Faschismus ist nicht...
Aus konkret 08/90: Vorschläge zur Aufhellung pseudo-antifaschistischer Begriffs-Finsternis. Von Georg Fülberth
I. Der antifaschistische Ballermann und die repressiv-tolerante Gummiwand
Im Dezember 1989 versuchten Ebermann, Gremliza und Fülberth in KONKRET den Nachweis zu führen, daß die »Republikaner« lediglich der Komparativ von CDU/CSU/FDP/SPD seien. Der Streit, den sie sich von der Veröffentlichung dieser Ansicht erhofften, fiel aus: Die »Deutsche Einheit« fraß alles, darunter auch die kurzfristigen Chancen der »Republikaner«, und letzteres war eine Bestätigung unserer These. Die nationalen Wünsche der Schönhuber-Klientel wurden nach dem Mauer-Fall von den alten Parteien so vorzüglich bedient, daß die Reps zumindest vorerst in den Keller kamen. Sie waren plötzlich ebenso out wie andere Themen und Leute der Jahresmitte 1989, zum Beispiel der ökologische Umbau der Industriegesellschaft und Oskar Lafontaine. Als Partei leiden sie an der Tatsache, daß ihre Sache vorzüglich dasteht.
Nun haben sie vorher schon großen Wert auf die Behauptung gelegt, sie seien kein klassisch faschistischer Haufen, sondern wollten nur diejenigen Ansprüche aufgreifen, welche das Volk eines auf dem Weltmarkt auftrumpfenden Staates halt haben dürfe. Zumindest ihrem Führer kann geglaubt werden, daß er zur Realisierung von »Ausländer raus« und »Schluß mit der Buße« die Wiedererrichtung des hitlerischen politischen Systems nicht für notwendig hält. Damit hat er außerdem recht.
Der deutsche Faschismus war ein politisches Mittel der Bourgeoisie, als die von ihr angestrebte totale kapitalistische Herrschaft sowohl im Innern als auch draußen auf Hemmnisse stieß, die anders nicht mehr zu beseitigen schienen. Unter »totaler kapitalistischer Herrschaft« verstehe ich das Investitionsmonopol der nationalen Kapitalistenklasse. Im Innern war es angeschlagen durch eine vergleichsweise starke Marktmacht der Gewerkschaften im sozialpolitischen Bargaining. Dies allein wäre allerdings noch kein Grund zum Aus-der-Haut-fahren gewesen, hätte eine Möglichkeit bestanden, die Einengung, welche man auf dem Binnenmarkt erfuhr, durch imperialistische Dominanz draußen zu kompensieren. Das war das deutsche Ziel im ersten Weltkrieg gewesen, und weil der verlorenging, wurde es verfehlt.
Versailles hatte Deutschland auf der imperialistischen Hühnerleiter etwas tiefer unten eingestuft, damit wurde der innere Verteilungsspielraum enger. Die Machtübertragung an Hitler sollte erstens den Schutz der Arbeitskraft durch KPD, SPD und Gewerkschaften beseitigen und zweitens einen weiteren gewaltsamen Griff nach der Weltmacht ermöglichen. Dieser glückte: nicht sofort 1933-1945, wohl aber mit dem Kalten Krieg, den die BRD – zuerst an der Seite der US-Amerikaner schreitend, dann ihnen schon eher auf der Nase herumtanzend – gewann. Sie verfügt nunmehr über jenen Anteil an der ökonomischen Weltherrschaft, welcher einen neuen Faschismus auf absehbare Zeit überflüssig macht. Zweifellos war der Nationalsozialismus eine wichtige Etappe auf diesem Weg, seine Früchte werden aber erst jetzt, im Postfaschismus, geerntet.
Als das viktorianische Großbritannien den von ihm kolonisierten Völkern die Haut abzog, stolzierten in London höfliche und unbewaffnete Bobbies über den Rasen. Die imperialistischen USA haben, was die Gestaltung ihrer inneren Verhältnisse angeht, in ihrem Selbstverständnis eine antifaschistische Staatsideologie, welche sie nach außen gegenüber Hitler-Deutschland und Japan praktizierten, in Griechenland 1967, in Chile 1973 und auch anderswo allerdings suspendierten. Der Widerspruch löst sich auf durch ihre Weltmarkt-Interessen. Hinzu kamen Rücksichten der Systemauseinandersetzung. Auch Israel, einer der aggressivsten imperialistischen Staaten der Gegenwart, hat eine antifaschistische Staatsideologie. Der Bankplatz Schweiz ist bekanntlich nicht faschistisch.
