Judenhass raus
Aus konkret 12/23: »Importierter Antisemitismus« als neueste Attacke aufs Asylrecht bedeutet nicht, dass es keinen gibt. Von Stefan Gärtner
Bombardiert Belgien« hieß mal ein Buch von Wiglaf Droste, und meine liebste Morgenzeitung ist fast dafür: »Ein aus Tunesien zugewanderter Islamist hat vergangene Woche in Brüssel zwei schwedische Staatsbürger erschossen. Er konnte das tun, weil die Brüsseler Staatsanwaltschaft einen Auslieferungsantrag aus Tunesien ein Jahr lang in einem Aktenschrank vergessen hatte. Dieses weil, die Kausalität zwischen Behördenversagen und dem Tod zweier Menschen, wird in Belgien weithin akzeptiert. Medien diskutieren nun die Frage, ob Belgien ein ›failed state‹ sei, ein gescheiterter Staat, der seine grundlegenden Aufgaben nicht erfüllen kann.«
Es stecken so furchtbar viele gute Fragen in dieser Nachricht, dass man sich glatt wieder ins rechtsphilosophische Seminar setzen möchte: Darf ein christliches Abendland Menschen nach Tunesien abschieben, wenn etwa das Schweizer Fernsehen schreibt: »Neun Jahre nach der Revolution: In Tunesien ist Folter an der Tagesordnung« (srf.ch, 18.01.2020)? Darf es das auch dann, wenn der Mann ein Islamist ist? Darf also jemand, der Diebe verstümmeln und Frauen unter Tuch zwingen will, möglicher Folter preisgegeben werden? Haben die Angehörigen der schwedischen Opfer nicht trotzdem jedes Recht, zu finden, dass ein ausgeliefertes Arschloch keines mehr ist, das noch Leute hier totschießen kann? Haben die Leute in Tunesien, zumal die nichtislamistischen, aber nicht auch das Recht, zu finden, dass sie schon genug solche Spinner im Land haben? Hat nicht auch ein Mörder das Recht auf körperliche Unversehrtheit? Hat nicht erst recht ein prospektiver Mörder dieses Recht? Oder hatte Gerhard Schröder recht mit seinem legendären Satz aus dem niedersächsischen Landtagswahlkampf von 1997: »Wir dürfen nicht mehr so zaghaft sein bei ertappten ausländischen Straftätern. Wer unser Gastrecht missbraucht, für den gibt es nur eins: raus, und zwar schnell«?
Das Propagandawort vom »Gastrecht« ist schon so oft demontiert worden, dass hier der Hinweis genüge, dass es ein »Gastrecht« gar nicht gibt, es also auch nicht missbraucht werden kann, und dass Roger Willemsen recht hatte, wenn er einen Aufsatz mit »Gast ohne Recht« überschrieb: »Wer in Wirklichkeit ein Unerwünschter ist, den nennt man Gast, und was man gegen ihn mobilisiert, um ihn schneller loswerden zu können, nennt man Gastrecht.« Besonders unerwünscht sind neuerdings Leute, die auf Anti-Israel-Demos mitlaufen und nicht so aussehen, als würden sie »FAZ«-Leserbriefe schreiben, die Redakteur Jasper von Altenbockum natürlich nicht liest, bevor er sich hinsetzt, um der wie üblich falschen Migrationspolitik die Leviten zu lesen: »Glaubt man deutschen Politikern bis hinauf zum Bundespräsidenten, ist jede Einwanderung nach Deutschland auch mit der Pflicht verbunden, in die deutsche Erinnerungskultur einzuwandern. Das müsste bedeuten, dass Einwanderer aus muslimischen Ländern dem dort zum Teil tiefsitzenden Hass auf Juden und den Staat Israel beim Grenzübertritt abschwören, die israelfeindlichen Brücken in ihre Heimatkultur abbrechen und ihren Kindern das Gegenteil dessen beibringen, was ihnen selbst beigebracht wurde. … Zum Kampf gegen den hausgemachten gehört zudem, dass der importierte Antisemitismus gerne relativiert wird. Auch jetzt heißt es wieder, mit der Empörung über den Antisemitismus, der ins Land einwandere, dürfe nicht vom ›eigenen‹ Antisemitismus abgelenkt werden. Aber wer will das? Und ist es nicht eher umgekehrt?«
