Staatsantifa reloaded
Aus konkret 3/24: Das Wohlfühlspektakel auf den »Demos gegen Rechts« wird den Faschismus nicht aufhalten. Von Peter Bierl
Hunderttausende protestieren gegen die AfD. Das ist die gute Nachricht. Bloß welchen Effekt hat diese spontane Bewegung? Denn im Erfolg der Rechten drücken sich tiefgreifende gesellschaftliche Widersprüche aus, die längst eine Legitimationskrise der bürgerlich-liberalen Institutionen hervorgebracht haben. Deshalb wählen Menschen aus der »Mitte der Gesellschaft« mit nationalistischer, antisemitischer und rassistischer Grundhaltung, die bei CDU/CSU, SPD, FDP, zum kleineren Teil bei Grünen und Linken jahrelang gut aufgehoben waren, nun die AfD.
Millionen von Menschen sind seit Mitte Januar auf die Straße gegangen, in Groß- und Kleinstädten und Dörfern, im Westen wie im Osten, und die Protestwelle hält an. Wobei der Zulauf im Osten meist bescheidener ausfällt – in Magdeburg waren es einige hundert Menschen –, weil dort die extreme Rechte in all ihren hässlichen Schattierungen längst dominiert. Der andernorts riesige Zulauf hat die Organisatorinnen und Organisatoren überrascht. Die Enthüllungen des Rechercheteams von »Correctiv« über die Remigrationspläne der Nazis Mitte Januar waren für viele der Kipppunkt. Dahinter steht jedoch ein Unbehagen über den Aufstieg der AfD, das sich aus ihren Wahlerfolgen und Umfrageergebnissen speist und schon länger schwelt.
Davon abgesehen, sind die Motive sehr unterschiedlich. Zwischen denjenigen aus der linken, antifaschistischen, antirassistischen und klimabewegten Szene, die organisieren, und der Masse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die dem bürgerlichen Milieu von SPD und Grünen angehören, besteht eine Kluft. In der Anti-AfD-Bewegung lassen sich idealtypisch drei Haupttendenzen unterscheiden.
Zur ersten Tendenz gehören jene, die um den kapitalistischen Normalbetrieb bangen und von dessen Grausamkeiten und den Folgen nichts wissen wollen. Solche Menschen neigen zur Realitätsverweigerung, wie sie von Corona-Leugnern bekannt ist. Sie zählen zur besser gestellten akademischen Mittelschicht, die um ihren Lebensstil fürchtet und glaubt, abgesehen von Auswüchsen, in der besten aller Welten zu leben. Ihre Intellektuellen sind Wissenschaftler, die sich um den Standort sorgen: Die AfD verschrecke Investoren und Fachkräfte aus dem Ausland, so der Tenor von Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Wirtschaftsinstituts (DIW), und Clemens Fuest, Chef des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Ein direkter Zusammenhang zur Kapitalverwertung ist bei Unternehmen oder Bundesligatrainern mit multinationalen Teams gegeben, die sich einschlägig äußerten.
Bei der zweiten Tendenz in der Anti-AfD-Bewegung ist der Unterschied zwischen Demokratie und Faschismus klarer vor Augen: »Nie wieder heißt jetzt«, so der passende Slogan, der auf den Kundgebungen zu sehen ist. Ihnen geht es um eine klare Kante zur AfD, aber Union und Ampel werden ebenfalls ins Visier genommen. »Rechtsextremismus kann man nicht bekämpfen, indem alle nach Rechts rücken«, sagte Tareq Alaows von Pro Asyl, einer der Organisatoren in Berlin, laut Angaben der »Süddeutschen Zeitung«. In München erklärte Luca Barakat von Fridays for Future, das Motto »Gemeinsam gegen Rechts« sei bewusst gewählt worden, denn es gehe nicht bloß um die AfD, sondern um den Rechtsruck, für den zwar vor allem die AfD verantwortlich sei, aber eben auch die Ampel.
