Zittere, Zion!

Aus konkret 12/23: In ihrer Haltung zum Judenpogrom vom 7. Oktober schwankt die Linke zwischen sanfter Rüge, »Kontextualisierung« und Zärtlichkeit der Völker. Über den Antisemitismus, der keiner sein will. Von Richard Schuberth 

Für viele hier ist es ein Angriff auf ihr Ego, mit dieser Realität konfrontiert zu werden, dass festgestellt wird, dass sie keine klare Haltung haben. Denn bis heute konnten sie, wie einige von uns, teilnahmslos sein. Aber jetzt nicht mehr. Einen Standpunkt zu diesem Genozid einzunehmen, sollte für alle einfach sein.« Der Nahostkonflikt ist ein unerschöpfliches Ersatzteillager für Haltungen und Egos. Das hat die anarchistische Berliner Hausbesetzer-Kooperative Rigaer 94 in ihrem jüngsten Bulletin ganz richtig erkannt. Doch an ein Wunder grenzte es, würden Linksradikale tatsächlich einen Genozid der Hamas, also die Vernichtung von Juden zum Zwecke der Judenvernichtung, Genozid heißen. Wunder abgeblasen – sie meinten doch das israelische Bombardment Gazas damit. 

Und meinten es vermutlich schon vor dem 7. Oktober so. Dabei hat es die Hamas dieser Tage auch nicht leicht. Tagein, tagaus muss sie sich von mit ihr Solidarischen maßregeln lassen, sich diesmal aber wirklich nicht wie Freiheitskämpfer, sondern beinah schon wie Gotteskrieger benommen zu haben. Solch Liebesentzug wäre für die Freiheitskämpfer weniger traumatisierend, wenn sie wüssten, dass diese Verurteilungen ihres Schlachtfests nur ritualisierte Floskeln sind, um bei der Anklage des eigentlichen Erzbarbaren den Vorwurf der Parteilichkeit zu entkräften. 

Stellen wir uns naiv. Und fangen wir mit den gemäßigteren Mahnern Israels an. Tun wir mal so, als hätte Jean Améry in seinen Texten zu linkem Antisemitismus 1969 nicht schon alles durchdekliniert, und nehmen wir an, es wäre, wie sie behaupten, nicht Antisemitismus. Und der Antisemitismusvorwurf gegen alle, die ihr Pech der späten Geburt, also nie Widerstand gegen das NS-Regime geleistet haben zu können, als Menschenrechtsberater Israels wettmachen, wäre wirklich eine bodenlose Unterstellung. 

Warum, fragen wir uns, drehten sie den Lautstärkeregler ihrer Israel-Schelte just in dem Moment auf Anschlag hoch, da in den Kibbuzim Südwestisraels das Knattern der Schnellfeuerwaffen und die Allahu-akbar-Rufe noch nicht verhallt waren? Wieso öffneten sie dem genozidalen Islamistenterror sofort die Tore in die palästinensische Widerstandserzählung, indem sie ihn als dritte Intifada ausriefen? Wieso stellten sie das schlimmste Judenpogrom des Jahrhunderts als Sturm im Match zweier Mannschaften hin, dessen Spielern man wegen Foulplay zwar die Gelbe Karte zeigte, aber die Rote schon im Ärmel hatte fürs Revanchespiel der Gefoulten?

