Ein bisschen Fascho

Aus konkret 11/22: Ein Vorschlag zur Kritik von Post- und Neofaschismus in unserer Gesellschaft. Von Georg Seeßlen 

Jedem Gespräch über Faschismus, einst, jetzt und überhaupt, sind Fragen vorgelagert, die die nachfolgenden Debatten zu einem Hindernislauf machen: Was meinst du eigentlich, wenn du von Faschismus sprichst? Wie willst du denn die widersprüchliche Totalität erfassen, die von einer terroristischen Staatsform bis zu einem subjektiven Charaktermerkmal reichen muss? Wie soll man wissenschaftlich-kritisch über etwas sprechen, woran ohne Empörung und Entsetzen gar nicht zu denken ist? Was ist mit deiner Familiengeschichte? Und noch etwas: Faschismus, wie du’s auch drehst und wendest, ist nichts, was in Raum und Zeit außerhalb steht, es zieht sich mitten durch unsere Gesellschaft, deren Teil wir sind. Es ist kein äußeres Geschehen, es ist eine innere Krankheit. Ansteckend, vererbbar, toxisch, epidemisch.

Einem System, dem man mit einem ganzheitlichen Modell nicht recht beikommt, begegnet man in aller Regel mit gewissen Differenzierungen. So können wir immerhin schon etwas präziser werden, wenn wir uns auf verschiedene Methoden der Analyse verständigen: eine politische, eine soziologische, eine ökonomistische, eine psychoanalytische, eine kulturelle, nicht zuletzt auch eine semantische Theorie des Faschismus. Dabei freilich bleibt immer noch der Faschismus als Ganzes bestehen, den wir mit ein paar Schlüsselvorstellungen genügend umrissen wähnen: Anti-Modernismus und Retromanie, Demokratieverachtung, Militarismus, Führerkult, phallokratische Männerbünde, Ornament der Masse, Identität von Volk und Staat, Ästhetisierung des Politischen, Rassismus und Antisemitismus, Fetischcharakter der Zeichen, panische Homophobie. Der Katalog könnte endlos weiter ausgeführt werden, und je kleinteiliger die Zuschreibungen werden, desto größer der Schrecken: Diese Elemente sind ja schon da, mitten in der bürgerlichen Gesellschaft, mitten in der Nachbarschaft, in den Medien, in den Familien, an den Arbeitsplätzen. Man würde da nicht gleich von Faschismus sprechen – wie auch? –, die liberale Demokratie und die freie Marktwirtschaft müssen so ein bisschen Fascho-Anmutung doch aushalten.

Die Toleranz gegenüber faschistischen Tendenzen liegt in der DNA der westlichen Nachkriegsgesellschaften, ganz besonders der deutschen, österreichischen oder italienischen.

Die Antwort auf die Eingangsfrage, nämlich: Können wir überhaupt vernünftig über Faschismus im Allgemeinen und Faschismus in nächster Nähe sprechen, lautet schlicht: Nein. Das können wir nicht. Der Gegenstand ist zugleich zu komplex und zu nahe, Distanzierung zugleich notwendig und unmöglich. Um dem Dilemma zu entgehen, schlage ich, nach der Methodenvielfalt – also statt der einen und umfassenden Theorie (ein Netzwerk der Faschismustheorien, das sich seiner Widersprüche und seiner Mängel durchaus bewusst ist) und statt der hierarchischen Behandlung (der faschistische Staat, die faschistische Gesellschaft, die faschistische Kultur, das faschistische Subjekt, die faschistische Sprache) –, noch eine weitere Wanderung in Subsysteme anhand von zwei Phänomen vor, die den Vorteil haben, sich der genaueren Beobachtung nicht entziehen zu können. 

Das eine ist die Beobachtung eines Prozesses. In unserem Alltag sprechen wir gern von Radikalisierung, von Wanderungen nach rechts, von Verschmutzungen und Vergiftungen sogar. Wir können solche Prozesse als Faschisierung begreifen; vorgefundene Elemente werden in einen Prozess einer Transformation eingebaut, der mehr oder weniger schnell, mehr oder weniger bewusst und mehr oder weniger offensichtlich ablaufen kann. Man kann als Beispiele etwa die Faschisierung von sogenannten Impfgegnern sehen.