Etliche Redebeiträge waren in dieser Hinsicht deutlich. Die meisten wurden allerdings nicht gehalten, weil die Polizei die Kundgebung angesichts der riesigen Menge abbrach. So hätte Nesrin Gül vom Münchner Migrationsbeirat gefordert, die Parteien sollten aufhören, das »Wording von Faschisten« zu übernehmen und das »Menschenrecht auf Asyl zum Spielball von Wahlkampfpolitik« zu machen. Das missfiel etlichen Leuten, es folgte ein Shitstorm von interessierter Seite. Der Fraktionsvorsitzende der CSU im bayerischen Landtag, Georg Eisenreich, diffamierte das Orgateam mit Verweis auf antisemitische Auslassungen Greta Thunbergs – ziemlich dreist für den Koalitionspartner von Hubert Aiwanger (Freie Wähler), der sich in der dubiosen Affäre um ein Naziflugblatt aus seiner Jugend alles andere als reumütig verhielt. Der frühere Münchner SPD-Oberbürgermeister Christian Ude tobte über Sektierertum und versucht, ein »Bündnis für Toleranz« zu reanimieren, um den Linken das Wasser abzugraben.
Was sich bürgerliche Parteien und Kommentatoren wünschen, ist eine Staatsantifa nach dem Vorbild der Lichterketten in den frühen neunziger Jahren. Inmitten einer Welle von rechter Gewalt und Pogromen, bei denen die Polizei zuschaute, sollte der Welt die Harmlosigkeit des wiedervereinten Deutschland vorgetäuscht werden. Die Gefahr für die Demokratie konnte abgewendet werden, »letztlich durch strengere Regelungen für die Zuwanderung«, schreibt Manfred Köhler in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« in seinem Plädoyer für die Neuauflage.
Zu erinnern wäre auch an den »Aufstand der Anständigen«, den SPD-Kanzler Gerhard Schröder nach dem Brandanschlag auf die Synagoge in Düsseldorf im Oktober 2000 ausrief: Als Täter wurden zwei Deutsche migrantischer Herkunft ausgemacht. Fünf Jahre später schürte der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering mit seiner Heuschreckenrede antisemitische Ressentiments, mit dem Nebeneffekt, von Grausamkeiten der rot-grünen Regierung abzulenken, die die Deregulierung und Verarmung mit ihrer Agenda 2010 vorangetrieben hatte.
Die dritte Fraktion der AfD-Protestbewegung würde der Kritik an Union und Ampel mehr oder weniger zustimmen, hält es aber aus taktischen Gründen für geboten, zu schweigen, um das liberale und konservative Lager zu gewinnen. Bei den Kundgebungen sind durchaus Politikerinnen und Politiker von CDU/CSU anzutreffen, auch am Rednerpult. Ob ihre Basis mitläuft, darf bezweifelt werden. Wenn der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) über Migration und Energiepreise redet, vom »übergriffigen Staat« spricht und die Ampel als »unverantwortlich« und »demokratiezerstörend« rügt, ist er nahe am AfD-Sound. Solche Agitation betreibt das Geschäft der extremen Rechten.
Es ist richtig, sich auf die AfD zu fokussieren, um möglichst viele Menschen anzusprechen. Wichtig wäre jedoch das klare Ziel, das Verbot der Partei als Forderung ins Zentrum zu stellen, schon um den öffentlichen Diskurs in ein anderes Fahrwasser zu lenken: weg von Narrativen, die die extreme Rechte setzt, hin zu einer Diskussion über ihren faschistischen und gefährlichen Charakter. Gleichzeitig muss darum gekämpft werden, dass Massenkundgebungen parteifrei bleiben. Ihre Vertreterinnen und Vertreter dürfen gerne mitlaufen, aber keine Bühne bekommen.
Ob eine solche Bewegung überhaupt etwas erreichen kann, lässt sich aus guten Gründen anzweifeln, denn die realen Probleme verschärfen sich. In Deutschland und China läuft die Kapitalverwertung nicht rund, die USA stehen mit einem schon inflationsbereinigten Wachstum von 2,5 Prozent im vergangenen Jahr relativ gut da. Aber auch dort (wie in allen kapitalistischen Zentren) geht die Verarmung weiter – abzulesen an der Zahl der Suppenküchen und Tafeln, an der Obdachlosigkeit als Resultat von Erwerbslosigkeit, niedrigen Löhnen und Renten, hohen Mieten und Lebenshaltungskosten. Das trifft vor allem den weiblichen und migrantischen Teil der Lohnabhängigen, aber zunehmend auch die lohnabhängige wie kleinbürgerliche Mittelschicht.
