Von Ausnahme-Rechten und Ausnahme-Juden

Aus konkret 8/24: Richard Schuberth über Antisemitismus in den proisraelischen Bekenntnissen der europäischen Rechten

Seit beinahe zwanzig Jahren bittet die deutsche und österreichische Rechte bei den jeweiligen israelischen Regierungen um Ablass und eröffnet in der Schlussstrichdebatte sozusagen eine zweite Front. Die Anerkennung durch den »Juden unter den Staaten« könnte sie nicht nur vom Antisemitismus freisprechen, sondern gar als glaubwürdigste Antisemitenjäger inaugurieren. Da das Unheil stets von den Fremden kommt und es importierten Antisemitismus erwiesenermaßen gibt, bietet sich die historische Gelegenheit, den Antisemitismus generell – samt den Fremden – als Fremdimport abzuschieben. Von Knessets Gnaden ließe sich der eigene Antisemitismus somit an Ausländern und Linken ahnden. Dass nicht wenige von diesen einen wahren Wettlauf hinlegen, der rechten Diffamierungsprojektion zu entsprechen, zählt zu den Ungeheuerlichkeiten des noch jungen 21. Jahrhunderts.

Für die Rechten kommt es dem Knacken eines ideologischen Jackpots gleich. Herbert Kickl und Alice Weidel als Simon Wiesenthals und die Opfer ihres Rassismus sowie die Antifaschisten als die eigentlichen Nazis. Eine Pattstellung des Wahns: Für die Rechte ist Israel der Ausnahmejude, der ihren Antisemitismus unglaubwürdig, für die Linke der Drecksjude, dessen antizionistische Kritik ihren Philosemitismus glaubwürdig machen soll. Ein surrealer Alptraum, aus dem man schweißgebadet hochschreckt, nur um die Schluss-pointe nicht erleben zu müssen: Wie Queer-feminist*innen für nichts leidenschaftlicher kämpfen als das Recht von Islamisten, Juden zu massakrieren.

Lange wiesen in Israel selbst rechte Regierungen die Annäherungsbemühungen der europäischen Faschisten, insbesondere wenn sie aus den Nachfolgestaaten des Dritten Reichs kamen, von sich und verließen sich auf die Warnungen jüdischer Institutionen vor Ort. Die zahlreichen Versuche österreichischer FPÖ-Politiker der Post-Haider-Ära etwa, sich Israel aufzudrängen, mit schwarzen Hüten in Yad Vashem zu posieren, Termine mit Regierungsvertretern zu erhaschen oder sich zumindest auf Fotos mit diesen zu schwindeln, folgten nahezu einer Slapstick-Choreografie, ehe Netanjahu den Tabubruch wagte. Im Dezember 2010 lud er im Namen der Likud-Partei dreißig führende Mitglieder der Europäischen Allianz für Freiheit, rechtsliberale Islamfeinde, aber auch bekennende Antisemiten und Holocaustleugner nach Tel Aviv, um gemeinsame »Strategien gegen den Terror« zu ventilieren. Dieser historische Umschlag in der offiziellen Haltung der Rechten zu Israel und Israels zur Rechten fand seinen historiografisch zitierbaren Niederschlag in der »Jerusalemer Erklärung«, in der es heißt: »Ohne jede Einschränkung bekennen wir uns zum Existenzrecht des Staates Israel innerhalb sicherer und völkerrechtlich anerkannter Grenzen. Ebenso ist das Recht Israels auf Selbstverteidigung gegenüber allen Aggressionen, insbesondere gegenüber islamischem Terror, zu akzeptieren.«

Das Verhältnis von offiziell verlautbartem Prozionismus und konstantem Antisemitismus muss bei jedem Staat getrennt analysiert werden. Wohl lässt sich grob ein West-Ost-Gefälle zwischen latentem und manifestem Antisemitismus innerhalb von Basis und Führung rechter Parteien und Bewegungen ausmachen. Am glaubwürdigsten vom Antisemitismus distanzierten sich Geert Wilders und Marine Le Pen, die mit dem Ausschluss ihres Vaters Jean-Marie Le Pen aus dem Front National 2015 ein drastisches Zeichen setzte. Im selben Jahr rang sich auch die Führung der österreichischen FPÖ zu solch einem Zeichen durch und schmiss die bekennende Antisemitin Susanne Winter aus der Partei, nachdem diese einem Posting zugestimmt hatte, in dem »zionistische Geldjuden« als Verursacher der Flüchtlingskrise ausgemacht wurden. 