Die Elemente, die in einen solchen Prozess der Faschisierung eingebaut werden, lassen sich als Proto- oder Partialfaschismen bezeichnen. Thomas Ehrenfest versteht darunter »tragende Elementarteile oder notwendige Puzzlesteinchen eines ›reifen‹ Faschismus«. Partialfaschismen als Elemente und Faschisierungen als Prozesse haben gegenüber allen allgemeinen und totalen Vorstellungen von Faschismus einen entscheidenden Vorteil: Wir können vernünftig darüber reden, wir können sie detailliert und konkret beschreiben, wir können die Kritik schärfen, denn hier sind »Einzelfall« und »Struktur«, im Gegensatz zum »totalen« Faschismusdiskurs, kein Gegensatz, sondern eine dialektische Einheit. Und diese Kritik hat einen klaren Gegenstand: eine bürgerliche, kapitalistische, liberale und pragmatische Gesellschaft, die in sich und aus sich Bewegungen und Elemente des Faschismus zulässt oder hervorbringt.

Um den Begriff noch einmal zu schärfen, muss hinzugefügt werden: Der deutsche Nationalsozialismus ist hundertprozentig faschistisch, aber nicht jede Form von Faschismus ist hundertprozentig nationalsozialistisch. Das bringt eine juristische und kulturelle Fehleinschätzung hervor, dergestalt, dass nämlich das Faschistische dann nicht fundamental bekämpft werden kann oder muss, wenn es nicht eindeutig nationalsozialistisch oder »hitleristisch« ist.

Der erste Trick ist die Trennung von Form und Inhalt. Wird ein partialfaschistischer Inhalt vermittelt, behauptet er steif und fest, nichts Schlimmes gemeint zu haben, da ja keine faschistische Form untergekommen sei. Werden indes faschistische Formen, Ästhetik und Symbole verwendet, behauptet man ebenso steif und fest, keine partialfaschistischen Impulse beziehungsweise Inhalte zu transportieren.

Auf diese Weise werden durch ihre Trennung sowohl partialfaschistische Inhalte wie auch partialfaschistische Zeichen frei verfügbar und sind in der Popkultur nomadisch unterwegs.

Diese Partikel nun wieder treffen auf die Klischees, die Charaktere und die Idyllen des Unterhaltungsbodensatzes mit seinen Bezügen zu Heimat, Volk, Nation und Familie und reagieren damit. Das Dreieck aus faschistischer Form, faschistischem Inhalt und »volkstümlicher« (Medien-)Kultur ist perfekt. Dies findet ebenso Eingang in die Sprache und Ausdrucksformen des Mainstreams. 

Das heißt auch, es gibt partialfaschistische Äußerungen, die sich direkt der Akzeptanz und Sympathie des Mainstreams andienen, und es gibt andere Partialfaschismen, die gerade der Provokation und der Schockwirkung dienen.

Die Arbeit oder das Spiel mit Partialfaschismen werden dadurch erleichtert und ihre Kritik wird dadurch erschwert, dass der Faschismus oder die Faschismen weder eine konsistente Theorie noch einen ästhetischen Kanon hervorgebracht haben. Genauer gesagt: Das, was wir gemeinhin faschistische Ideologie nennen, ist selber nichts anderes als ein Gemisch von Mythen, Projektionen, Phantasmen, Symbolen, seriellen narrativen Fragmenten, Totem- und Fetisch-Aktualisierungen und so weiter. Allerdings handelt es sich bei diesem Brei nicht um zufällige oder wilde Mischungen, vielmehr stehen alle Elemente im Dienst einer einzigen »endgültigen« Form: der Errichtung einer symbolischen Weltordnung.

Faschistisches Gedankengut wird selbst in den manifesten und totalen Formen wie dem deutschen Nationalsozialismus weitgehend in den Formen vermittelt, die man anderswo als Unterhaltung ansieht. Niemand hat das übrigens besser gewusst und besser beschrieben als Joseph Goebbels. So viel Partialfaschismus die Unterhaltung enthält, so viel Unterhaltung enthält der Faschismus.

Sportberichterstattung, Heimatserie, Melodrama und Komödie setzen eine faschistische Unterhaltungslinie fort, die auf den ersten Blick weder zur faschistischen Form noch zu faschistischen Inhalten zu führen scheint (und schon gar nichts, natürlich, hat man mit »Nazis« zu tun). Erst beim Blick auf das Fahnenmeer, auf die markigen Menschenlinien bei der Nationalhymne oder beim Schwärmen für einen »gesunden Patriotismus« werden wieder Anschlussstellen offenbar. Oder in der hysterischen Abwehr von Kritik und Dissidenz bei solchen Feiern der »Identität«. 

Die Dreiecksbeziehung ist in diesem Kontext signifikant: Um die Wirkungen im Dreieck von Form, Inhalt und »volkstümlichem« Konsens zu verstehen, muss man vielleicht die Semantik der faschistischen Formen und Zeichen betrachten. Die faschistische Form ist eine symbolische Form. Eine symbolische unterscheidet sich wesenhaft von einer allegorischen Form. Die symbolische Form bedeutet nicht ihren Inhalt, sie ist ihr Inhalt.