Die verarmten Teile der Bevölkerung sind resigniert, sie protestieren nicht, sie organisieren sich nicht, und sie gehen nicht wählen – in der durchaus richtigen Einschätzung, dass sich dadurch für sie wenig ändert. Das Heer der migrantischen oder illegalen Arbeitenden ist politisch rechtlos und darf nicht wählen. Wenn VW-Arbeiter in Wolfsburg und Braunkohlekumpel in der Lausitz die Klimakleber hassen und AfD wählen, haben wir es eher mit einer Arbeiteraristokratie zu tun. Bei VW werden hohe Löhne gezahlt, und der Bergbau in der Lausitz wird mit 40 Milliarden abgewickelt. Leider ist das Proletariat insgesamt ein Problemfall: Alle Untersuchungen zeigen, dass unter den Mitgliedern der DGB-Gewerkschaften der Anteil der AfD-Wählerinnen und Wähler höher ist als im Durchschnitt der Gesellschaft.
Kein Wunder: Die Sozialpartnerschaft, von der deutsche Gewerkschaften träumen, ist ideologisch schon nahe dran an der Volksgemeinschaftsideologie. Dazu kommt, wie Herbert Marcuse einst analysierte, dass die (weiße) Arbeiterklasse in der Konsumgesellschaft der westlichen Länder ein angepasstes Angestelltenbewusstsein annahm, gekettet an den Erfolg des nationalen Kapitals und abgrenzungswütig nach unten.
Wie eh und je strukturell anfällig für rechte Deutungen sind Bauern, Handwerker und Kleingewerbetreibende. Sie bilden seit dem späten 19. Jahrhundert, in Deutschland seit dem Gründerkrach von 1873, das Reservoir für Antisemitismus und Rassismus. Es ist kein Zufall, dass der Altmeister der judenfeindlichen Hetze, Theodor Fritsch, zugleich Funktionär in diversen Mittelstandsorganisationen war. Die Gruppe steht unter dem Konkurrenzdruck größerer Unternehmen, sie klammert sich an ihr Eigentum und ihren Status, sie will, dass der Staat die Konkurrenz so reguliert, dass sie gedeihen kann. Die Schuldigen sind in ihren Augen die Großen, die anonymen Mächte des Großkapitals, Banken und Börsen – eine Deutung, die für Antisemitismus stets offen ist. Bei aktuellen Protesten des sogenannten »alten Mittelstandes« wird immer wieder gegen Bürgergeld und Unterstützung für Asylbewerber gehetzt, so etwa auf einer Kundgebung von Bauern, Spediteuren, Gastronomen und sonstigen Gewerbetreibenden in München Ende Januar mit knapp 20.000 Menschen.
Das faschistische Potential ist demnach enorm, während eine desolate und marginale Linke nicht davon profitieren kann, wenn die ideologische Dominanz des bürgerlich-liberalen Lagers, von Medien und Parteien, zerfällt. Statt dessen punktet die extreme Rechte mit Kampfbegriffen wie »Lügenpresse« und »Systemparteien« und antisemitisch grundierten Verschwörungsnarrativen. Diese Situation wird dramatisch verschärft durch die sozialen Folgen der sich entfaltenden Umweltzerstörung, etwa den Folgen von Artensterben und Klimawandel.
Aus linker Perspektive gilt es, sich den qualitativen Unterschied zwischen den verschiedenen Formen bürgerlicher Herrschaft bewusst zu machen, zwischen liberaler Demokratie und Faschismus, statt darüber hinwegzureden. Das Bewusstsein dafür fehlt jenen Teilen der Linken, die die Ukraine als korrupten und faschistischen Staat diffamieren, aber über das autoritäre Putin-Regime schweigen, das rechtsextreme Bestrebungen weltweit fördert und im Jahr 2023 zur Feier des sowjetischen Sieges über Nazi-Deutschland in der russischen Botschaft zu Berlin ausgerechnet Vertreterinnen und Vertreter der AfD einlud. In Polen und Ungarn haben sich die rechten Parteien die Medien unterworfen und in Polen den Justizapparat umgestaltet; in Italien verfolgt die Meloni-Regierung einen ähnlichen Kurs in Bezug auf Hochschulen und Medien; Donald Trump feilt an einer diktatorischen Agenda für den Fall eines Wahlsieges im November.
