Krieg gegen Jugoslawien 1999 in Trümmern liegt und von den weltpolitischen Akteuren regelmäßig zu eigenen Zwecken funktionalisiert wird. Das Gemetzel, mit dem viele, auch ich, bis zuletzt nicht gerechnet hatten, hat begonnen.
Der russische Einmarsch erfolgte nach der ersten Angriffswelle, bei der mit Raketen und Marschflugkörpern die ukrainische Luftabwehr weitgehend ausgeschaltet worden war, aus drei Richtungen. Im Osten rückten russische Truppen auf Charkiw vor; es kam zu heftigem Beschuss, getroffen wurden auch Wohngebiete, zahlreiche Zivilisten starben. Im Norden marschierte das russische Militär von Belarus aus ein, besetzte das Atomkraftwerk Tschernobyl und bewegte sich weiter in Richtung Kiew, kam aber vor der Hauptstadt zum Stehen. Im Süden brachen russische Einheiten von der Krim auf, öffneten den Nord-Krim-Kanal wieder, den Kiew 2015 blockiert und damit die Wasserversorgung der Krim fast zum Versiegen gebracht hatte, und marschierten dann in Richtung Berdjansk und Mariupol, wo ebenfalls – wie auch in weiteren Städten – Wohngebiete und Zivilisten unter Beschuss gerieten.
Westlich der Krim war die Hafenstadt Cherson die erste ukrainische Stadt, die die russischen Streitkräfte einnahmen. Erste Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew führten zu nichts. Weltweite Empörung löste aus, dass russische und ukrainische Truppen sich direkt am Atomkraftwerk Saporischschja Kämpfe lieferten und russische Geschosse in der Anlage einschlugen – zum Glück nicht in den Atommeilern selbst. Seither ist der Krieg in vollem Gange; ein Ende war bei Redaktionsschluss nicht absehbar.
Eine der zahlreichen Fragen, die sich seit dem 24. Februar aufdrängen, ist die, wieso die Fehleinschätzung bis zum Schluss sich halten konnte, es werde letztlich nicht zu einem russischen Überfall auf die Ukraine kommen. Jenseits einiger westlicher Leitmedien war keineswegs alle Welt überzeugt, Russland werde seine Streitkräfte in das Nachbarland einmarschieren lassen. Dass das geschehen werde, »daran haben viele Politiker« aus Westeuropa »bis zur letzten Minute nicht geglaubt«, berichtet Litauens Ministerpräsidentin Ingrida Šimonytė im Rückblick. Sogar in der Ukraine selbst war es so. Am Wochenende vor Kriegsbeginn flog die ukrainische Regierung eine Gruppe ausländischer Journalisten in den Osten des Landes, um ihnen die Lage im umkämpften Donbass vor Augen zu führen. Vor Ort empfing sie David Arachamija, der Fraktionschef der Präsidentenpartei »Diener des Volkes« im Kiewer Parlament, von dem man annehmen musste, er sei über die aktuelle Lage und drohende Gefahren bestens informiert. Arachamija, befragt, ob er an seiner bisherigen Ansicht festhalte, Russland werde nicht einmarschieren, bekräftigte, er gehe nach wie vor nicht von einer Invasion aus: Moskau, so urteilte er, könne doch kein Interesse haben, seine Wirtschaft den vom Westen angedrohten massiven Sanktionen auszusetzen.
Noch am 22. Februar schien nichts wirklich klar. Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, mit der tags zuvor erfolgten Anerkennung der »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk durch Russland konfrontiert, ordnete eine Teilmobilmachung an. Wieso keine Generalmobilmachung? Die sei nach seinem Informationsstand nicht nötig, beruhigte Selenskyj. Einen ähnlichen Informationsstand muss wohl auch BND-Präsident Bruno Kahl gehabt haben, der sich sogar noch am 23. Februar, einen Tag vor Kriegsbeginn, zu Gesprächen in Kiew aufhielt – unüblich für einen Amtsträger seines Ranges, hätte der BND die Einschätzung seiner US-Partnerdienste für zutreffend gehalten, ein russischer Einmarsch inklusive Luftangriffe auf Kiew stehe unmittelbar bevor.
