Im Hamsterrad der Politik
Aus konkret 4/24: Faschismus, Antifaschismus und die heutige Linke. Eine Entgegnung auf Peter Bierls Beitrag »Staatsantifa reloaded«. Von Rolf Surmann
Die AfD eilt scheinbar unangefochten von Wahlerfolg zu Wahlerfolg, während nach langem Schweigen überraschend Hunderttausende gegen sie auf die Straße gehen. Was ist davon zu halten, und welche Schlüsse sind daraus zu ziehen? Kommt aus der formierten Gesellschaft plötzlich ein neuer demokratischer Impuls? Im März-Heft von konkret sind einige Autoren dieser Frage nachgegangen. Peter Bierl zog in seinem Beitrag die weitreichendsten Schlüsse, allerdings solche, über die man streiten kann, ja muss.
Vergegenwärtigen wir uns zunächst das Grundmuster seiner Argumentation. Nach der Charakterisierung der die Demonstrationen prägenden politischen Strömungen beginnt er mit dem etwas überraschenden Satz, aus linker Perspektive gelte es, sich den qualitativen Unterschied zwischen den verschiedenen Formen bürgerlicher Herrschaft – zwischen liberaler Demokratie und Faschismus – bewusst zu machen, statt darüber hinwegzureden. Überraschend ist dieser Einstieg in die Argumentation insofern, als das Wissen um diesen »qualitativen Unterschied« eine Binsenweisheit ist. Wo also ist das Problem? Die Frage klärt sich im nächsten Satz. Bierl zielt auf die gemeinhin als »Putin-Versteher« Bezeichneten, die seine Interpretation der Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine nicht teilen, in seinen eigenen Worten: zwischen dem »autoritären Putin-Regime«, das weltweit »rechtsextreme Bestrebungen« fördere, und einer als »korrupt und faschistisch diffamierten« Ukraine. Nun wird diese Auseinandersetzung zwar gerade vielerorts geführt, sie jedoch als Beispiel für den Widerspruch zwischen Faschismus und liberaler Demokratie anzuführen, gibt selbst die Bierl-eigene Begrifflichkeit nicht her.
Doch geht es ähnlich weiter. Es folgt eine Auflistung der Staaten Ungarn, Polen, Italien und Trumps USA, die wegen Abschaffung der freien Presse oder der Suspendierung einer unabhängigen Justiz oder der Reglementierung von Hochschulen oder, wie im Fall Trump, wegen der Vorbereitung einer »diktatorischen Agenda« als Negativbeispiele angeführt werden. Für was, bleibt offen.
Wer erwartet hat, nach dem irritierenden Einstieg würde die konkrete Form des Verhältnisses von liberaler Demokratie und Faschismus als Voraussetzung für die Bestimmung heutiger linker Politik herausgearbeitet, wird enttäuscht. Im Grunde spitzt sich das Problem durch die im Folgenden verwendeten nicht näher definierten Begriffe autoritär, diktatorisch oder rechtsextrem noch zu. Was Bierl unter Faschismus versteht und wie sich diese unterschiedlichen politischen Bezeichnungen zu ihm verhalten, bleibt erst recht unerklärt. Eventuell soll in diesem Absatz das gesellschaftliche Verhältnis vor seinem möglichen Umschlagen ins »Faschistische« umrissen und auf die weltweite Dimension der Problematik hingewiesen werden. Doch auch dafür ist eine klare Begrifflichkeit unverzichtbar. Das gilt vor allem für den Terminus Faschismus selbst. Soll er von erkenntnisförderndem Nutzen sein, ist der Nachweis seiner Tauglichkeit für die Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse unumgänglich. Sonst bleibt er ein moralisch aufgeladener Lückenfüller mit vergangenheitsorientierten Assoziationen.