Die schwierige Frage, wo linke Kritik an israelischer Politik in linken Antisemitismus hinübergleitet, hat am 7. Oktober einen weiteren Teststreifen erhalten. In den sozialen Medien unterzogen sich Millionen unwissentlich diesem Test. Schon am Abend zeichnete sich das Ergebnis ab. Das Abschlachten von 1.400 Zivilisten und Zivilistinnen, ihre Folterungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen, das Köpfen von Menschen aller Alter, das Töten von Juden, Arabern, Touristen, Arbeitsmigranten aus Asien, sowie die Entführung Lebender und Schändung Toter zeitigten spontanes Entsetzen und Trauer. Entsetzen und Trauer über die realen Opfer bei den einen, antizipatives Entsetzen und Trauer über die Opfer der israelischen Vergeltungsmaßnahmen bei den anderen. Wer den Antisemitismus unserer Zeit, jenen, der keiner sein will, versteht, und dazu gehört wohl jeder Bürger Israels, in dessen Trauer und Entsetzen mischte sich die melancholische Gewissheit, dass – in Abwandlung eines grauenhaft wahren Aphorismus – die Welt Israel und den Juden auch dieses Massaker nie verzeihen wird. Und wieder werden die Juden aus einem Mord an ihnen nicht gelernt haben, und ihn, als wäre er bestellt, dazu benutzen, aus der Rolle des schlimmsten Täters der Geschichte (kein Land wurde von der Uno öfter verurteilt) in ihre Opferrolle zurückzuschleichen. Und so wird der islamistisch etwas fehlgeleitete David einen missglückten Präventiv-Genozid versucht haben, mit dem er den Rache-Genozid durch den hochgerüsteten zionistischen Goliath nicht abwenden konnte. Einer beliebten israelkritischen Mär zufolge sei die Abriegelung des Gazastreifens nämlich keine Maßnahme gegen den Hamas-Terror gewesen, sondern dieser die Folge der Abriegelung, die Qassam-Raketen auf Israel seien also die zu Stahl geronnenen Tränen des palästinensischen Volkes. 

Bleiben wir naiv. Drei Aspekte machten die Fulltime-Kritiker israelischer Palästinenserpolitik, deren Argumenten man sich bei notwendiger Distanz zu BDS und unreflektierten Apartheidvorwürfen nie verschließen sollte, dann doch verdächtig. Warum sind sie so auf diesen Zwergstaat am Mittelmeer eingeschossen, an dessen Verfehlungen sich alle »moralischen Kompasse« dieser Welt auszurichten scheinen? Warum werten sie die Hamas, den bösesten Feind, den die Palästinenser je hatten und gegen den sich die Fatah geradezu als palästinensische Interessenvertretung ausnimmt, zu deren legitimem Vertreter auf? Und wieso konnten sie die Beerdigung der jüdischen Opfer nicht abwarten, sondern mussten am Tag der Tat die letzten der in den Kibbuzim Verblutenden um ihre Schuld an den Lebensverhältnissen der Leute im Westjordanland wissen lassen? Ein paar kursorische Kostproben aus dem Pandämonium linken Israelhasses. 

Der antisemitische Pöbel frohlockte erwartungsgemäß über diesen Achtungserfolg antikolonialen Widerstands. Der intellektuelle Überbau indes wusste sich weitgehend an die Umgangsformen zu halten und seine Philippika mit einer Verurteilung weniger der Hamas, als ihrer Methoden zu starten. Das Grauen beginnt schon bei der Verurteilung, denn sie impliziert die mögliche Billigung. 

Lediglich Yanis Varoufakis, der Mann, der 2015 den europäischen Kapitalismus mit knallhartem Keynesianismus retten wollte, wusste seinen Popularitätsverlust mit nicht minder radikaler Härte in der Judenfrage zu konterkarieren. »Nein«, polterte er den Standpunkt seiner Partei Diem25 in die Welt, »wir werden die Hamas nicht verurteilen, auch wenn wir das, was sie getan haben, für grausam halten.« Immerhin. Leider war nicht zu eruieren, mit welcher Mehrheit der Parteibeschluss zustande kam, die jüngsten Gotteskriegerstreiche für »grausam« zu halten. Schlauer setzte sich Varoufakis’ Parteikollege Slavoj Žižek in Szene. Der befand in seiner konfusen Ansprache bei der Buchmesse in Frankfurt die Pogrome nicht nur für grausam, sondern rief sogar zur Vernichtung der Hamas auf. Ganz seinem Image als charmant-balkanischer Rüpel treu, sprengte er den erbärmlichen Pastorenkonsens von deutscher Verantwortung für jüdisches Leben (als handele es sich dabei um eine seltene Moosart), dessen sich seine Vorredner befleißigten, und inszenierte den üblichen israelkritischen Katechismus als Provokation einer vermeintlich proisraelischen Hegemonie. Nicht dass alles falsch gewesen wäre, was er sagte, die Ungeheuerlichkeit seines Rants war dessen Zeitpunkt, nämlich als die Ermordeten noch nicht unter der Erde lagen. So war das »Analyseverbot«, das er witterte, bloß die Totenruhe – die er, unbequem wie immer, störte. Man stelle sich seinen Unflat vor der israelischen Trauergemeinde vor. Um Einäugigkeit vorzuschützen, eignete sich Žižek sogar Mosche Dajans Augenklappe an und erinnerte an dessen eindrucksvolle Rede beim Begräbnis eines von Arabern ermordeten israelischen Jugendlichen aus dem Jahr 1956, in welcher der General die Trauernden zum Verständnis für die Motive der verzweifelten Palästinenser aufrief. Der Zynismus dieses Vergleichs mit dem islamistischen Blutrausch wurde von Žižek nur getoppt durch seine Würdigung von Reinhard Heydrichs zynischem Bekenntnis zum Zionismus. Das ist weder Hegel’sche noch Marx’sche Dialektik noch eine Lacan’sche Denkvolte, sondern schlichtweg Žižek’scher Humor.