Nach den (taktischen) Vermittlungen von Formen und Inhalten ergibt sich dort, wo das eine wieder mit dem anderen Verbindungen herstellt (an einem terroristischen und an einem populistischen Ende), die semantische Katastrophe der Post-Demokratien: der bürgerlich-liberale und der konservativ-faschisierte (und faschisierende) Teil der Bevölkerung sprechen nicht nur anderes, sondern vor allem anders.

Die Elemente von Form, Inhalt, Tradition und Unterbewusstem finden sich als Symbolwelten und Weltsymbole zusammen, gegenüber einem »hilflosen Antifaschismus«, der diese Symbolwelt nicht verstehen kann (oder will).

Private, kollektive und soziale Bewegungen der Faschisierung formen sich auf der Basis verwendbarer Partialfaschismen zur Einheit der Symbolik, das heißt: auf der gemeinsamen Überzeugung von der Einheit von Bezeichnen und Handeln. Der hilflose Antifaschismus unterstellt dem Faschismus ein »Narrativ« (zusammengesetzt aus Vorurteilen, Ignoranz, Verschwörungsphantasmen, Rassenwahn und barbarischer Aggression etc.), aber was sich in Faschisierung und Partialfaschismus ergibt, ist nicht eine andere Erzählung der Welt, sondern eine andere Welt.

Man könnte wohl behaupten, jede bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft trage die Keime der Faschisierungen und die Räume für die Partialfaschismen – und damit also den eigenen Untergang – in sich, woraus eine gewisse Ambivalenz der bürgerlichen Gesellschaft entsteht: Sie ist einerseits das Gegenbild zur faschistischen Gesellschaft, andererseits aber ist sie auch der Geburtsort – oder jedenfalls eine Transformationsmaschine – für viele Partialfaschismen. Faschismus hat sich in der bürgerlichen Gesellschaft von Nationalstaat, Industriekapitalismus und subjektivem Liberalismus herausgebildet, in Form von Ableitungen, Ventil- und Sündenbockfunktionen, Nischen und Subkulturen, von Männlichkeitskulten, Retromanien und Verschwörungsphantasmen.

Diese Gesellschaft hat den in ihr eingelagerten Faschismus nicht nur nicht verstanden; sie hat ihn (in den Formen der Faschisierungen und der Partialfaschismen) nie verstehen können, weil sie sich sonst hätte selbst verstehen müssen. (Das wäre gleichsam der endgültige Abschied von einer symbolischen Weltordnung.) Wenn wir uns an das Dreieck von Form, Inhalt und volkstümlicher Kultur erinnern, so wird letztere ja immer auch als eine Idylle von Heimat und Natur betrachtet, in der genau dies nicht stattgefunden hat: die Trennung von Bezeichnendem und Bezeichnetem. In der Idylle bildet die Welt noch die ersehnte symbolische Einheit, doch das Idyll (und das »bürgerliche« zumal) ist, wie wir aus unserer Geschichte wissen, stets bedroht und stets von einer Schutzmacht abhängig.

An den Grenzen der Kapitalisierbarkeit von Idyllen lauert daher zunächst die Verschwörungsparanoia (von der Idylle als Paradies der symbolischen Weltordnung ist nur noch die Furcht vor jenem und jenen geblieben, die sie einem wegnehmen wollen) und dann der Faschisierungsschub: Es kann schließlich nur »das Fremde« sein (auch: die Vernunft, die Kritik, die Sprache), die zum Verlust der Idylle führt. 

Die bürgerlich-romantische Idylle und die strikte staatliche Ordnung, die sich durch schwer bewaffnete und bewachte Grenzen schützt, sind eine dialektische Einheit. So verbindet die symbolische Ordnung Ausdehnungsgier und Schrumpfungsangst – oder, um es im Modell der Klassen zu sagen: Aufstiegshoffnung und Abstiegsangst im Kleinbürgertum.

Man kann es im Einzelfall gewiss nachweisen, und zugleich geht es nicht um den Einzelfall: Diese dialektische Einheit von Romantik und Autoritarismus ist eine der Keimzellen der Faschisierung. Führe einem Menschen ein Idyll vor Augen und drohe, dass es ihm genommen werden soll. Dann muss aus dem Leben in einer Enklave der symbolischen Weltordnung ein Anspruch auf symbolische Weltordnung werden. Oder aus den Partialfaschismen (die man »idyllisch eingehegt« wähnte) eine Forderung nach dem »reifen« oder totalen Faschismus. 