Zugleich handelt es sich um repressive Systeme: Der Zugriff der britischen Polizei auf die Sufragetten war nicht gelinde, die Ächtung der KP in den USA während der fünfziger Jahre und die Zerschlagung der Black Panther Party in den Sechzigern zeigten, wo die Gemütlichkeit ein Ende hat, und es gibt Menschen, die sagen, in der Schweiz könnten sie nicht atmen. In den höchstentwickelten imperialistischen Staaten herrscht niemals Freiheit, wohl aber häufig repressive Toleranz, deren lockere und deren bedrückende Seiten gleichermaßen der Weltmarktdominanz verdankt sind.
Horkheimers Diktum, wer vom Faschismus rede, dürfe vom Kapitalismus nicht schweigen, meint etwas weit Einfacheres, als oft behauptet wird. Es besagt: Faschismus ist eine Form terroristischer Herrschaft, die spezifisch kapitalistische Ursachen hat. Mit Horkheimers Antikommunismus war dies insofern vereinbar, als für ihn der Stalinismus ein ebenso scheußliches Regime war, aber mit anderen Wurzeln. Keineswegs muß Kapitalismus allemal in den Faschismus führen. Dieser ist lediglich eine Notlösung. Sie ist meist mit Effektivitäts-Einbußen verbunden, die erst in der darauffolgenden postfaschistischen Periode wieder ausgeglichen werden können. Insgesamt ist der Faschismus nur eine – besonders katastrophale – Gewaltform des Kapitalismus unter anderen. Er macht lediglich einen Teil der historischen und aktuellen Verbrechen dieser Gesellschaftsformation aus.
Womit wir es heute zu tun haben, ist nicht Faschismus, sondern jenes materielle und ideologische Gewaltverhältnis, welches Herbert Marcuse einst als »repressive Toleranz« bezeichnete. Er bezog sich damit auf die USA. Insofern die BRD ähnliche Züge innenpolitischer Herrschaft schon angenommen hat und im künftigen vereinigten Deutschland einen vergleichbaren internationalen Hegemonie-Typ entstehen lassen wird, ist dieser Terminus auch auf hiesige Verhältnisse anwendbar. Weil das so ist, müssen wir aufpassen, daß »Antifaschismus« nicht eine Symbolhandlung wird, welche verbirgt, daß wir kein Konzept haben, um die tatsächlich aktuellen Gefahren des Kapitalismus zu bekämpfen.
So gesehen, wäre »Antifaschismus« fast schon wieder ein ungewolltes Kompliment an den Faschismus. Dieser nämlich, der Millionen Menschen vernichtete und demütigte, beließ doch einigen seiner aktiven Gegnerinnen und Gegner die Würde des Widerstandes. Es gibt aber keinen »Widerstand« gegen die repressive Toleranz. Antifaschistinnen und Antifaschisten im etablierten Faschismus waren heroisch. Antikapitalisten in den imperialistischen Zentren gelten häufig als Deppen, solange ihre Aktionen sich nicht konkretisiert haben. Ihre Aufgabe besteht darin, einen Politikstil zu entwickeln, welcher den tatsächlich bestehenden Gewalt- und Unterdrückungsformen in den Metropolen entspricht.
»Antifaschismus« ist hierfür nicht die richtige Bezeichnung, sondern drückt eine Selbstverständlichkeit für Antikapitalisten aus. Jeder einigermaßen vernünftige AStA hat heute sein Antirepressions-, Ökologie- und Sozial- – und sein Antifa-Referat. Die Linken, welche dort tätig sind, werden antikapitalistische Aspekte ihrer Arbeit sichtbar zu machen versuchen. Sie bekämpfen Burschenschafter und »Republikaner« nicht nur, weil diese mehrheitlich vom Faschismus in Dienst genommen werden können, wenn es angesagt ist, sondern auch, weil sie, solange es eben nicht so weit ist, die jeweils reaktionärste Form kapitalistischer Herrschaft und Kultur unterstützen.
Antifaschistische Arbeit richtet sich also auch gegen Nichtfaschisten, und die sie betreiben, haben es nicht nötig, ihre Gegner dann tatsächlich schon als »Faschisten« zu bezeichnen. Der Kampf gegen einen bereits etablierten Faschismus wird nicht nur von Antikapitalisten geführt werden: Sie haben in der Regel auch prokapitalistische Bündnispartner. Die Gemeinsamkeit mit diesen beschränkt sich auf die real existierende faschistische Situation (oder auf die tatsächliche Möglichkeit und Notwendigkeit, eine aktuell gegebene Faschismus-Gefahr abzuwenden) . Besteht diese nicht, hätte das Bündnis – sollte es über gemeinsame Aufrufe zu Demonstrationen gegen NPD-Parteitage hinausgehen – keinen Gegenstand.