Als sich im Lauf des 23. abzeichnete, dass Russland in der Nacht wirklich angreifen werde, wurde es hektisch. Kahls Jet flog ab, ohne auf den Amtschef zu warten – die Sicherheitsvorschriften verpflichten dazu, jegliches Abschussrisiko zu vermeiden. Der BND-Präsident sagte alle für den 24. Februar geplanten Gespräche ab, verpasste dennoch den ersten Evakuierungskonvoi und geriet mit einem zweiten in die endlosen Staus der beginnenden Massenflucht; erst am Abend des 25. traf er in Berlin ein.
Natürlich gab es Gründe dafür, nicht mit einem russischen Überfall auf die Ukraine zu rechnen, und zwar inhaltliche Gründe, die weit über ein allgemeines Misstrauen gegen anonyme, unbelegte US-Geheimdienstinformationen hinauswiesen. Neben Arachamijas Überzeugung, die russische Wirtschaft sei kaum stark genug, um die angedrohten Sanktionen des Westens zu überstehen, spielte in der Debatte vor allem die Frage eine Rolle, was eigentlich der Zweck einer russischen Invasion sein und was auf sie folgen solle. Die grundsätzlich prorussisch orientierten Teile der ukrainischen Bevölkerung waren nach der Abspaltung der Krim und der De-facto-Abspaltung des Donbass beträchtlich geschrumpft; vor Kriegsbeginn kursierten Schätzungen, denen zufolge Moskau höchstens noch ein knappes Fünftel der ukrainischen Bevölkerung auf seiner Seite habe. Selbst wenn es gelänge, die Ukraine quasi im Handstreich zu erobern: was dann? Zumindest im Westen des Landes und im Zentrum, in Kiew, war mit dauerhaftem Widerstand, mit einem erbitterten Guerillakrieg fest zu rechnen, außerdem damit, dass der Westen diesen – wie im Afghanistan der achtziger Jahre – nach Kräften unterstützen würde. All dies galt nicht bloß für den Fall einer direkten russischen Besatzungsherrschaft, sondern auch dann, wenn Moskau ein Marionettenregime in Kiew installieren wollte.
Verstand es sich wirklich von selbst, dass Russlands Präsident Wladimir Putin sich auf das Risiko eines zweiten Afghanistans einlassen würde? Wenn »die westlichen Medien« auch »eine Vorliebe« hätten, »Putin als rücksichtslos darzustellen«, so sei er »in Wirklichkeit vorsichtig und berechnend«, urteilte Dmitri Trenin, Direktor des Carnegie Moscow Center, Ende Dezember 2021 in einem Beitrag auf der Onlineplattform des US-Magazins »Foreign Affairs«: »Putin ist Risiken nicht abgeneigt – die Operationen in Tschetschenien, auf der Krim und in Syrien beweisen das –, aber seiner Auffassung nach muss der Nutzen die Kosten überwiegen.« Das schien bei einem Überfall auf die Ukraine kaum vorstellbar; der Verlauf des Krieges bestätigt dies. Trenins Einschätzung teilten viele. Dass Putin gewöhnlich rational, berechnend vorgehe und seine militärischen Operationen stets sorgfältig geplant habe, dem stimmte am 27. Februar etwa Robert Gates, Ex-CIA-Chef (1991 bis 1993) und Ex-US-Verteidigungsminister (2006 bis 2011), zu. Putin sei zwar »zu kalkulierten Risiken bereit gewesen«, aber mehr auch nicht, bekräftigte Gates in einem CNN-Interview und urteilte mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine, den er rein machtstrategisch für »eine gigantische Fehlkalkulation« hält: »Dieses Verhalten ist anders. Es scheint mir, als ob er gewissermaßen entgleist ist.«
Entgleist? Gates spekulierte, ob Putin sich womöglich nur noch mit Hardlinern austausche und, verstärkt durch die Isolation in den Jahren der Pandemie, den Kontakt zur Realität verloren habe. Dass derlei Überlegungen nicht nur von Hetzschreibern bei »Bild« und »Welt«, sondern auch von seriösen Kennern wie dem »FAZ«-Osteuropa-Experten Reinhard Veser angestellt wurden, zeigt, wie schwer sich die Auguren tun, die Entscheidung für den Überfall auf die Ukraine zu erklären. Das gilt selbst für Fachleute aus Moskau wie Trenin oder Andrey Kortunov, den Generaldirektor des Russian International Affairs Council (RIAC), einer eng an das russische