Noch so eine gute Frage, die noch viel besser wäre, ginge es von Altenbockum nicht um etwas ganz anderes: »Einwanderung von Antisemitismus lässt sich nur verhindern, indem er nicht einwandern darf. Die deutsche Politik spielt aber ausgerechnet hier das eine Grundrecht, das auf Asyl, gegen andere aus. Die Lösung wären Kontingente. Davon ist aber Deutschland, ist Europa weit entfernt. Nur das aber, ein vertretbares Maß an Einwanderung aus muslimischen Ländern, wäre eine neue Dimension.« Sowenig es aber ein Gastrecht gibt, so wenig lassen sich Grundrechte gegeneinander ausspielen. Grundrechte, und das müsste unserem Frankfurter allgemeinen Marktwirtschaftler eigentlich einleuchten, konkurrieren allenfalls miteinander, klassischerweise das Recht auf Meinungs- und Kunstfreiheit mit dem Persönlichkeitsrecht aus den Grundgesetzartikeln 1 und 2: Mein Recht, Altenbockum so zu nennen, wie es ihm zukommt, konkurriert mit dessen Recht, sich das nicht gefallen zu lassen. Das ist der Rechtsstaat. Kann also gut sein, hier instrumentalisiert einer Auschwitz, nämlich gegen noch mehr Kuffnucken, deren Kasernierung vor den EU-Außengrenzen oder beschleunigte Abschiebung der Bundeskanzler höchstselbst zur Chefsache gemacht hat (»Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben«), wie schon im Januar Grünen-Chef Omid Nouripour bei »Markus Lanz« dafürhielt, in puncto Abschiebung von Straftätern »Debattenverbote« zu vermeiden. Aber wir sind ja Dialektiker, und es überrascht uns selbst, wenn wir den vielen guten Fragen noch eine hinzufügen: Was wäre, hätte von Altenbockum ausnahmsweise recht? Wenigstens ein bisschen?
Denn der Antisemitismus derer, die eine sogenannte Migrationsgeschichte haben, verschwindet ja nicht vor dem Antisemitismus der Einheimischen. Zwei Wochen nach dem Überfall der Hamas beantwortete Felix Klein, gelernter Diplomat, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und Neffe eines evangelischen Bischofs, auf der Webseite der Bundesregierung die Frage »Verstecken sich die Deutschen jetzt hinter dem Begriff importierter Antisemitismus?« in schönstem Diplomatisch so: »Wenn wir jetzt auf den Antisemitismus von anderen zeigen, hat das keinen Zweck und hilft überhaupt nicht weiter. Wir müssen jede Form von Antisemitismus bekämpfen. Ich halte nichts davon, dass wir einen Generalverdacht gegen Muslime hier in Deutschland aussprechen oder auch gegen Palästinenser. Die meisten sind, glaube ich, genauso betroffen und bestürzt über die Situation wie alle. Und deswegen verwahre ich mich sehr dagegen, dass wir nur auf diese Gruppe zeigen. Aber wir müssen natürlich auch keine Scheu davor haben, den Antisemitismus in arabischstämmigen Milieus genauer zu untersuchen und auch die nötigen Konsequenzen daraus zu ziehen.« Alles richtig, wie mit dem Generalverdacht das Übel immer anfängt. Allerdings sind die arabischstämmigen Milieus vermutlich doch anders bestürzt über die Situation als die jüdischen Gemeinden und ist es so, dass die Türken in Deutschland mehrheitlich jenen Recep Tay-yip Erdoğan wählen, der vor einem Meer von Anhängern den palästinensischen Freiheitskampf gefeiert hat und einen »Anti-Israel-Kurs« (focus.de, 5.11.) fährt.