Wer »Antifaschismus« sagt und jeweils entweder »Anti-Imperialismus«, »Anti-Repression«, »Anti-Sexismus«, »Anti-Rassismus« oder »Anti-Kapitalismus« meint, läßt es an der nötigen Begriffsklarheit fehlen und trägt zu jenem Wort-Salat bei, den viele Linke mit der lockeren Kombination Faschismus/Rassismus/Sexismus/ Neo-Eugenik anrichten. Hier wird zusammengemixt, was vielleicht einiges miteinander gemeinsam hat, aber zu wenig, um etwa gar Synonyme zu erlauben. Es wäre doch viel besser, den jeweiligen Gegenstand der Kritik bei seinem konkreten Namen zu nennen und bei keinem anderen.
Der Terminus »Faschismus« ist lediglich auf eine staatsterroristische Form kapitalistischer Herrschaft, in der jegliche Opposition illegalisiert ist, anwendbar. Rassismus, Sexismus und Neo-Eugenik sind typisch für faschistische und nichtfaschistische Staaten. Daß sie nicht auf den Kapitalismus beschränkt sind, wird unter zwei Aspekten klar:
Erstens: Auch im realen Sozialismus kennen – und kannten – wir Rassismus und Sexismus (und wie!). Neo-eugenische Überlegungen sind ihm in Theorie und Praxis nicht fremd.
Zweitens: Sexismus kann gar nicht unmittelbar aus dem Kapitalismus abgeleitet werden (und nur im kapitalistischen Kontext macht der Begriff »Faschismus« einen Sinn), sondern aus dem Patriarchat. Dieses aber ist synchron (Kapitalismus – Realer Sozialismus) und diachron (vorkapitalistische Gesellschaften – kapitalistische Gesellschaften) »systemübergreifend«. Zweifellos ist das Fortbestehen des Patriarchats und des Sexismus dem Kapitalismus höchst dienlich. Alle drei aber – Kapitalismus, Patriarchat, Sexismus – sind nicht notwendig faschistisch. Lieblicher werden sie dadurch natürlich nicht. Auch Neo-Eugenik ist, für sich genommen, nicht faschistisch; ihre philosophische Rechtfertigung bezieht sie, wie wir spätestens seit der Singer-Debatte wissen, aus dem Utilitarismus, der selbstverständlich vorzüglich in kapitalistisches Kalkül einfunktioniert werden kann (»Kostendämpfung«), dadurch aber keineswegs unbedingt faschistisch wird.
Kampf gegen Sexismus, Rassismus und Neo-Eugenik ist hier und heute nicht unmittelbar antifaschistisch, sondern er ist genauer unter zwei anderen Aspekten zu fassen:
Der erste ist »gesinnungsethisch« (ich kokettiere hier mit der Terminologie Max Webers und leide keinen Schaden dabei), wobei die Maximen dieser Ethik – so kann es zugehen in der Welt – sogar in der Nachfolge zugleich von Kant und Marx (aber eben von beiden, unverzichtbar im übrigen von letzterem) formuliert werden können. Kant: Es dürfe niemand zum Mittel eines außerhalb seiner selbst liegenden Zweckes gemacht werden. Marx/Engels: Dies sei nur möglich in einer Gesellschaft, in der die freie Entwicklung eines jeden Menschen die Voraussetzung für die freie Entwicklung aller ist (Kommunistisches Manifest).
Einen zweiten Aspekt nenne ich »widerspruchsethisch« (und sowas kommt bei Max Weber nicht vor). Damit bezeichne ich die moralische Qualifikation derer, die als Diskriminierte sich gegen Sexismus, Rassismus und gegen die Maximen der Neo-Eugenik wehren. Zweifellos handelt es sich dabei um Interessenvertretung, doch ist dieser Begriff für das, was hier gemeint ist, zu unspezifisch, da die »Widerspruchsethik« nur die Gegenwehr derer meinen kann, die unten sind. (Auch Unternehmerverbände sind Interessenvertretungen . )
II. Ein paar Modifikationen
Nachdem ich mich gegen den inflationären Gebrauch der Worte »Faschismus« und »Antifaschismus« gewandt habe, kann ich – ohne meine Kritik abzuschwächen – Mängel meiner Position einräumen.*
Ich gebe zu, daß ich bis hierhin arg ökonomistisch verfahren bin. Die positiven Postulate wie auch meine Kritik leiden an angebbaren Verengungen aus der marxistischen Tradition, welche aufgehoben werden können, ohne daß ich gleich zum revisionistischen Verräter werde. Bevor es jemand anderes merkt, gestehe ich mal lieber gleich selbst, daß ich in meinem Hinweis auf das Kommunistische Manifest ein Zitat gefälscht habe. Marx und Engels sprechen nämlich nicht von der freien Entwicklung eines jeden Menschen, sondern nur: eines jeden, verwenden also ausschließlich die männliche Form. In der Kritik an der pränatalen Diagnostik ist darauf hingewiesen worden, daß bei den Befürwortern der Neo-Eugenik eine Manipulation mit dem Begriff der Person vorgenommen wird. Meine positiven Bestimmungen sind also nicht ausreichend. Der Bezug auf das Kommunistische Manifest läßt etwas im Unklaren, was heute höchst umstritten ist. Wir sehen: Wenn wir – sei es unter Berufung auf Kant, sei es auf Marx – die Souveränität des Individuums als unabdingbar für linke Politik erklären, dann ist unser Projekt insofern noch nicht zu Ende definiert, als eben die Bestimmung des Individuums eine vorläufige ist.