Das J-Wort verschwand weitgehend hinter anderen antisemitischen Chiffren, der »Geldjude« firmierte wieder als »Spekulant« und »Globalist«. 2019 schließlich durfte Beatrix von Storch in der Zeitung des israelischen Internetradiosenders Arutz Sheva, dem Sprachrohr der Siedlerbewegung, die AfD als einzige Partei annoncieren, »die Deutschland und die EU dafür kritisiert, die UNRWA und Nichtregierungsorganisationen zu finanzieren, die mit der BDS-Bewegung verbunden sind«. Und im März dieses Jahres bewarb sich gegen heftige Proteste der Israelitischen Kultusgemeinde der FPÖ-Bürgermeister der oberösterreichischen Stadt Wels für den Vorstand des Gedenkvereins Österreichische Freunde von Yad Vashem.

Im Wissen, dass der Rechten Europas Zukunft gehört, aber auch aufgrund nicht zu unterschätzender ideologischer Übereinstimmungen werden diese Netzwerke von israelischer Seite immer enger geknüpft, wie nicht erst die jüngsten Treffen des Diasporaministers Amichai Chikli (Likud) mit den Chefs der Parteien Vox und der Schwedendemokraten sowie die engen Verbindungen Netanjahus mit Salvini und Orbán bezeugen. 

In Österreich stellt sich die Situation wie folgt dar: Obwohl die alten Nazis größtenteils tot sind und auch ihre linientreuen Kinder die biologische Halbwertzeit bald erreicht haben, muss der traditionsantisemitische Kern der FPÖ weiter bedient werden, insbesondere die Akademikerverbände sowie die offene Grenze zur Neonazi-szene, welche der gern als »Parteiintellektueller« apostrophierte Obernarr und Taliban-Versteher Andreas Mölzer liebevoll den »Narrensaum der Partei« nannte. So hetzte der EU-Abgeordnete Harald Vilimsky (FPÖ) in Brüssel weiter gegen Spekulanten, postete Strache Cartoons von Bankern mit Hakennase, Knopfaugen und Davidsternen auf den Manschettenknöpfen, und der niederösterreichische Landtagsabgeordnete Udo Landbauer empfahl 2019 der Jugendsozialarbeit ein Nazi-Liederbuch seiner Burschenschaft Germania, in dem sich die Liedzeilen finden: »Da trat in ihre Mitte der Jude Ben Gurion: Gebt Gas, ihr alten Germanen, wir schaffen die siebte Million.« Der dadurch ausgelöste Skandal zwang ihn zwar zur vorübergehenden Niederlegung seines Mandats, erwies sich aber letztlich als Popularitätsbooster: Ansonsten säße Landbauer heute nicht als Vize der ÖVP-Landeshauptfrau Mikl-Leitner in der niederösterreichischen Landesregierung.