In drei Schritten umreißt Bierl dann unter durchgängiger Verwendung des Codeworts Faschismus die Bedingungen einer linken Politik zur Verhinderung des weiteren AfD-Aufstiegs. Zunächst komme es auf die Klärung der Frage an, ob die AfD bereits vor der »Machtübernahme« stehe oder ob sich die deutsche Gesellschaft noch im Prozess ihrer »Faschisierung« befinde. Ergänzend fügt er hinzu, dass die Linke gegenwärtig nicht in der Lage sei, auf dieses Szenario einen nennenswerten Einfluss zu nehmen. Hieraus folge: »Aktuell könnten allenfalls die bürgerlich-demokratischen Parteien die AfD aufhalten, wobei der CDU/CSU eine Schlüsselrolle zukommt.«
Damit hat er die Prämissen für eine außergewöhnliche Schlussfolgerung gesetzt: So-lange die Machtfrage nicht entschieden sei, in der Phase der »Faschisierung« also, könne die Linke durchaus Kritik an den bürgerlichen Parteien üben, in der Situation der Entscheidung über die Machtfrage habe man sich jedoch auf deren Unterstützung zu konzentrieren. Denn insbesondere CDU und CSU drohten als entscheidende Hindernisse für einen weiteren Aufstieg der AfD in diesem Prozess politisch zerrieben zu werden. Allerdings gewährt Bierl dem Verstummen der Linken noch etwas Aufschub. »Doch Deutschland steht noch nicht vor einer Machtübernahme der AfD. Deshalb wäre es falsch, auf Kritik zu verzichten.« Noch, wohlgemerkt.
Das ist eine erstaunliche Schlussfolgerung aus einer politischen Lagebeschreibung, die nicht nur durch die Verwendung von Begriffen wie »Machtübernahme« historische Parallelen suggeriert, sondern eben auch auf einem unspezifischen Faschismusbegriff gründet. Bleibt der Linken also heute lediglich übrig, zur Rettung der Verhältnisse beizutragen, die zur Möglichkeit einer »Machtübernahme« durch die AfD geführt haben, oder, wie es vor Jahrzehnten im Hinblick auf die SPD hieß, »Arzt am Krankenbett des Kapitalismus« zu sein? Diesmal vielleicht sogar nur als Statistin in einem weltweiten Kampf, der vor gut hundert Jahren begonnen wurde und durch die Jahreszahlen 1914, 1917, 1933, 1939/1941 und 1945 gekennzeichnet ist?
Kein Faschismusverständnis ohne Kapitalismus-Analyse
Es ist im Grunde nicht möglich, auf solche Fragen eine hinreichende Antwort zu geben, ohne sich zuvor mit dem allgemeinen politischen Transformationsprozess zu befassen, den auch Peter Bierl mit seiner Auflistung punktuell anspricht – allerdings eben nur, um ihm umgehend das verschlissene Etikett Faschisierung/Faschismus anzuheften, ganz so, als habe es in den vergangenen 80 Jahren die Herrschaft von freedom and democracy, verbunden mit dem Versprechen eines guten persönlichen Auskommens, und neue Lebensformen unter den Vorzeichen von Sex, Drugs and Rock’n’Roll nicht gegeben. Einige überkommene Faschismustheorien wären angesichts dieser Vorgeschichte jedenfalls von vornherein erledigt.
Denn weder ist die AfD aus irgendeinem politischen Ei geschlüpft, noch gibt es eine Sonderentwicklung in Deutschland, aus der man den »Rechtspopulismus« ableiten könnte. Vielmehr sind wir mit grundlegenden Veränderungen der Lebensbedingungen der Menschen in den westlichen Gesellschaften konfrontiert, die für einen Teil von ihnen eine deutliche Verschlechterung ihrer Lebensumstände und für alle Veränderungen des Alltags zur Folge haben, die von kulturellen Herausforderungen bis zu ersten Konsequenzen der Erosion der natürlichen Lebensbedingungen reichen. Kurz: Die von einer großen Mehrheit bisher als akzeptabel empfundene bürgerlich-kapitalistische Ordnung befindet sich in einem Krisenprozess, dessen Ausgang nach dem Verständnis vieler zumindest ungewiss ist.
Hinzu kommen Auswirkungen, die aus der Auflösung der seit dem Zweiten Weltkrieg geltenden Nachkriegsordnung inklusive der mit ihr verbundenen Demokratieneugründung resultieren. Innergesellschaftlich macht sich diese Auflösung in eklatanten politisch-ideologischen Veränderungen bemerkbar. Sie reichen von der Umstrukturierung des traditionellen Parteiensystems – sei es per programmatischer Neuausrichtung besonders sozialdemokratischer Parteien, sei es, indem alte Parteien, etwa in Italien oder Frankreich, verschwinden – bis zu ideologischen Verirrungen von Teilen der Bevölkerung, die wie etwa die »Verschwörungstheoretiker« nicht mehr in die alten hegemonialen Ideologien eingebunden werden können.