Den fährt die deutsche »Freiheit für Palästina«-Fraktion freilich ebenso, und kein Wunder, dass sich Jüdinnen und Juden zur Zeit »sehr allein« (Eva Illouz) fühlen; und während eine islamische Documenta wie bestellt zum »Israel: SA, SS«-Skandal wird und immer mal wieder in die Diskussion gerät, ob Lehrerinnen und Richterinnen unterm Kopftuch nicht so zu Deutschland gehören sollten wie der Islam schließlich auch, gehen Juden nicht mit Kippa durch Neukölln. Sie gehen auch nicht mit Kippa durch Finsterwalde, aber das macht das Problem nicht kleiner. »Die Öffentlichkeit gehört den Palästinensern und nicht den Juden«, sagt der deutsch-palästinensische Comedian Abdul Kader Chahin, der sich in der Antisemitismus-Prävention engagiert, im Gespräch mit der jüdischen »SZ«-Redakteurin Nele Pollatschek. »Du bräuchtest ja nicht mal einen heißgelaufenen Nahostkonflikt, um Gefahr zu laufen, die falsche Straße benutzt zu haben. … Ich habe einen jüdischen Freund, wenn der in Essen ist, wird der Davidstern aber so was von weggepackt.« Es mindert die Verkehrtheit von Generalverdächten nicht, dass es muslimische Jugendliche sind, die das Berliner Versöhnungs-Puppentheater einer türkisch-deutschen Jüdin mit »Allahu akbar«-Rufen stören (»SZ«, 7.11., S. 3), und die überaus laue Haltung der muslimischen Interessenverbände in Deutschland nach dem 7. Oktober gibt da deutlich weniger Anlass zur Hoffnung als die alte palästinensische Olivenbäuerin, die in der »Tagesschau« vom 28. Oktober gemeinsam mit einer jungen Israelin die Frucht vom Baum holt, bis israelische Sicherheitskräfte beide verjagen. Solche treuherzig tendenziösen Fernsehberichte richten zwar auch nicht weniger Schaden an als arabische Staatssender oder das türkische Fernsehen, das Erdoğans Solidarität mit dem palästinensischen Terror nach Deutschland überträgt, und für Antisemitismus der widerwärtigsten Sorte ist Hubert Aiwanger bei der Wahl in Bayern geradezu belohnt worden; allerdings hängt die Sorge vor antisemitischem Zuzug an der Größe des bereits vorhandenen: Ein Land ohne Antisemiten würde ihn ja verkraften.
Trotzdem muss ein Asylrecht, welches als selektives keins mehr wäre, danach fragen, ob ein Mensch Schutz braucht, und nicht, wie er Juden, Schwule oder Frauenrechte findet, auch wenn das schwer auszuhalten und womöglich die bequem formalistische Haltung des männlichen Cis-Goi ist. Den muslimischen Antisemitismus nicht genauso bequem mit dem deutschen zu verrechnen darf wiederum nicht heißen, das Katalytische einer Umwelt zu übersehen, für deren (und sei’s subtileres) Ressentiment der eingewanderte Antisemit eine feine Nase hat. Der sieht die Synagoge unter Polizeischutz, und er mag denken: Hier hasst man sie also auch. Denn bei allem bleibt es dabei, dass der Versuch, in der Synagoge von Halle ein Blutbad anzurichten, vom deutschen Nazi Stephan Balliet unternommen worden ist, und dass es der »Nationalsozialistische Untergrund« war, der acht deutsche Türken ermordet hat, die deutsche Behörden dann ganz selbstverständlich für die Opfer von Ausländer-, nämlich Drogenkriminalität hielten. Die Halbwahrheit, schreibt G. Ch. Lichtenberg, ist schlimmer als die Lüge, und dass, wer ins Land kommt, kommt, weil ihn von Altenbockums freie Wirtschaft dazu zwingt, muss der natürlich eh unterschlagen.