Für die antizionistische Linke ist der Schulterschluss zwischen den politischen Brutstätten des Antisemitismus und der israelischen Rechten verständlicherweise das Traumszenario, das sie von jeglicher Reflexion des Unterschiedes von Israelkritik und der Kritik konkreter israelischer Politik dispensiert. Vernünftigere Linke verarbeiten die kognitive Dissonanz, in die sie die israelfreundlichen Schwenks des politischen Hauptfeinds stürzten, gerne mit der These von der politischen Heuchelei. Die Rechten seien und blieben das antisemitische Pack, das sie immer waren, bloß setze man sich aus taktischen Gründen die proisraelische Maske auf. So sehr oben genannte und wohl viele weitere Beispiele diese These stützen, blendet sie doch einige Spezifika und Ambivalenzen aus. Sie zeugt überdies von einer etwas naiven Vorstellung von Intentionalität, missachtet sowohl ideologische Kontinuitäten als auch die tiefenpsychologische Dimension des Antisemitismus, ohne die dieser nicht verständlich ist. Die Heuchelgrenze zwischen philoisraelischem Schein und antisemitischem Sein kann durch die Individuen selbst verlaufen – und die bedingungslose Solidarität mit Israel durchaus aufrichtig sein, und zwar nicht infolge schizoider Spaltung, sondern als Konsequenz des eigenen Antisemitismus. Sowohl rechte Israelvergötzung als auch linke Israelkritik zielen auf kein reales Israel, sondern auf eine Chimäre, die der Selbstbehauptung dient. Alte wie neue Rechte projizieren auf Israel das Wunschbild einer monokulturellen, werttreuen und wehrhaften Volksgemeinschaft, ein Bild, dem die israelische Realität natürlich Hohn spricht. Dass das jüdische Gespenst, das als amorph, unmännlich, dekadent und vagierend imaginiert wurde, sich in sein exaktes Gegenteil verwandeln kann, in ein Idealgebilde, an dem man selbst scheitert, bekräftigt einmal mehr die Überlegenheit des imaginären Juden, dessen »muskeljüdische«, »verwurzelte« Metamorphose Antisemiten in Hassliebe und Angstlust an ihn zu binden vermag. Der projektive Supergolem, den das winzige Land im permanenten Defensivmodus für die Linken bedeutet, trägt ähnlich deformierte Züge wie der rechte. Rechtszionismus ist ihnen Pars pro toto, für das gesamte Projekt, ergänzt durch die üblichen Zuschreibungen als Imperialismus-Agent und genozidaler Kolonisator. Die Rechten setzen ihrem eigenen Antisemitismus eine Kippa auf und bewundern Israel als das Zerrbild, als welches es die antizionistische Linke »dekolonialisieren« will. Dass mein konkret-Autorenkollege Bibi Netanjahu (siehe konkret 11/16) und einige seiner Spießgesellen als Draufgabe dann doch lebensechte Rassisten mit Drall zum Autokratismus sind, dient vielen Linken als Bestätigung ihres Manichäismus von fremdem Hegemon und kolonialem Opfer und letztlich der Delegitimierung Israels.

Mit Mut zur Übertreibung ließe sich folgendes modellieren: Sobald die Linken die Juden zum Nazi gemacht haben, können Rechte mit dem Kunstgriff der doppelten Übertragung den Nazi, der sie sind, in ihnen ungestraft weiterbewundern und endlich selbst zu Juden werden. Von Anfang an fühlte sich der Antisemit als Opfer eines allmächtigen Judentums, deshalb wurde er Nazi und machte den Juden zum totalen Opfer. Seiner allmächtigen Bedrohung verlustig gegangen, kriecht er in die Haut der Ermordeten und bittet den neuen Nazi und alten Feind in Gestalt Israels um Absolution. Groteskerweise assistieren ihm die Linken als Geburtshelfer dieses magischen Identitätswechsels, der den antisemitischen Persönlichkeitskern jedoch nicht wegzuzaubern vermag. 