Auf staatlicher Ebene gewinnen nationale Interessen an Gewicht, die vordergründig in Parolen wie »Buy british« oder »America first« zum Ausdruck kommen. Supranationale Organisationen wie die EU oder selbst die Nato geraten unter einen entsprechenden »Reform«-Druck. An die Stelle von Handelsfreiheit und »Globalisierung« treten Schutzzölle und ein System von Sanktionen. Durch die Wirtschafts- und Kriegspolitik des Westens hervorgerufene oder zumindest verschärfte Probleme wie die Fluchtbewegungen großer Menschenmengen werden nicht integrierend gelöst, sondern autoritär-repressiv vom eigenen Staatsgebiet ferngehalten – unter Inkaufnahme des Tods unzähliger Menschen.
Diese Entwicklung kann als Ergebnis der Aufgabe eines Politikverständnisses interpretiert werden, das auf der Überzeugung uneingeschränkter Überlegenheit des Westens beruhte. Das 1989 proklamierte »Ende der Geschichte« im Sinn der unangefochtenen Behauptung der bürgerlich-kapitalistischen Weltordnung war die letzte vollmundige Verkündung des alten westlichen Selbstverständnisses. Heute wird auf internationaler Ebene der Kampf um die Ablösung der unipolaren durch eine multipolare Weltordnung geführt. Der Ukraine-Krieg ist Ausdruck und Fixpunkt dieser Entwicklung. Seine Ausweitung über den Kampf um die Vorherrschaft in Europa hinaus zu einem dritten Krieg um die Weltherrschaft zeichnet sich mit der westlichen Konfrontationspolitik gegenüber China ab. Unabhängig davon, wie man diese Konstellation im einzelnen bewertet und welche Schlussfolgerungen man aus ihr zieht, hat sie natürlich auch innenpolitische Auswirkungen.
Auch diese tragen – neben den vielfältigen innergesellschaftlichen Gründen – zur Entwicklung des »Rechtspopulismus« bei. Auf unterschiedliche Weise Partei geworden – als politische Häutung einer ursprünglich faschistischen Nachfolgeorganisation wie Melonis Fratelli d’Italia oder als Produkt des rechten Rands des deutschen Parteienspektrums wie die AfD –, bilden sie den rechtsradikalen Flügel des parlamentarischen Parteienspektrums. Dabei entsprechen sie auch in ihrem Erscheinungsbild in wesentlichen Punkten nicht den mit dem traditionellen Faschismus verbundenen Vorstellungen.
Nehmen wir etwa die durch den italienischen »Urfaschismus« vermittelte Vorstellung von Faschismus, dann wird schon an der Herkunft des Namens aus den römischen »fasces« als Symbol über Leben und Tod das Ziel der Eroberung der politischen Macht durch Kampf erkennbar. Und damit sind keine Redeschlachten gemeint. Die NSDAP hielt sich zu diesem Zweck mit der SA (Sturmabteilung) eine gesonderte Parteiformation, die sie gerade auch zur Beherrschung des außerparlamentarischen Raums, insbesondere der Straße einsetzte. Die AfD allerdings sitzt im Bundestag wie auch in anderen Parlamenten. Zwar nutzt sie durchaus den Brückenschlag zu außerparlamentarischen Bewegungen wie den früheren rassistischen Montagsdemonstrationen, unternimmt aber selbst kaum außerparlamentarische Anstrengungen. Ihr politischer Einfluss beruht also nicht auf der Macht der Straße, sondern auf der Stimmabgabe an der Wahlurne.
Sie greift auch nicht auf den für den Faschismus typischen Führerkult mit entsprechenden Aufmärschen und Massenmobilisierungen zurück, sondern orientiert sich eher am üblichen Know-how für ein durch die Medien vermitteltes Erscheinungsbild. Das ist keine Nebensächlichkeit. Denn dieses Einfügen in den etablierten Politikbetrieb führt zu Abhängigkeiten, fehlt ihr doch nicht zuletzt eine auf eigenen Strukturen basierende politische Selbstdarstellungsmöglichkeit. Die AfD bleibt also auch in dieser Hinsicht Teil der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung.