Außenministerium angebundenen Denkfabrik. Kortunov, der noch am 13. Februar die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Vorgehens als »extrem gering« eingestuft hatte, äußerte am 26. Februar gegenüber der BBC, er und zahlreiche Kollegen aus dem Außenministerium seien wegen des Krieges »sehr überrascht, schockiert und am Boden zerstört«; der Überfall, der »durch nichts zu rechtfertigen« sei, müsse von einer kleinen Clique im Kreml beschlossen worden sein. Wenig später bestätigte dies die Journalistin Farida Rustamowa vom russischsprachigen Ableger der BBC: Jenseits des engsten Machtzirkels um Putin habe offenbar niemand mit dem Krieg gerechnet; Experten wie Kortunov seien sich sicher gewesen, es gehe dem Präsidenten beim Zusammenziehen der Truppen an der Grenze zur Ukraine nur um den Aufbau einer Drohkulisse, um von der Nato endlich jene Sicherheitsgarantien zu erhalten, die Moskau schon seit längerem, seit Ende 2021 aber besonders energisch gefordert hatte.
Russlands Bedrohung durch die Nato, die über Jahre und Jahrzehnte forciert wurde (siehe konkret 3/22), ist ein Faktor, der von Moskau als Begründung für den Überfall auf die Ukraine genannt wird. Ziel sei, so heißt es, das Land zu »demilitarisieren«, den ukrainischen Streitkräften also ihre gegen Russland einsetzbaren militärischen Potentiale zu nehmen. Darüber hinaus solle Kiew auf einen Nato-Beitritt endgültig verzichten. Nein, es ist nicht legitim, solche Ziele mit einem Krieg erreichen zu wollen. Unabhängig davon müsse man jedoch unbequeme Fragen stellen, urteilte Johannes Varwick, Professor für internationale Beziehungen und europäische Politik an der Universität Halle-Wittenberg, am 24. Februar, wenige Stunden nach Kriegsbeginn. Varwick, den einige wegen seines offenen Auftretens gegen die AfD kennen, urteilte, »der Westen« habe seiner Auffassung nach in den Wochen und Monaten vor Russlands Überfall »nicht alle Möglichkeiten ausgelotet«. Es habe »die Chance« gegeben, »mit einem neutralen Status der Ukraine eine Eskalation zu verhindern«; allerdings habe der Westen »nicht auf Russland eingehen« wollen. »Das Beharren auf unseren Prinzipien war falsch«, schloss Varwick: »Jetzt befinden wir uns in der schlechtesten aller denkbaren Situationen.«
Ähnlich, ja noch stärker zugespitzt sah die Dinge George Beebe, ein ehemaliger Russlandberater von US-Vizepräsident Dick Cheney. »Die Wahl, der wir in der Ukraine gegenüberstanden«, sagte er Anfang März dem US-Sender MSNBC, »war, ob Russland ein Veto über die Nato-Aktivitäten in der Ukraine am Verhandlungstisch ausübte oder auf dem Schlachtfeld ... Wir stellten sicher«, fuhr Beebe fort, »dass das Veto auf dem Schlachtfeld ausgeübt wurde – in der Hoffnung, Putin werde sich entweder zurückhalten, oder die Militäroperation werde scheitern.«
Jenseits der Absicht, einen Nato-Beitritt der Ukraine zu verhindern, hat offenkundig großrussischer Nationalismus zur Entscheidung für den Überfall beigetragen. Das zeigt eine Rede, die Putin am 21. Februar, drei Tage vor Kriegsbeginn, hielt und in der er erklärte, die Ukraine habe nie eine »stabile Staatlichkeit« entwickelt. Ähnlich hatte er sich bereits in einem Artikel geäußert, der unter seinem Namen am 12. Juli 2021 publiziert worden war. Der Text, erschienen mit dem Titel »Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer«, warnte aus Anlass aggressiver Maßnahmen der ukrainischen Regierung zur Zurückdrängung der russischen Sprache in der ukrainischen Bevölkerung, dadurch könne »das russische Volk um Hunderttausende oder sogar um Millionen schrumpfen«; dies gelte es zu verhindern. »Gemeinsam waren wir«, Russen und Ukrainer, »schon immer um ein Vielfaches stärker und erfolgreicher und werden es auch in Zukunft sein«, schloss Putin seinen Beitrag: »Schließlich sind wir ein Volk.« Wurden da völkische russische Ansprüche auf die Ukraine erhoben?