Entscheidend für die richtige Strategie ist die Frage, ob Deutschland schon vor einer Machtübernahme der AfD steht – in diesem Fall müsste es darum gehen, einen maximalen Teil des konservativen Lagers zu gewinnen – oder zunächst vor einem weiteren Prozess der Faschisierung, in dem AfD plus Werteunion, Freie Wähler, die Wagenknecht-Truppe und CDU/CSU den Diskurs immer weiter nach rechts verschieben. Die Wahlerfolge der AfD auf kommunaler Ebene, die Kooperation mit FDP und CDU, etwa im Herbst im Thüringer Landtag, als sie gemeinsam die Senkung der Grunderwerbssteuer durchdrückten, sind Etappen auf dem Weg zur Macht. Im Herbst könnte die AfD bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen relative Mehrheiten erringen, die mindestens alle anderen demokratischen Parteien zur Kooperation zwingen würden, um noch Mehrheiten zu organisieren. Das böte der AfD noch mehr Spielraum, weil sie sich als einzige Opposition in den Landtagen in Szene setzen könnte.
Der Druck auf die CDU dürfte dann enorm werden. Sie liefe Gefahr, zerrieben zu werden und könnte als Juniorpartner der AfD enden. Genau das ist die Strategie von Maximilian Krah, Spitzenkandidat der AfD zur Europawahl, mit Blick auf andere Länder, wo starke Mitte-Rechts-Parteien wie die gaullistische Partei in Frankreich und die Christdemokraten in Italien verschwunden sind und ihre Nachfolger, wie Berlusconis Forza Italia, als Steigbügelhalter der extremen Rechten dienen. Würden gar in Sachsen auch noch Grüne, SPD und Linke unter die Fünf-Prozent-Hürde fallen, könnte die AfD sogar die absolute Mehrheit der Sitze im Landtag erringen.
Bei alledem spielt die Linke in Deutschland ebenso wie in Italien keine Rolle. Sie müsste sich erst einmal wieder aufrappeln. Aktuell könnten allenfalls die bürgerlich-demokratischen Parteien die AfD aufhalten, wobei der CDU/CSU eine Schlüsselrolle zukommt. Insofern sind Äußerungen von Vertreterinnen und Vertretern des Kapitals wichtig, auch wenn deren Haltung (»die extreme Rechte schadet dem Geschäft«) grauslig ist. Ein Dilemma.
Doch Deutschland steht noch nicht vor einer Machtübernahme der AfD. Deshalb wäre es falsch, auf Kritik zu verzichten. Wenn CDU-Chef Friedrich Merz behauptet, wegen Geflüchteter keinen Termin beim Zahnarzt zu bekommen, ist das Volksverhetzung. Wenn die SPD-Innenministerin Nancy Faeser im hessischen Landtagswahlkampf verkündet, unschuldige Familienangehörige von Kriminellen abschieben zu wollen, oder CSU-Chef Markus Söder zwar die AfD verdammt und die Massenkundgebungen lobt, aber das individuelle Recht auf Asyl abschaffen will, bewegen sie sich jenseits des Grundgesetzes. Auf Kundgebungen müssen Teilnehmende ihnen die rote Karte zeigen. Ansonsten garniert die häufig verwendete Parole »Für Demokratie und Menschenrechte« lediglich ein Wohlfühlspektakel.
Anzuprangern ist der Sparkurs der Ampel auf Kosten der Ärmeren statt auf Kosten der Reichen, ihre »Rückführungsoffensive« und die Unterstützung für eine verschärfte Abschottung der EU. Die Klimapolitik der Ampel, die keine ist, verschärft die soziale Lage durch höhere CO2- und Energiepreise, während das versprochene Klimageld ausbleibt. Zudem wird es keine Kerosinsteuer geben, aber das Dienstwagenprivileg bleibt.
Die Unzufriedenheit wird die AfD abgreifen, zumal es in Deutschland keine Gewerkschaft oder organisierte Linke gibt, die eine Gelbwestenbewegung, die sich in Frankreich an höheren Spritsteuern entzündete, in ein progressives Fahrwasser lenken könnte. Die Linke muss das Umweltthema endlich als soziale Frage begreifen, die bürgerlichen Parteien entsprechend kritisieren, eigene Vorschläge machen und eine Perspektive für eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus entwickeln. Denn Antifaschismus ist elementar, hilft aber allein nicht, weil er seinem Wesen nach defensiv ist.
Peter Bierl ist Mitglied der Gruppe LEA (Left Ecological Association)