Zwei Tage nach dem Massaker stellte der »ex-trotzkistische« Influencer Fabian Lehr seiner traditionslinken Klientel im Titel seines »Lehr-Videos« auf Youtube die Fangfrage »Angriff auf Israel – antikolonialer Befreiungskampf oder Massenmord?« und überraschte mit der Einsicht, dass die Hamas eben nicht Che Guevara beerbe und beim Judenschlachten keinerlei klassenkämpferische Perspektive zu erkennen sei. Dass diese Desillusionierung nach über zwanzig Jahren Hamas-Terror so erkenntnisfrisch aus dem Hut gezaubert wird, lässt düstere Rückschlüsse auf den Geisteszustand der Szene zu, die Lehr belehrt. Dass auch er in dieser kognitiven Wüste zu wohnen scheint, bekundeten seine Ratschläge an die Palästinenser, ihr freies Palästina besser durch Babysitten als Babyköpfen anzustreben: »Um Verständnis, um irgendwelche Sympathien in der israelischen Bevölkerung gewinnen zu können, muss man strikt klarstellen, dass man einen fundamentalen Unterschied macht zwischen einem israelischen Soldaten, der bewaffnet in palästinensisches Territorium eindringt, und einem israelischen Zivilisten, der zu Hause in seinem Garten grillt oder einen Spaziergang macht.« Diese Worte wurden gesagt! Das Netz ist mein Zeuge. 

Ganz schön viel verlangt, scheitert die Hamas doch bereits daran, Sympathien in der eigenen Bevölkerung zu gewinnen, denn einen nicht geringeren Triumph als getötete Juden bedeuten ihr getötete Palästinenser, auf spiritueller wie propagandistischer Ebene. 2014 verkündete ihr Sprecher Sami al-Zuhri: »Die Hamas verachtet jene defätistischen Palästinenser, welche die hohe Zahl ziviler Opfer kritisieren. Ihr Widerstand ehrt unsere Leute. Wir führen sie in den Tod …« 

Doch kaum hat sich der aktuelle Marxismus dazu durchgerungen, dass die Hamas doch keinen antikolonialen Befreiungskampf treibe, ruft ihn der Queerfeminismus zur Ordnung. Allseits wird behauptet, Judith Butler habe ihre berühmte Aussage aus dem Jahr 2006, Hamas und Hisbollah seien soziale und progressive Bewegungen und Teil der globalen Linken, längst revidiert und wenigstens zur Besonnenheit der Äquidistanz gefunden (welche darin bestand, der Trauergemeinde sechs Tage nach dem Massaker über die »London Review of Books« auszurichten, dass sie sich bloß nicht einzubilden brauche, ihre Toten hätten mehr Anrecht auf »grievability« als alle palästinensischen Opfer der letzten 75 Jahre). In ihrem Videoaufruf vom 29. Oktober zum sofortigen Waffenstillstand passierte es ihr wieder: Eine »Karikatur« nannte Butler die Unsitte, die »bewaffneten Widerstandskämpfer« der Hamas »Terroristen« zu nennen. 