Man hätte in der Tat gewarnt sein müssen, als Putin in seiner Rede am 21. Februar nicht nur die offizielle Anerkennung der »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk ankündigte, sondern auch in bezug auf die Ukraine insgesamt grundsätzlich wurde. Teil der Ukraine seien die »historischen südwestrussischen Länder«, in denen sich die Menschen seit je »als Russen« definiert hätten; diese Gebiete seien »ein untrennbarer Teil unserer eigenen Geschichte«. Die heutige Ukraine sei ein künstliches Produkt, geschaffen von der Sowjetunion, von Lenin und Stalin, eine »Wladimir-Lenin-Ukraine«; in ihr seien Territorien unterschiedlichster historischer Verortung – neben den »historischen südwestrussischen Ländern« auch Teile Polens, Ungarns und Rumäniens – gedankenlos zusammengeworfen worden. Putin ließ seine Geringschätzung des Landes, das, wie er durchaus zutreffend festhielt, vom Westen seit 2014 offen »antirussisch ausgerichtet« worden ist, klar erkennen. Unter Bezug darauf, dass in der »Wladimir-Lenin-Ukraine« zahllose Lenin-Denkmäler gestürzt worden waren, dass dort also die »Dekommunisierung« vorangetrieben worden war, äußerte er: »Ihr wollt eine Dekommunisierung? Das passt uns gut. Wir sind bereit, euch zu zeigen, was eine vollständige Dekommunisierung für die Ukraine bedeutet.«
War das eine Ankündigung, die »Lenin-Ukraine« zu zerlegen und Teile von ihr mit völkischer Begründung Russland zuzuschlagen? Drei Tage später begann der Krieg. Zuvor hatten in der russischen Außenpolitik unter Putin geostrategische Faktoren dominiert, auch dort, wo völkische Begründungen zu Legitimationszwecken vorgetragen wurden, nämlich bei der Aufnahme der Krim mit ihrer alten russischen Geschichte in die Russische Föderation. Diesen Schritt hatte Putin im März 2014 damit begründet, er könne sich »nicht vorstellen, dass wir nach Sewastopol reisen, um Nato-Seeleute zu treffen«; diese sollten zur Krim kommen, um »uns zu besuchen, und nicht andersherum«. Es ging also darum, nach dem prowestlichen Umsturz in Kiew im Februar 2014 zu verhindern, dass die Nato sich nach einem etwaigen Beitritt der Ukraine auf der Krim festsetzte und damit die starke Stellung der russischen Marine im Schwarzen Meer – ihr Hauptstützpunkt liegt auf der Krim – zunichte machte. Dass es primär um Geostrategie, nicht um großrussischen Nationalismus ging, ließ sich auch daran erkennen, dass Moskau die russischsprachig dominierten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk, nachdem sie wie die Krim ihre Abspaltung von der Ukraine verkündet hatten, nicht aufnahm, ja sie nicht einmal offiziell anerkannte.