Tiefer also dürfte die proisraelische Wende reichen als bis zu einem bloßen Interessenverband gegen Islam und Immigranten sowie taktischen Manövern zur Exkulpierung vom eigenen Antisemitismus. Dass die proisraelischen Rechten nicht nur nicht verstanden haben, was Antisemitismus ist, sondern diesen auf indirekte Weise weiterpflegen, zeigen die diversen Versuche österreichischer FPÖ-Politiker, sich mit den Opfern ihrer geistigen und biologischen Väter zu identifizieren. So etwa Heinz-Christian Strache, als er am Internationalen Holocaust-Gedenktag 2012 die Demo gegen den Ball des Wiener Korporationsrings mit der »Reichskristallnacht« und sich und die anderen Ballbesucher mit Juden verglich. Zur Metho-de wurde diese Leichenschändung durch die geistigen Erben der Täter bei den Anti-Corona-Maßnahmen-Demos, als sich Aktivisten und Aktivistinnen für das Recht auf Übersterblichkeit der anderen mit gelben Stoffsternen schmückten, von denen im selben Schriftzug, in dem einst »Jude« geschrieben stand, »ungeimpft« prangte. In einem TV-Interview rechtfertigte Straches Nachfolger als Vorsitzender der im Augenblick stimmenstärksten Partei Österreichs, Herbert Kickl, die Zweckumwidmung der gelben Sterne damit, »dass der Nationalsozialismus ja nicht mit einem Weltkrieg begonnen hat und nicht mit irgendwelchen Vernichtungslagern, sondern er hat damit begonnen, dass man Menschen systematisch ausgegrenzt hat. Er hat damit begonnen, dass man zum Beispiel Kinder, weil sie jüdischer Abstammung gewesen sind, nicht in die Schule gelassen hat.«

Ein Jörg Haider hatte im Rahmen seiner schlau kontingentierten Nadelstiche in den antifaschistischen Nachkriegskonsens KZ-Insassen noch konsequent als »Sträflinge« bezeichnet. Seine Nachfolger haben zwar formhalber deren Schuldlosigkeit einbekannt, dieses Bekenntnis aber gleich ausgenutzt, um in ihre Haut zu schlüpfen. Während man sich über blonde Dreadlockträger erregte, erntete die ruchlose Verhöhnung der Opfer der totalen Auslöschung im Zeichen des Widerstands gegen Seuchenbekämpfung allseits nachsichtiges Kopfschütteln.

Im weiten Spektrum von rechter Mitte zu Rechtsextremismus ist ein positiver Israelbezug kein Novum, sondern fügt sich bereits seit der Gründung Israels in die abenteuerlichen Metamorphosen antisemitischer Reaktionsbildung ein. 

Unter Beibehaltung der antisemitischen Stereotype gab die vermeintliche völkische Verwurzelung der Juden im Nahen Osten dem Antisemiten die Chance, Israel zur projektiven Ausnahmezone guter, geläuterter Juden aufzuwerten, welche der konstanten Abneigung gegen nichtisraelische Juden von nun an einen vernünftigen Anstrich gab. Die Einbildung des guten Juden befreite die Einbildung des schlechten davon, eine zu sein. Freilich dürfen diese Tendenzen nicht überbewertet werden. In Deutschland und Österreich konnte sich der von außen aufgenötigte Zwang zur Schuld in Anti- wie Prozionismus rationalisieren, im Hass auf die Geister der Opfer wie in der Selbstberuhigung durch deren staatsförmige Neutralisierung. 

1922 schrieb der NS-Chefideologe Alfred Rosenberg in seinem Buch Der staatsfeindliche Zionismus: »Zionismus ist, bestenfalls, der ohnmächtige Versuch eines unfähigen Volkes zu produktiver Leistung, meistens ein Mittel für ehrgeizige Spekulanten, sich ein neues Aufmarschgebiet für Weltbewucherung zu schaffen.« Das Beispiel jüdischer Bauern, Pioniere, Milizionäre und vor allem jüdischer Nationalisten widersprach einigen zentralen Merkmalen des antisemitischen Katalogs. Wie aus einer Kehle lobten deutsche Ex-Nazis in Politik und Militär sowie Nazis im Exil israelische Manneszucht, Wehrkraft und Pioniergeist, so als wäre Auschwitz ein Exerzierplatz gewesen, auf dem sie unter hoher Opferzahl bessere, unjüdischere Juden gedrillt hätten, mit einem eigenen Staat als Geschenk fürs Überleben. Während sich ab dem Sechstagekrieg bei neomarxistischen Linken unbewusste antisemitische Impulse unter dem Gesinnungsschild eines trikontsolidarischen Antiimperialismus auf Israel zu entladen begannen, zogen nicht wenige Rechte ihren Antisemitismus von dort ab. Schon 1979 erkannte der Wiener Soziologe Bernd Marin: »Für die meisten Österreicher scheinen ›die Israelis‹ eine Art ›nicht-jüdischer Juden‹ gleichsam eine weitere und auf eine nationale Ebene erweiterte Kategorie des immer schon tolerierten ›Ausnahme-Juden‹ zu repräsentieren.«