In einem Brief an den britischen Hochkommissar Herbert Samuel aus dem Jahr 1923 schrieben die Scheichs des Bet She’an-Tals: »Wir haben der American Jewish Agency etwas von unserem Land verkauft, und mithilfe des Geldes werden wir die großen Parzellen unseres restlichen Landes kultivieren und weiterentwickeln. Wir sind sehr zufrieden mit diesen Juden, und der Überzeugung, dass wir in Zusammenarbeit die Region verbessern und unsere gemeinsamen Interessen verfolgen werden.«

Aus Sicht der antiimperialistischen Linken seit 1967 wären diese unwissenden Araber Handlanger des britisch-zionistisch-kapitalistischen Kolonialismus. Aus Sicht der jüngsten Evolutionsstufe linker Verirrung, des Postkolonialismus, aber machten sie sich eines noch größeren Verbrechens schuldig: Sie hatten ihre autochthonen Episteme an einen westlichen Herrschaftsdiskurs, will heißen, den Hakenpflug an den Traktor verraten. Schon in der impliziten Würdigung des Know-how dieser Juden drückt sich die Kolonialisierung ihres Bewusstseins aus, welche sie Juden und Briten als entwickelter und damit höherwertig empfinden lasse. Die Dekolonisatoren von damals, die Schergen des Jerusalemer Großmuftis und SS-Mitglieds al-Husseini, haben dieser diskursiven Gehirnwäsche dann auch bald Einhalt geboten, indem sie einigen der verräterischen Scheichs Kugeln in den Kopf jagten.

Das Diskursspektrum des Postkolonialismus ist freilich heterogener und mitunter interessanter, als seine aktivistischen Anhänger glauben machen. In Bezug auf Israel hatten sich einige ihrer Ideengeber allerdings klar positioniert. Die indisch-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak etwa pries palästinensische Selbstmordattentäter , und Judith Butlers Haltung gilt trotz ihrer enigmatischen Ausdrucksweise als einigermaßen dechiffriert. Den paradigmatischen Kreuzzug gegen Israel angeführt haben aber die Theoretiker des sogenannten Dekolonialismus, größtenteils von jenem Kontinent aus, der am meisten unter der Besatzung der Westbank leidet: Lateinamerika. Für die einen ist der Dekolonialismus die Radikalisierung des Postkolonialismus, für die anderen seine Parodie. Der Kampf für die Rechte unterdrückter Indigener kam bislang ganz gut ohne ihn aus. Doch geht es ihm weniger um rechtliche als um »diskursive« Gleichstellung. Und da nach 200 Jahren Unabhängigkeit der Dekolonisationsarbeit nicht viel übrig bleibt außer mehr Ponchos an den Unis und indianische Rezepte in den Mensen, haben sich die Descolonizadores – wie so viele andere – das ferne Morgenland zur epistemischen Säuberung auserkoren. Der argentinische Literaturwissenschaftler Walter Mignolo wurde bei seiner Suche nach außereuropäischen dekolonialen Wissensformen bei Ayatollah Khomeini und dem antisemitischen Irren Sayyid Q’utb fündig (der Hitler als Boten Allahs verstand). Mignolos Feindbild ist weniger der Jude per se als der jüdische Säkularismus
als Agent des westlich imperialen Kolonisierungsprojekts. Wie sich die Juden Israels von rassisch Verfolgten zu weißen Kolonisatoren aufnorden konnten, darüber machte sich der puertorikanische Soziologe Ramón Grosfoguel Gedanken. Der Nationalsozialismus sei ihm zufolge nach dem Zweiten Weltkrieg im US-Imperialismus reinkarniert, und Israel habe sich als dessen Filiale im Nahen Osten quasi weißgewaschen. Warfen die Antiimps alter Schule den Opfern Hitlers noch – mehr oder minder metaphorisch – dessen Methoden vor, so sind sie bei Grosfoguel der eigentliche Hitler: »Hitlerism as a continuation of colonial racist ideology came back to hunt Palestinians this time at the hands of European Jews who ironically were escaping from the Nazi Holocaust.« (»Der Hitlerismus als Fortsetzung der kolonialen rassistischen Ideologie kam zurück, um die Palästinenser zu jagen, diesmal durch die Hände der europäischen Juden, die ironischerweise vor dem Nazi-Holocaust flohen.«) Die Ironie des dekolonialen Humors beginnt also nicht wie bei den Antiimps bei der »Palästinenserjagd« durch Auschwitz-Überlebende, sondern schon beim Überleben von Auschwitz selbst, oder handelt es sich bei der eigenwilligen Setzung des Adverbs »ironically« nur um dekolonialen Widerstand gegen Sprachlogik als weißes Herrschaftswissen?