Wie sich Moskau die Zukunft der Ukraine nach dem Krieg vorstellt, ob es tatsächlich auch Territorien annektieren will, war bis Redaktionsschluss nicht mit Gewissheit zu erkennen. Deutlich war, dass die russischen Streitkräfte eine Landbrücke von der Krim in Richtung Osten entlang der Schwarzmeerküste über Berdjansk und Mariupol zur russischen Oblast Rostow zu schlagen versuchten. Gut möglich, dass die Annexion des Gebiets geplant ist; das entspräche großrussischen, mindestens ebenso aber auch geostrategischen Interessen: Eine Landbrücke zur Krim würde deren prekäre Versorgung sichern. Vorstöße von der Krim entlang der Küste in Richtung Westen ließen es schließlich denkbar erscheinen, dass Moskau über Odessa bis nach Transnistrien vorrücken wollte, in einen Teil Moldawiens östlich des Dnjestr, der sich Anfang der neunziger Jahre faktisch abgespalten hat und bis heute russische Truppen beherbergt. Sollte Russland das Gebiet um Odessa annektieren, verbände dies mit Blick auf die starke russischsprachige Bevölkerung der Südukraine ebenfalls völkische und geostrategische Motive.
Klare Ziele verfolgen ihrerseits die transatlantischen Mächte mit ihren Reaktionen auf den russischen Einmarsch in die Ukraine. Zum einen entfesselten sie einen beispiellosen Wirtschaftskrieg. Sanktionen schnitten zahlreiche russische Banken vom globalen Zahlungsdienstleister Swift ab; einige Finanzhäuser wurden nur deshalb ausgespart, weil die EU auf russisches Öl und Gas angewiesen war und die Rechnung dafür bezahlen können musste. Das Vermögen der russischen Zentralbank wurde, jedenfalls soweit es im Ausland lag, eingefroren; laut Berichten trifft dies auf rund drei Viertel der insgesamt 630 Milliarden US-Dollar umfassenden Anlagen zu. Wichtige Güter, vor allem High-Tech-Produkte wie Halbleiter und Luftfahrttechnologie, dürfen nicht mehr nach Russland geliefert werden; das Auslandsvermögen russischer Oligarchen wurde teilweise beschlagnahmt. Westliche Unternehmen legten ihr Russland-Geschäft auf Eis oder zogen sich ganz aus dem Land zurück; Wirtschaftsblätter schrieben von einem »Massenexodus«. Ein de facto vollständiges Überflugverbot für russische Airlines über Europa und Nordamerika schnitt diese komplett vom Westen ab, und da Moskau seinerseits mit einem Überflugverbot nachzog, kamen nicht nur die Wirtschaftsbeziehungen, sondern auch jeder menschliche Austausch weitestgehend zum Erliegen.
Wozu diese Maßnahmen, deren Ausweitung bis zum vollständigen Verzicht auf Handelsbeziehungen, also bis zum Verzicht auf die Nutzung von russischem Gas und Öl in Europa und den USA ernsthaft erwogen wird? Um Moskau zur Einstellung der Kampfhandlungen und zum Rückzug seiner Truppen zu zwingen? Allenfalls auch – diesmal geht es dem Westen um alles. Die Sanktionen würden »Russland ruinieren«, sagte Außenministerin Annalena Baerbock bereits am Tag nach dem russischen Überfall voraus. »Wir werden einen totalen Wirtschafts- und Finanzkrieg gegen Russland führen«, kündigte Frankreichs Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire am 1. März auf France Info an: »Wir zielen auf das Herz des Machtsystems Putin. Wir werden die russische Wirtschaft zum Zusammenbruch bringen.« Noch weiter ging Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, als er Anfang März erklärte, alles, was man wünschen könne, sei, »dass Putin physisch eliminiert wird«. Erst nach scharfer Kritik nahm er diese Äußerung zurück.
Jenseits des Atlantiks warnte der republikanische Senator Lindsey Graham Russlands Bevölkerung, solange Putin als Präsident amtiere, werde sie »nicht in der Lage sein, ihre Träume zu verwirklichen, sondern in Armut und Elend leben«: »Sie müssen diesen Typen loswerden.« Am 4. März konkretisierte er dies auf Twitter mit einem Mordaufruf à la Asselborn: »Der einzige Weg, das zu beenden, besteht darin, dass jemand in Russland diesen Typ beseitigt.« Ein regime change à la Saddam Hussein und Gaddafi? In der nach der Zahl ihrer Sprengköpfe stärksten Atommacht der Welt?