Die Gnade, welche der Antisemit dem Ausnahme-Juden gewährt, ist kein diplomatisches Happy-End zweier sich auf dem falschen Fuß erwischt habender Communitys, sondern eine besonders drastische Affirmation des Antisemitismus. Da für diesen die Juden die Schuld an ihrer Ablehnung und Verfolgung tragen, firmiert Israel quasi als von jüdischen Eigenschaften exorziertes, entschuldetes Kollektiv, als entjudeter Judenstaat, während in der restlichen Welt noch immer Ostküsten-Verschwörungen von Finanzkapital, Kosmopolitismus und pharmazeutischen Kindsmorden wesen. 

Wie instrumentell oder authentisch auch immer Viktor Orbáns Antisemitismus sein mag, dessen Aufspaltung in den Freund und Gesinnungsgenossen Netanjahu und den spekulantischen Oberschurken Soros bleibt exemplarisch.

Als zentrales Unterscheidungsmerkmal zwischen Antisemitismus und anderen Rassismen wird zu Recht geltend gemacht, dass der Antisemit im Juden eine übermächtige Bedrohung sieht, gegen die er sich präventiv wehren müsse, während der Rassist sich seinen Objekten überlegen dünkt – sei es kulturell, zivilisatorisch oder biologisch. Beim sogenannten antimuslimischen Rassismus (ein Begriff, dessen Fragwürdigkeit an dieser Stelle nicht erläutert werden kann) gerät dieser ansonsten brauchbare Gegensatz in Teilbereichen ins Wanken: Denn in der rechten Fixierung auf den »Großen Austausch« und die »islamische Gefahr« schwingt immer auch Respekt, Angstlust und Neid gegenüber dem mal eingebildeten, mal realen Mobilisierungsgrad durch eine scheinbar prämoderne Ideologie mit. Verkörpert der Jude das amorphe Andere, figuriert der Muslim als der ideelle Fremde, jener Feind, der sich auch bewundern und an dessen Retraditionalisierung sich Maß nehmen lässt für die eigene. Der Muslim als Feind ist der Wunschkandidat der neurechten Konzepte des Ethnopluralismus oder differenzialistischen Rassismus, welche freilich an weitaus ältere kulturalistische Ideologeme anknüpfen. 

Das linke Narrativ vom Muslim als genuinem Hauptfeind der Rechten, zu dessen Bekämpfung der alte Antisemitismus überwunden oder vorübergehend auf Eis gelegt wurde, weiß nicht nur nichts von rechter Ideengeschichte, sondern offenbar auch nichts von der eigenen Verstrickung in die romantische Orientophilie, deren Ablehnung westlicher Moderne sich im antikolonialen und neuerdings postkolonialen Combat-Anzug zu verstecken weiß. Völkischer Orientalismus und promuslimische Haltungen stießen vor allem bei deutschsprachigen Faschisten auf ein weitaus solideres Fundament als die nominelle Islamfeindschaft, die heute die europäische Rechte eint. Und wer die Eigenlogik gegenaufklärerischer Ideologie versteht, weiß, dass das gar nicht anders sein kann. 