Auch der beliebte Vergleich von Gaza mit dem Warschauer Ghetto trägt Grosfoguels Handschrift. Man kann es German Guilt nicht genug danken, dass so einer in Deutschland im Knast säße und nicht auf dem Lehrstuhl irgendeiner Uni.

Das also ist der geistige Nährboden, auf dem die neue Palästinasolidarität gärt. Die Ehrung der »300-Hamas-Märtyrer«, welche die österreichische Feministin Nicole Schönberger am Tag nach dem Pogrom auf Instagram vornahm, und die vielen Dekolonisierungs-Memes mit siegreichen Paraglidern werden als extreme Einzelfälle abgekanzelt, und ständig darauf herumzureiten als böswillige Strategie zur Diffamierung der Linken. Doch hinter dem Slogan »Free Palestine« verbirgt sich eben nicht die Forderung nach einer Zweistaatenlösung und auch nicht der Traum des Träumers Omri Boehm von föderativer Einstaatlichkeit. Es ist die Tiktok-Abbreviatur des instagramkompatibleren Epos: »From the River to the Sea – Palestine will be free« – kurzum die Delegitimierung des Staates Israel, an dessen Ausnahmestatus als Safe Space für Juden die postkoloniale Theorie sägt, indem sie die Shoah als einen von vielen Genoziden entzaubert, dessen unzweifelhaft schlimmster – warum sonst die internationale Erregung? – an den Palästinensern verübt wird und basta. 

Dass die Juden einmal als die eigentlichen Nazis herhalten müssten, galt bislang als Überspitzung aus den Polemiklaboratorien Wolfgang Pohrts und Eike Geisels. Wie provinziell nehmen im Rückblick sich all die antideutschen Versuche aus, die Täter-Opfer-Umkehr als das Privileg ewig deutschen Ungeistes zu verstetigen, in Anbetracht der zwitschernden Unbedarftheit, mit der sie zur hegemonialen Auffassung des US-amerikanischen Campusaktivismus zu werden droht. Einer Umfrage des Harvard Harris Polls zufolge befürworteten 49 Prozent der 18- bis 24jährigen US-Bürger, dass die Massaker der Hamas durch das Leid der Palästinenser gerechtfertigt seien. Die geringe Zahl des Samples (199), die Suggestivität der Frage und geringere Zustimmung bei anderen Erhebungen relativieren dieses erschreckende Ergebnis etwas. Noch bleibt zu hoffen, dass die modische Hamas-Solidarität an manchen US-Unis und in woken Aktivistenkreisen keiner tief ins kollektive Unbewusste eingestanzten Disposition zum Judenhass geschuldet ist, sondern schlicht jugendlicher Doofheit und horrender Unbildung, also prinzipiell korrigierbar wäre. Wo Nazismus nur irgendeine weiße Supremacy-Scheiße auf irgendeinem anderen Kontinent aus irgendeinem früheren Jahrhundert ist, und wo Nazi zur allgemeinen Chiffre weißer Unterdrückung wurde und wo die Palestineans gerade the hippest PoC of the season sind, müssen ihre »kolonialen Unterdrücker« folglich die Nazis of the season sein. Die geistige Dekontamination dieser sich als Linke missverstehenden Generation kann nur durch die Zerstörung ihrer postkolonialen Denkschablonen geschehen, und das wird der schwierige Teil der Übung, denn die haben ihre adoleszenten Tiktok-Identitäten geprägt. 