Parallel zu ihrem »totalen Wirtschafts- und Finanzkrieg« (Le Maire) gegen Russland versorgten die Westmächte die ukrainischen Streitkräfte mit Material und Personal. Das war keineswegs selbstverständlich. Zum einen stimmten auch westliche Experten darin überein, Russland sei der Ukraine militärisch haushoch überlegen. War das richtig, würde die westliche Waffenhilfe auf eine Verlängerung des Krieges hinauslaufen, um die Kosten für Moskau in die Höhe zu treiben – zu Lasten der unter dem Krieg leidenden ukrainischen Bevölkerung. Zum anderen erfüllten die Nato-Staaten beileibe nicht jede Forderung der Regierung in Kiew. So war das westliche Militärbündnis nicht bereit, eine Flugverbotszone über der Ukraine zu errichten und damit de facto den Krieg zum Weltkrieg auszuweiten. Ebenso ließ sich kein Nato-Staat darauf ein, den ukrainischen Streitkräften Kampfjets zu liefern: Schließlich müssten diese nach Lage der Dinge vom Nato-Territorium aus in ihre Einsätze starten; auch damit wäre das westliche Bündnis unmittelbar Weltkriegspartei.
Aber in anderer Hinsicht kannte der Westen kaum Schranken. An den Waffenlieferungen in die Ukraine beteiligt sich schließlich auch Deutschland; die Bundeswehr brachte noch Ende Februar 1.000 Panzerabwehrraketen und 500 tragbare Flugabwehrraketen vom Typ Stinger auf den Weg. Die Stinger-Raketen hatten in den achtziger Jahren den sowjetischen Truppen in Afghanistan schwere Verluste zugefügt. Kurz darauf kündigte Berlin die Lieferung von 2.700 weiteren Flugabwehrraketen an – diesmal Typ Strela. Die EU gab 450 Millionen Euro aus ihrer »Friedensfazilität« für Waffenlieferungen an die ukrainischen Streitkräfte frei. Laut einem Bericht der »Berliner Zeitung« landeten Anfang März im Durchschnitt 14 Großflugzeuge mit militärischer Ausrüstung pro Tag unweit der Ukraine, von wo die Militärgüter über die Grenze geschafft wurden.
Kiew mobilisiert zudem weltweit Freiwillige, die in einer »Internationalen Legion« am Krieg teilnehmen können. Am 6. März hieß es, es hätten sich mittlerweile rund 16.000 Kämpfer in spe bei ukrainischen Botschaften in aller Welt gemeldet, allein 3.000 in den USA; laut Berichten befanden sich unter ihnen ehemalige Elitesoldaten, auch aus Deutschland. Laut einem Onlinebericht der »Zeit« beteiligte sich in Kiew Olena Semenjaka am Aufbau der Internationalen Legion, eine Aktivistin der faschistischen Asow-Bewegung, die in den vergangenen Jahren zwecks Kontaktaufbau viele Reisen in andere Staaten Europas unternommen hatte, auch zu Neonazi-Organisationen in Deutschland. Als »Zeit Online« darüber berichtete, brachte dies den Autoren umgehend den Vorwurf ein, als Fünfte Kolonne Russlands zu operieren.
Hoch her ging es auch an der »dritten Front des Ukraine-Krieges«, wie es die britische Kulturministerin Nadine Dorries formulierte: in Sport und Kultur. Es gehe darum, »die Macht des Sports« zu nutzen, um »Putin zu Hause und im Ausland zu isolieren«, erläuterte Dorries Anfang März, nachdem es den westlichen Staaten gelungen war, nicht nur den Antritt russischer und belarussischer Sportler bei den Paralympics unter russischer Flagge zu verhindern, sondern auch ihre individuelle Teilnahme zu untersagen: Bürger/in Russlands oder Belarus’ zu sein reichte als Ausschlussgrund. Außer zahlreichen weiteren Sportverbänden beteiligten sich Kulturorganisationen an dem Boykott; die Europäische Filmakademie etwa ließ russische Filme bei den European Film Awards nicht zu. Das »Börsenblatt des Deutschen Buchhandels« publizierte einen Aufruf ukrainischer Literaturverbände, darunter der PEN Ukraine, in dem diese zu einem »totalen Boykott« russischer Bücher und Verlage aufforderten: Weil russische Literatur zu einer »Infektion« mit »russischer Propaganda« führe, dürften weltweit keinerlei Bücher russischer Autoren mehr verkauft oder auch nur übersetzt werden (in Italien wird darüber diskutiert, ob man Dostojewski aus universitären Lehrplänen streichen sollte – der Autor war schließlich Russe). Der Aufruf endete mit »Ruhm der Ukraine!«, der ersten Hälfte der Parole der ukrainischen Faschisten aus der Zeit ihrer NS-Kollaboration im Zweiten Weltkrieg.