Und auch im Totalfaschismus sind, wie erwähnt, schließlich wieder Partialbürgerlichkeiten eingelagert. 

Beispielsweise bei der Faschisierung der Familie. Da auch die bürgerliche Familie als Idyll der symbolischen Weltordnung inmitten der rationalistischen und wissenschaftlichen Welt inszeniert wurde, ist das Phantasma ihrer inneren wie äußeren Gefährdung ein geradezu unschlagbares Mittel der Faschisierung. Dazu muss man sich nur die aktuelle Propaganda der Rechten wie Viktor Orbán ansehen, der unter dem Beifall seiner Getreuen verkündet, dass nicht etwa Krieg, Klimakatastrophe oder Wirtschaftskrise, sondern vielmehr die Flüchtlinge, das Gendern und die Schwulen primäre Probleme seien. Für einen Menschen mit Verstand ist das paranoider Blödsinn, für einen Faschisten aber, der in eine symbolische, nicht in eine ökologische, soziale oder auch nur wirkliche Welt strebt, ist es die reine Wahrheit.

Der bürgerliche Konservatismus spielt dem Faschismus insofern in die Hände, als er den symbolischen Ordnungen die Begriffe von Wert und Geschichte überträgt. Genau dies konnte zu der Haltung führen, man sei im Faschismus sozusagen aufgehoben oder auch nur untergebracht, ohne Teil seiner äußeren Herrschaft zu sein.

Wir haben es also mit einer unheiligen Dreieinigkeit zu tun: die aus politisch-sozialen und kulturellen Milieus aufsteigenden Tendenzen zur Faschisierung; das Vorhandensein ästhetischer, semantischer, mythischer und ideologischer Partialfaschismen; und die Entstehung von Personen und Institutionen, die in der Lage sind, diese Elemente auf medien- und öffentlichkeitswirksame Weise zu bündeln und damit neue Ansätze für einen Faschismus mit Totalitätsanspruch zu bilden. 

Vielen Menschen unserer Gesellschaften wird erst letzteres zum Alarmsignal, und einer großen Anzahl nicht einmal das. 

Die Dreieinigkeit auf der anderen Seite ist nicht minder erschreckend: die Ignoranz von Menschen, die mit dem eigenen Leben und Überleben unter den verschärften Bedingungen des Krisenkapitalismus beschäftigt sind; ein Milieu des linksliberalen, ökologisch-semantisch korrekten und woken Kleinbürgertums, das sich mehr mit den Spannungen in der eigenen Blase beschäftigt als zu gesamtgesellschaftlichen Engagement und Analyse zu befähigen; und ein Staat, der nicht nur seine Gesellschaft, sondern vor allem seine Kultur so weit neoliberal verkommen ließ, dass es keine Instrumente der wirksamen Diskursabwehr mehr gibt. Was ist die erste spürbare (und eben: symbolische) Folge der politisch und volkswirtschaftlich absolut unsinnigen »Rückkehr zur schwarzen Null« in der BRD? Richtig: Einsparungen in Wissenschaft und Bildung, Einsparungen bei Aufklärung und Information, Einsparungen genau dort, wo die Fehler des Systems erkannt werden könnten. Unser Vertrauen in unsere Bildungseinrichtungen mag ohnehin nicht mehr sehr hoch sein, und doch ahnen wir, dass es mehr als eine Sottise ist, wenn ein Donald Trump die Abschaffung des Bildungsministeriums fordert. In einer symbolischen Weltordnung ist dafür kein Platz, dort ist »Bildung« (im alten Sinn) Teil des Feindlichen.

Durch seine Dreifaltigkeit hat der Faschismus im Raum, in dem die Auseinandersetzung um die kulturelle Hegemonie stattfindet, bereits bessere Positionen als der Antifaschismus. Der Staat des Neoliberalismus ist weder willens noch in der Lage, daran etwas zu ändern, nicht zuletzt deshalb, weil Partialfaschismen und Idyllenkonstruktion sowohl Teil der Gouvernementalität als auch Teil der ökonomischen Feinsteuerungen sind. Am Neofaschismus wird gut verdient, und mit Mini-Faschisierungen kann gut regiert werden, so einfach ist das.

Bei dem Beitrag handelt es sich um den stark gekürzten Vorabdruck eines Vortrags, den der Autor am 14. Oktober in Wien zur Eröffnung der dreitägigen Veranstaltung »Literatur im Herbst 2022 – Nachhallendes/Nachhaltiges« hielt. Die Langfassung des Vortrags erschien in der Zeitschrift »Die Sichel« (Nummer 7).