Die Verfangenheit der Postkolonialen und all ihrer identitätspolitischen Trabanten im Diskursiven und Symbolischen, im Textualen und Normativen ist ein schadensbegrenzender Segen für die Welt. Da deren akademische Influencer aufgrund ihrer sozialen Herkunft sich eines gesicherten Seins glücklich schätzen können, ist es für sie das Bewusstsein, welches das Bewusstsein bestimmt. Und so verbreitet sich ihre Hirnjauche einstweilen nur über ihre mittelständischen Studenten und noch nicht bei all den Verdammten der Erde, die sie per Pigmentierung zu repräsentieren vorgeben. Sowohl dem Beiruter Taxifahrer als auch der bengalischen Sweatshop-Arbeiterin gehen Said und Spivak am Popo vorbei, und ihre Abwertung durch weißes Herrschaftswissen ist ihrer Sorgen größte nicht, ebenso wie noch nicht jedes zweite Fußballstadion in Afrika nach Achille Mbembe benannt sein soll. 

Seit 1948 dient der Staat der Juden der islamischen Welt, seit 1967 der Neuen Linken als projektiver Blitzableiter all ihrer Aspirationen. Ob sie es wollen oder nicht: Sie waren es, die die Fackel des Antisemitismus in Ehren hielten, denn Tradition ist bekanntlich nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers. Dessen Funken könnten bald auf den Rest der verarmten Welt überspringen, wenn sie es nicht schon sind.

Seitdem die Trennung von Ideologie und Wahrheit von der Postmoderne annihiliert wurde, ist die Puppe, in die magisches Denken einst die Nadeln trieb, mit dem zu Tötenden identisch. Im kollektiven Wahn figuriert Israel einfach nicht nur als Sinnbild für mal diesen, mal jenen Missstand, sondern als universeller Missstand selbst, in dem sich wie ein Fluch alle vergangenen Antisemitismen bündeln. Israel, der Weltnabelbruch der Zirkulationssphäre, der White Supremacy, des Patriarchats; Israel, das staatgewordene Narzisstenarschloch, das mich sitzen ließ, die Eltern, die mich nicht liebten, die dreckige TERF, mit deren Notschlachtung sich der queerfeministische Butch Aufnahme in die glutäugige Islamistengang erhofft, und nicht zuletzt Israel als unerträgliches Memento des eigenen Antisemitismus, des verhohlenen Wissens um die Mülleimerfunktion dieses Staats, weshalb er erst recht wie das dreckige Geheimnis unserer Pathologien im Mittelmeer versenkt werden muss. Gelänge das nicht, wäre die Menschheit verloren. Vor allem die Schwarzen in den USA, denn wie wusste Patrisse Cullors, Mitgründerin von Black Lives Matter, bereits in the year of the Lord 2015: »Und wenn wir nicht kühn und mutig vorgehen, um das imperialistische Projekt namens Israel zu beenden, sind wir verloren.«

Wie weit in die Stratosphäre muss man sich erheben, um zu erkennen, dass die Unverhältnismäßigkeit, mit der ein fliegenschissgroßes Areal der Erdoberfläche die Welt in Aufregung versetzt, nicht nicht Antisemitismus ist?

Noch was. Bei Erscheinen dieses Hefts wird die Zahl getöteter Zivilisten in Gaza die Zehntausend überschritten haben. Selbst wenn es den IDF gelungen wäre, die Hamas, Netanjahus nützliche Terroristen, zu vernichten, wird so viel unschuldiges Blut geflossen sein, dass auf ihm all die Argumente, mit denen sich israelsolidarische Menschen ihr gutes Gewissen zu machen pflegen, ins Schlittern geraten: die Verwendung der Zivilbevölkerung als lebende Schutzschilde, also ihre Tötung als Kollateralschaden ihrer Befreiung – oder andersrum: das Argument ihrer gerechten Bestrafung wegen ihrer verhohlenen Unterstützung der Hamas, also die Affirmation der Genozidfantasien des ultrarechten Flügels von Netanjahus Koalitionsbündnis. So wichtig es ist, den Antisemitismus der Israelkritik und allerlei Palästinensersolidarität freizulegen, so notwendig ist es, zu erkennen, wann der Vorwurf linken Antisemitismus der Abwehr notwendiger Kritik an der israelischen Siedlungs- und Besatzungspolitik dient. Bis linkes Denken zu solch einer feinen Differenzierungsgabe gereift ist, könnte der Konflikt längst friedlich gelöst sein.