Ideengeschichtlich muss diesen Tendenzen die Unterscheidung zwischen zwei Orientalismen zugrunde gelegt werden: einem negativ kodierten Dekadenzorientalismus (dessen Archetyp der antike antipersische Orientalismus vorstellt) und einem romantischen Stammesorientalismus (in dem Spartaner und Dorer ebenso ihr Auskommen fanden wie allerlei Berg-, Hirten- und Nomadenstämme und welcher im Widerstand werttreuer Palästinenser gegen den dekadenten Moloch Israel fortlebt). 

Der proislamischen Politik der Nazis ging in Mitteleuropa eine stabile Tradition der Orientromantik voraus, und auch in den Magazinen der Neuen Rechten (wie »Criticón« und »Sezession«) finden sich bis heute Respektsbekundungen gegenüber orientalischen Autokratien wie der des libyschen Diktators Gaddafi, dem antisowjetischen Widerstand der afghanischen Mudjaheddin und der iranischen Revolution. 

Hauptfeind der Rechten war nie die fremde Kultur, sondern die Vermischung der Kulturen, ihr Rassismus galt in erster Linie orientalischen Einwanderern und beinahe nie dem Islam. Rechtsextremismus und Islamismus eint die Verachtung von Aufklärung, Demokratie und Liberalität, Antiamerikanismus, Maskulinismus, Gewalt- und Todesfetisch. Zum Feind wird der Islamist nur als Verletzer des eigenen kulturellen Territoriums, als antiliberaler Säuberer in seinen Stammländern ist er durchaus unterstützungswürdig und nach gelungener völkischer Weltrevolution als Bruder und touristischer Dienstleister unbedingt besuchbar. 

Ehe sich Europas Rechte auf den Islam als konstitutiven Gegner einschoss, bäumte sich diese einstweilen ruhend gestellte, aber nicht prinzipiell aufgegebene Tradition ein letztes Mal forsch in Jörg Haiders Orientophilie und seiner Fraternisierung mit arabischen Diktatoren auf. Nicht umsonst bezeichnete er die FPÖ einmal als die »PLO Österreichs«. In einer Art Vatermord brachen Haiders Nachfolger mit dessen Orient-Tick durch einen slawophilen Kulturalismus als sowohl antiwestlichem als auch antimuslimischem Role Model. In der regressiven Identifikation mit der machoiden serbischen und russischen Halbwelt und dem Brückenschlag zum Putinismus knüpften sie an eine weitere rechtskonservative Idee aus den zwanziger Jahren an, welche kurzfristig Vertreter der »Konservativen Revolution«, frühe Nazis und Nationalbolschewisten vereinigte: die einer »eurasiatischen Allianz« gegen die angelsächsisch-französische Zivilisation. Hybride dieses Konzepts und nicht das postnationale Ideal liberaler Demokratie haben die proputinistischen Fraktionen von Europas Rechten im Auge, wenn sie von der »Verteidigung des Abendlandes« faseln. Putins Widerspruch zwischen antiislamistischer Rhetorik und der pragmatischen Unterstützung des Iran und der Hamas stört sie weniger, als er ihnen als Vorbild für machiavellistische Geschmeidigkeit dienen mag. 

Vor kurzem erschien eine Rede, die Theodor W. Adorno 1962 bei einer Pädagogen-Konferenz hielt, unter dem Titel Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute als dünnes Buch im Suhrkamp-Verlag. Einige antideutsche Rezensenten beanstandeten, dass der Text veraltet sei, weil Adorno lediglich auf rechten Antisemitismus fokussiert habe. Ein Versäumnis, das nur durch Adornos Totalversagen getoppt wird, in seiner Kulturkritik Social Media und KI vergessen zu haben. Denn fünf Jahre vor dem Sechstagekrieg war der linke Antisemitismus nicht nur für Adorno kein Thema. Dennoch stellte Adorno mit seinen Ausführungen auch einige Werkzeuge zum Verstehen und Bekämpfen eines solchen bereit. Wenn Adorno sagt: »Überall dort, wo man eine bestimmte Art des militanten und aggressiven Nationalismus predigt, wird der Antisemitismus gleichsam automatisch mitgeliefert«, ist auch progressiv geframter Befreiungsnationalismus mit gemeint. Ein Eigentor, mögen linke Antizionisten nun frohlocken und keck fragen: Was ist dann mit dem israelischen Nationalismus? Weder wird man diese Leute von der historischen Ausnahmesituation Israels überzeugen können, noch von der Unterstellung abbringen, dass man damit das Leid der palästinensischen Bevölkerung rechtfertigen wolle. So bleibt nur die Gegenfrage, wieso die Bekämpfung des israelischen Nationalismus in ihrem antinationalistischen Engagement einen so viel prominenteren Platz einnimmt als die des türkischen, iranischen, russischen, englischen, griechischen, ungarischen oder algerischen.