Wo es so zugeht, darf in Deutschland der Nazi-Vergleich nicht fehlen. Selbstverständlich dürfe man Putin »mit Hitler vergleichen«, erklärte noch vor dem Überfall auf die Ukraine Patrick Bahners in der »FAZ«: »Man tut Putin nicht unrecht, wenn man beim Namen nennt, mit wem er sich in der Wahl seiner Mittel gemeinmacht. Die Verleugnung offensichtlicher Analogien wäre auch eine Verhöhnung der Opfer.« Tags drauf veröffentlichte das Blatt ein Gedicht, das die Überschrift trug: »Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen.« Die »Welt« stellte kurz nach dem Überfall ein Pamphlet ihres »Leitenden Redakteurs Geschichte«, Sven Felix Kellerhoff, online, in dem er unter der Überschrift »Putins 1. September 1939« und zwischen diversen Bildern aus dem Vernichtungskrieg der Wehrmacht gegen Polen nicht nur Putin mit Hitler gleichsetzte, sondern auch führende SPD-Politiker, »die sich seit Jahren aktiv für Putins Aggressionspolitik einsetzen«, mit der einstigen Union of British Fascists unter Oswald Mosley. Und im »Spiegel« wurde der französische Politikwissenschaftler Bertrand Badie mit der Aussage zitiert, »etwas Vergleichbares« wie Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine habe es »in der Geschichte noch nie gegeben«. Noch nie.
Welche Folgen Russlands Überfall auf die Ukraine und der auf ihn folgende Versuch des Westens, Russland zu »ruinieren«, haben werden, ist bislang lediglich in Ansätzen abzusehen. Sie werden immens sein. Am furchtbarsten trifft der Krieg die Bevölkerung der Ukraine. Schon am 2. März meldete die ukrainische Regierung mehr als 2.000 Todesopfer und zahllose Verletzte; am 5. März waren vermutlich mehr als 1,7 Millionen Menschen auf der Flucht; die materiellen Zerstörungen waren erheblich. In Russland wiederum waren Kriegsgegner einer immer brutaleren Repression ausgesetzt; unabhängige Medien mussten unter dem Druck der Zensur schließen.
Anfang März warnte der IWF, Krieg und Sanktionen trieben weltweit die Preise für Öl und Gas, aber auch für Getreide und andere Nahrungsmittel dramatisch in die Höhe; das treffe die Ärmsten. Beobachter warnten, manche Staaten Afrikas stünden vor einer Hungersnot. Völlig unklar war zudem, ob und, wenn ja, wie Russland die Sanktionen des Westens überstehen würde – und wie Moskau die Ukraine zur geforderten Neutralität zwingen wollte, ohne das Land auf Dauer zu besetzen und sich damit, politisch gesehen, ein zweites Afghanistan direkt an seiner Grenze zu schaffen. US-Außenminister Antony Blinken gab sich Anfang März dementsprechend überzeugt, der Krieg könne sich zwar in die Länge ziehen; letztlich aber werde Russland ihn verlieren.