(Ich füge hinzu: Sie wird vielleicht unter uns auch strittig sein. Diejenigen, welche Theresia Degeners oder Franz Christophs Positionen zur pränatalen Diagnostik übernehmen, dürften dies ja wohl nur dann, wenn sie damit nicht zu Heuchlern würden. Falls verbales Bekenntnis und tatsächliches Verhalten – und sei es in einem einzigen Fall – auseinandergehen, stimmt etwas nicht: Entweder taugt die Norm nichts oder die je individuelle Praxis.)
Ich räume auch ein, daß ich es mir zu leicht gemacht habe, wenn ich Sexismus, Rassismus und Neo-Eugenik der Bundesrepublik nur im Kontext der repressiven Toleranz erklärt habe, nicht aber in der Tradition des deutschen Faschismus. Um in einer flapsigen Analogie zu reden: Vielleicht sind Gesellschaften »geprägt« wie die Graugänse von Konrad Lorenz. Der US-amerikanische Sexismus kann nicht ausreichend erklärt werden ohne den Puritanismus der Pilgrim Fathers, der dortige Rassismus nicht ohne die Vorgeschichte der gewaltsamen Landnahme und der Sklaverei. Und die deutschen Varianten von Sexismus, Rassismus und Neo-Eugenik sind eben postfaschistisch – nicht in dem Sinne, daß der Faschismus etwa überwunden sei, sondern daß er nachwirkt.
Der Terminus »repressive Toleranz« trifft meiner Meinung nach zwar ein dominantes Merkmal der BRD, aber nicht ihre gesamte Wirklichkeit. Er wäre grundfalsch, wenn er dazu benutzt würde, das faschistische Erbe abzuwaschen. Die ständige Anstrengung von Genscher und Habermas, aus Deutschland ein nicht mehr durch den Faschismus geprägtes, sondern ein ganz normales kapitalistisches Land (als wenn es so etwas gäbe!) zu machen, wäre scheinbar – das heißt: nicht in der Realität, aber im Selbstbetrug und in der Außendarstellung – erfolgreich.
Allerdings ist der Faschismus nur eine Vor-Prägung unter anderen, wenn wir von aktueller deutscher Anti-Humanität und ihren Voraussetzungen sprechen. Eine andere ist die Tradition des Klerikalismus. (Es ist kein Zufall, daß die NSDAP sich zum »positiven Christentum« bekannte und mehrheitlich eine christliche Partei war.)
Die Folgen, auch die sexistischen, lassen sich leicht aufzählen. Andernorts hat der Islam diese Funktion. Zur extremsten Form des Anti-Humanismus, der Folter, hat nun gerade die eine oder andere Weltreligion immer wieder mal beigetragen – nicht indem sie die Folter erfand (sie ist älter als Christentum und Islam), sondern indem sie sie rechtfertigte und anwandte.
Dieses Beispiel hat vielleicht einen doppelten argumentativen Wert: es warnt – erstens – davor, fast jede Form moderner Anti-Humanität als »Faschismus« zu versimpeln, und – zweitens – : mein anfänglicher Ökonomismus greift hier nicht.
* Zur Einsicht bin ich nicht aus eigener Kraft gekommen, sondern nach heftigen Angriffen, die auf dem Kongreß der »Radikalen Linken« (1.-3. Juni 1990 in Köln) vor allem Theresia Degener, Ursel Döhmann, Jürgen aus Stuttgart, ein Anti-Klerikaler aus Köln und eine Diskutantin aus Hamburg gegen mich vorgetragen haben. Der Wert von Mammut-teach-ins wird häufig bestritten, zu unrecht. Es gibt nämlich eine Menschengruppe, welche allemal etwas davon hat: die Besatzung des Podiums.