Die ausschließliche Orientierung auf die AfD als Ausdruck des gegenwärtigen Rechtstrends kann zwar für sich reklamieren, dass diese Partei in besonders auffälliger Weise nicht zuletzt eine die allgemeinen Menschenrechte verachtende Politik betreibt, doch steht sie damit keinesfalls alleine. Georg Fülberth hat – ebenfalls in der März-Ausgabe von konkret – auf diesen Sachverhalt mit dem Hinweis auf »geringfügige Unterschiede« in der Migrationspolitik aufmerksam gemacht: »Einst erwog die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch, erforderlichenfalls müsse auf Flüchtlinge geschossen werden. Die EU, die großen Koalitionen unter Merkel und die Ampelregierung von Scholz hielten und halten es für geboten, den Schengenraum so abzuschotten, dass Zehntausende im Mittelmeerraum zu Tode kommen. Die Forderung nach Erschießen gilt als zynisch und menschenverachtend, Ertrinkenlassen offenbar nicht.«
Die schlagzeilenträchtigen »Correctiv«-Enthüllungen über rechte Pläne zur Remigration von Geflüchteten zielten ebenfalls in diese Richtung. Obwohl das eine oder andere Büro dafür zuständiger regionaler Verwaltungen längst die Bezeichnung »Remigration« trägt oder die britische Regierung unwillkommene Geflüchtete in irgendein afrikanisches Land deportieren will, wobei einem informierten Deutschen sofort »Madagaskar« einfallen sollte, versuchte man das private Treffen einiger Leute aus dem Spektrum von AfD, Identitärer Bewegung und CDU als Zeichen eines politischen Quantensprungs zu verkaufen. Der »Spiegel« spitzte diesen ideologischen Coup noch geschichtsrevisionistisch durch die Bemerkung zu, das Hotel, in dem dieses Treffen stattfand, liege in der Nähe des Ortes, an dem 1941 die Wannsee-Konferenz über die Vernichtung der europäischen Juden stattgefunden habe.
Natürlich trägt diese ideologische Mobilmachung nicht zur Verbesserung der Lage von Geflüchteten in Deutschland bei, aber vielleicht kostet sie die AfD einige Prozent bei den anstehenden Wahlen. Das mag man als Erfolg verbuchen. Doch dürfte ungleich schwerer wiegen, dass die politische Gesamtentwicklung damit aus dem Blick gerät. Denn die etablierten bürgerlichen Parteien erscheinen vor diesem Hintergrund als weiße Ritter, was sie bei genauerer Betrachtung keineswegs sind. Nimmt man zum Beispiel ein für das politische Selbstverständnis so zentrales Thema wie die Migrationspolitik, so können sie im Prinzip mit der AfD durchaus mithalten. In puncto Krieg und Frieden übertreffen sie die »Faschisten« hinsichtlich der Bereitschaft zu Kriegführung und Missachtung der Diplomatie sogar bei weitem.
Andersherum ist zu zeigen versucht worden, dass die AfD nicht dem typischen Bild einer faschistischen Partei entspricht. Das muss nicht das letzte Wort sein, weil die Herausbildung des »Rechtspopulismus« unter Umständen nur ein erster Schritt zur allgemeinen politischen Umstrukturierung in der aktuellen Entwicklungsphase des Spätkapitalismus ist. Das Bild von der Brandmauer zwischen »Faschismus und Demokratie«, die es unterhalb der Regierungsebene sowieso nicht gibt und die auf zwischenstaatlicher Ebene auch keine Bedeutung hat, wie das Verhalten gegenüber der Postfaschistin Meloni zeigt, dürfte seine Bedeutung jedenfalls eher aus der aktuell noch vorherrschenden Konkurrenzsituation zwischen den Parteien beziehen als aus nicht zu überbrückenden politischen Gegensätzen.
Was folgt daraus für die Linke? Peter Bierls Konzept von Antifaschismus mit seinem Schwerpunkt, parlamentarische Mehrheiten der AfD zu verhindern, greift offensichtlich zu kurz. Auch seine Empfehlung, bürgerliche Parteien als entscheidende Akteure anzusehen, macht wohl eher Böcke zu Gärtnern. Wenn es richtig ist, dass wir mit einer neuen prinzipiellen Krise der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft konfrontiert sind, dann hängt die Bedeutung der Linken nicht in erster Linie davon ab, ob sie auf aktuelle politische Prozesse einigen Einfluss nehmen kann. Entscheidend ist vielmehr, ob es ihr gelingt, die grundlegende Bedeutung der gegenwärtigen Krise für das Leben der Menschen klarzumachen. Ist sie dazu in der Lage, wird sich die Linke auch selbst verändern und ihre augenblickliche gesellschaftliche Marginalisierung überwinden. Dabei muss sie nicht in der Rolle des Arztes am Krankenbett des Kapitalismus verharren, sondern sie kann sich gerade angesichts des sich abzeichnenden abermaligen Scheiterns der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zur Geburtshelferin einer neuen Gesellschaft entwickeln.