Was, wenn es so kommt? Eine gute Woche nach Kriegsbeginn veröffentlichte die US-Zeitschrift »Foreign Affairs« auf ihrer Website Überlegungen dazu, die Liana Fix und Michael Kimmage angestellt hatten, zwei Mitarbeiter des German Marshall Fund mit Sitz in Washington. Kimmage hatte sich von 2014 bis 2016 im Planungsstab des State Department mit der US-Politik gegenüber Russland und der Ukraine befasst. Eine etwaige Niederlage Russlands, schrieben die beiden, »böte wenig Anlass zum Feiern«. Zum einen kämen EU und Nato dann nicht umhin, die Ukraine wiederaufzubauen – »eine Aufgabe von herkulischen Ausmaßen«. Besorgniserregend sei »die Aussicht auf ein geschwächtes und erniedrigtes Russland«, das »revanchistischen Impulsen« folge. Bleibe Putin an der Macht, könne Russland »eine Schurkensupermacht mit einem gepeinigten konventionellen Militär werden, aber mit einem intakten Nukleararsenal«. Und wenn Putin gestürzt werde oder stürze? Natürlich werde man in diesem Fall auf »ein besseres Russland hoffen«, schrieben Fix und Kimmage; wahrscheinlicher aber sei, dass der Staat zersplittere, etwa im Nordkaukasus, oder dass er »eine nuklear bewaffnete Militärdiktatur« werde.
Für die Frage, wie es mit Russland weitergeht, spielen Moskaus globale Beziehungen eine zentrale Rolle. Da mögen die Regierungen im Westen noch so lautstark versichern, Moskau sei weltweit isoliert: Es stimmt nicht. An den westlichen Russland-Sanktionen beteiligen sich außer den Staaten Europas und Nordamerikas Australien und Neuseeland, Japan, Taiwan, Singapur und – unter massivem Druck – Südkorea; das war’s. China, das den Überfall auf die Ukraine politisch ablehnt, weigert sich, sich gegen Russland zu stellen, und weist auf die Rolle Washingtons im Konflikt mit Moskau hin: »Als die USA fünf Wellen der Nato-Osterweiterung bis an Russlands Türschwelle getrieben haben«, erklärte Hua Chunying, eine Sprecherin des chinesischen Außenministeriums, »haben sie da jemals über die Konsequenzen nachgedacht, die es mit sich bringt, wenn man ein großes Land in die Ecke drängt?« Indien weigert sich – bei aller Ablehnung des Krieges – ebenfalls, Russland zu verurteilen. Sein Versuch, außenpolitisch eigenständig zu bleiben, hängt von der Fortdauer seiner engen Kooperation mit Moskau ab; andernfalls droht ihm eine Stellung als Anhängsel der Vereinigten Staaten. Und warum man ein Land, das einen Angriffskrieg führt, abstoßen und sich einem anderen zuwenden soll, das derlei bereits mehrfach getan hat, leuchtet ebenfalls nicht so recht ein.
Auch sonst ist die vom Westen geforderte globale Isolierung Russlands bisher ausgeblieben, wenngleich zahlreiche Staaten in der UN-Generalversammlung den Überfall auf die Ukraine scharf kritisierten. Die arabischen Golfstaaten weigern sich hartnäckig, dem Westen im Machtkampf gegen Moskau zur Seite zu springen: Sie sind, weil sich die USA strategisch auf ihre Rivalität mit China konzentrieren, zwecks eigener Absicherung um eine Kooperation mit anderen Mächten bemüht, darunter Russland. In Lateinamerika und in Südostasien – Ausnahme Singapur – mochte sich ebenfalls niemand auf die Seite des Westens schlagen. Rund die Hälfte der Staaten Afrikas enthielt sich oder nahm erst gar nicht an der Abstimmung teil, als die UN-Generalversammlung in einer Resolution den russischen Überfall auf die Ukraine verurteilte. Als 24 europäische Botschafter vor dem Votum über die UN-Resolution die Regierung Südafrikas in einem Zeitungsbeitrag aufforderten, gegen Moskau zu stimmen – »wir können diesen Bruch des Friedens und der internationalen Regeln nicht hinnehmen«! –, blieb der Appell folgenlos: Jenseits der selbstverliebten transatlantischen Öffentlichkeit machen sich nicht allzu viele Menschen Illusionen darüber, wie es der Westen selbst mit dem Frieden und dem Völkerrecht hält – dann jedenfalls, wenn er selbst Krieg führt.
Jörg Kronauer hat als Band 66 der Reihe konkret texte das Buch »Ukraine über alles!« Ein Expansionsprojekt des Westens veröffentlicht