Dass Netanjahu und die Vertreter seiner rechtsextremen Regierungskoalition von der europäischen Rechten nicht bloß ausgenützt werden, sondern der Liebesakt konsensual ist, darf weder zur Delegitimierung Israels und zur Verharmlosung des islamistischen Terrors führen, noch darüber hinwegtäuschen, dass eine nominell pro-israelische Ausrichtung der europäischen Rechten mitnichten die Überwindung des Antisemitismus bedeutet, der ihr Nährboden war und bleibt. 

Ganz gleich, ob nur taktisches Kalkül von Keller-Antisemiten zum, wie der faschistische Spindoctor Götz Kubitschek der AfD 2019 empfahl, »Versuch, die Vorwürfe des Gegners durch die Zurschaustellung der eigenen Harmlosigkeit abzuwehren« oder authentisch empfundene Sympathie mit dem Zerrbild eines völkischen okzidentalen Vorpostens im Orient gegen die islamische Gefahr, Antisemitismus bleibt der strukturell notwendige Schatten einer jeden rechten Ideologie, so sehr diese sich auch periodisch von ihm zu trennen glaubt. Und nicht nur rechte Versuche, das verstörend gleißende Licht der Aufklärung zu verdecken, werfen kalte Schatten, deren Deutung der Welt den wohl einzigen Rorschachtest mit wissenschaftlicher Signifikanz beschert hat: Der Schattenriss nimmt in den Augen der Betrachter überdurchschnittlich oft die Umrisse einer Judenfratze oder die eines Landes im Nahen Osten an, das kaum größer als Hessen ist.

Einen Fluchtpunkt finden die Linien rechter, linker und islamischer Anschauungen im elementaren Bedürfnis nach Eindeutigem, Eigentlichem, nach Konkretion, Konstanz und Kohärenz, nach Heimat, Gemeinschaft und Essenz, nach Lokalem und Partikularem, nach dem Goldenen Zeitalter vorherrschaftlicher Egalität und zur Draufgabe nach einer saftigen Opferrolle, die zur barbarischen Rache für die Uneinlösbarkeit dieser Chimären das gute Gewissen machen soll; alles in allem wieder einmal die bekannten falschen Antworten auf die Zumutungen und Freiheiten einer desintegrativen kapitalistischen Moderne. Nicht nur muss die Schuld für den Verlust der stupiden Unschuld in den jeweiligen Gegenbegriffen (Ambivalenz, Uneigentlichkeit, Abstraktion, Inkohärenz, Universalismus, Gesellschaft, Nicht-Identität, Unfreiheit …) gesucht werden, sondern zwischen diesen nach Möglichkeit eine konspirative Kohärenz bestehen. Never change a winning scapegoat – zu verlockend, dabei nicht auf bewährte Konkretisierungen zurückzugreifen, ganz gleich ob diese das Antlitz von einzelnen Menschen, echter oder konstruierter Gemeinschaften oder aber eines – Sie wissen schon – realen Staats tragen. Solange diese verständlichen geistigen Verzerrungen als solche nicht erkannt und exorziert sind, werden selbst die Klügsten unter uns weiter zur antisemitischen Medizin greifen, insbesondere wenn sie umetikettiert wurde.